Sonntag, 31. Mai 2020

Die besten Jahre


[ tanzbar | nostalgisch | verhindert ]

Zwölf Jahre nach ihrem Durchbruchsalbum the Fame im Jahr 2008 ist sicherlich der notwenige Abstand gegeben, um in Bezug auf Lady Gaga mal ganz frei heraus die Frage zu stellen: Wie groß war im Nachhinein tatsächlich ihr Einfluss auf die vergangene musikalische Dekade gewesen? Denn so unbedeutend, wie es lange schien, war die frühe Karriere der New Yorkerin am Ende vielleicht doch nicht. Obwohl sich die Prophezeihung der ausgehenden Zwotausender, dass die Sängerin ganz wesentlich eine neue Blaupause für die Figur des Popstars an sich sein würde, im nachhinein als ziemlicher Blödsinn herausstellte und diese Rolle rückblickend eher Drake oder den Migos zugesprochen werden kann, hat sie strukturell doch einiges beigetragen. Nur vielleicht auf andere Weise, als man das ursprünglich vermutete. Denn insbesondere für Einflüsse von außerhalb der Mainstream-Wahrnehmung war ihr Input aus heutiger Sicht ziemlich wichtig. Einerseits ist in dieser Hinsicht ihr nach wie vor unumstrittenes Standing in der LGBTQI+-Bubble relavant, die sie über die letzten Jahre hinweg trotz aller Widrigkeiten zu einer Säulenheiligen erhoben hat, zum anderen gehörten ihre ersten beiden Alben damals zu den frühesten, an denen sich der Snobismus der Pitchfork-Indie-Community etwas brach und die sich nach wie vor auch bei Fans von Rockmusik und alternativem Zeug großer Beliebtheit erfreuen. Und schließlich ist da noch der offensichtliche kritische Erfolg, den gerade ihre letzte LP Joanne vielerseits einheimste und der Lady Gaga eine Art zweites Leben als die Künstlerin bescherte, die jedes Jahr eine bedeutungsschwangere Performance bei den Oscars abliefern darf. All das macht ihre Karriere Stand 2020 zu einer, die vielleicht nicht die des großen Popstars gewesen ist, aber definitiv eine sehr gute und spannende Wendung genommen hat. Dass dabei nur noch alle paar Jubilare tatsächlich mit einem neuen Album um die Ecke kommt, trägt in meinen Augen ebenfalls zu einer gewissen Exklusivität bei, denn spätestens nachdem Joanne 2016 wirklich hochkarätig und besonders war, ist es auch zur Normalität geworden, genau diese Tragweite von Lady Gaga zu erwarten. Und Chromatica ist dieser Tage definitiv wieder der Versuch, genau das zu tun. Es ist das erste Album der New Yorkerin seit mittlerweile vier Jahren, es gehörte in den letzten Wochen zu den vieldiskutierten Projekten im Internet (wobei die mehrmalige Verschiebung dem alles andere als abträglich war) und im Vergleich zu den countryesken letzten Sachen von Lady Gaga zeigt es erneut eine üppige stilistische Trendwende. Wobei Rückbezug in dieser Hinsicht vielleicht der treffendere Begriff wäre, denn rein klanglich geht vieles hier wieder dorthin, wo ihre Musik schon einmal war. Der Sound von Chromatica ist im wesentlichen eine aufgefrischte Version der Ästhetik, die man zum letzten Mal auf Born This Way von 2011 hörte, im Prinzip also ein tanzbarer und aktualisierter Madonna-Verschnitt mit etwas Achtziger- und Disco-Attitüde zum abschmecken. Und an sich ist das ja eine tolle Sache, denn so sehr ich auch finde, dass Joanne vor vier Jahren ihr bisher bestes Album ist, so sehr bin ich nach wie vor Fan der rabiaten Dancepop-Rockröhre Lady Gaga, die überdimensionierte Hits schreibt. Aber genau an diesem Punkt wird es mit diesem Album schwierig, weil eben dieser Faktor diesmal außen vor bleibt. Die reine Tatsache, dass Chromatica wieder ein tanzbares und extrovertiertes Projekt ist, heißt nämlich noch lange nicht, dass die Sache mit dem Banger-Potenzial auch diesmal wieder gelingt. Und allein die vorangegangenen Singles waren in dieser Hinsicht schon ein ziemlich übles Zeichen. Wo es Gaga selbst in ihren schwachen Phasen bisher immer gelang, zumindest eine starke Leadsingle als LP-Teaser an den Mann zu bringen (selbst Joanne hatte mit Perfect Illusion einen veritablen Konsens-Hit), war Stupid Love in diesem Frühjahr eher so lala, und obwohl es auf dem fertigen Album trotzdem zu den besten Songs gehört, ist es ein eher mittelguter Einstieg in die Welt dieser Platte. Auch das nachträglich angehängte Rain On Me mit dem quotenstarken Ariana Grande-Feature war in seiner Konsequenz nicht wirklich besser und leider ist die fehlende letzte Konsequenz dieser Songs auf auf dem Gesamtergebnis ein Hauptproblem. Dabei ist das ästhetische Setting an sich denkbar gelungen. Von allen bisherigen Gaga-Projekten ist Chromatica in meinen Augen das mit der besten Produktion und dem knackigsten Sound, der in gewissen Punkten auch kompositorisch fortgesetzt wird. Die drei orchestralen Interludes, die die Platte klanglich rahmen, klingen allesamt klasse und dass der Fokus des Songwritings hier auf der Tanzbarkeit liegt, ist ebenfalls eine tolle Idee. In vielen Songs hört man großartig heraus, wie vielschichtig einzelne Passagen instrumentiert wurden und vor allem die starken Synth-Bässe sorgen für eine insgesamt sehr hochwertige Clubtauglichkeit. Strukturell gesehen stimmt also schon mal alles, doch was fehlt sind leider ein bisschen die Basics: Kaum eine Hook auf diesem Album ist wirklich catchy, so gut wie keine Melodie hat ernsthaftes Ohrwurm-Potenzial und auch als Texterin ist Gaga hier eher ziemlich gewöhnlich. Die Hymnen über Selbstbestimmung, Befreiung und Hedonismus, die sie hier so wie früher schreiben will, stocken an vielen Stellen schon in der Substanz und stranden im schlimmsten Fall in der Rotzpop-Vorhölle früherer Pink-Alben. Und wo sie sonst selbst in ihren schwächsten Tracks wenigstens noch mit ihrer großartigen Gesangsleistung punkten kann, gibt es hier Momente, in denen sie ihre Stimme absichtlich verstellt und pitcht und damit eher für Verwirrung sorgt als Kreativität einbringt. Eine Sackgasse, aus der auch die hochkarätigen Features auf dieser LP keinen Ausweg finden. Wo Blackpink in Sour Candy wenigstens noch frischen Wind reinbringen, ist Ariana Grande in Rain On Me leider völlig ohne Profil unterwegs und leistet ihren größten Beitrag durch den Namen in den Credits. Das weitaus schlimmste Schicksal auf diesem Projekt erfährt aber ausgerechnet Sir Elton John in Sine From Above, der es definitiv besser verdient hätte. Eigentlich ist die powerballadige Aufmachung der Nummer ja gar nicht schlecht und zumindest die erste Strophe des Tracks mag ich eigentlich ganz gerne, doch von da ab geht es nur noch bergab. Johns Gesangspart im zweiten Teil des Songs wirkt ziemlich billig in die bestehende Struktur eingepfercht und ist an manchen Stellen seltsam dissonant, und spätestens wenn in der Bridge am Ende jene ulkigen Drum & Bass-Breaks einsetzen, ist das Ding ruiniert. Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch gewisse Highlights wie das opernhafte 1000 Doves oder den an George Michael erinnernden Closer Babylon, doch sind selbst die nicht so herausragend wie viele Singles, die die Sängerin vor zehn Jahren am Fließband produzierte. Und gerade die Tatsache, dass Lady Gaga ihren alten Sound wieder aufgreift, funktioniert am Ende sehr zum Nachteil der Platte. Denn nur dadurch motiviert sie überhaupt den Vergleich mit Sachen wie Born This Way oder the Fame Monster, die das hier leider ein bisschen in den Schatten stellen. Was schon ein bisschen seltsam ist, denn bei allen Höhen und Tiefen, die Lady Gaga in den letzten zwölf Jahren durchlebte, gab es bei ihr doch nie einen wirklichen Moment des Scheiterns. Das ist tatsächlich eine neue Facette dieser Künstlerin und sie wirkt auf den ersten Blick sogar ein bisschen surreal. Sie zeigt aber auch, für wie selbstverständlich wir bis hierhin die erfolgreiche Lady Gaga gehalten haben, die mit jedem ihrer Pläne Applaus erntet und so gut wie alles an ihrer Karriere zu etwas tollem macht. Was wiederum ein eindeutiges Zeichen dafür ist, wie sehr das letzte Jahrzehnt am Ende doch dieser Frau gehörte. Und erst nach so einem gewaltigen Hustle über mehr als eine Dekade das erste Formtief zu zeigen ist dann doch wieder beeindruckend.


Hat was von
Madonna
Erotica

Dua Lipa
Future Nostalgia

Persönliche Höhepunkte
Chromatica I | Stupid Love | Rain On Me | Enigma | 1000 Doves | Babylon

Nicht mein Fall
Alice | Free Woman | Fun Tonight | Plastic Doll | Sine From Above


Samstag, 30. Mai 2020

Richtig geil grenzdebil


[ swaggy | catchy | ätherisch ]

Eine guter Vorsatz für das Jahr 2020, den ich mir zu Anfang des Jahres für dieses Format gesetzt habe und den ich bisher auch relativ gut erfüllt habe, ist der, dass ich in dieser Saison endlich mal die Motivation aufbringen wollte, mit dem Tagesgeschehen der Trap-Szene wirklich mal up to date zu bleiben. Zumindest was tatsächliche Releases angeht, wollte 2020 endlich damit anfangen, über gerade wichtige Künstler*innen nicht erst Monate oder teilweise Jahre später zu schreiben, damit ich jene Platten, über die die coolen Kids gerade reden, wenigstens nicht mehr ganz so oft verpasse. Und wie häufig gerade diese Sache in der Vergangenheit passiert ist, merkt man unter anderem daran, dass ich zu diesem Album hier meinen allerersten Artikel überhaupt zum Output von Gunna verfasse. Einem Rapper, der mittlerweile schon seit einer Weile zu den größeren Namen in der jüngeren Cloudrap-Community gehört. Schon seit seinem Singning mit Young Thugs Label YSL Records 2018 ist der Künstler aus Georgia mehr oder weniger auf meinem musikalischen Radar unterwegs und nachdem damals noch im selben Jahr dessen Kollaboration mit Lil Baby auf Drip Harder erschien, hätte ich eigentlich damals schon drauf kommen können, dass man von diesem Typen jetzt öfter hören würde. Trotzdem strafte ich Drip or Drown 2, seine LP vom letzten Jahr, weiterhin mit konsequenter Ignoranz und tat weiter so, als wäre er nur ein weiterer unbedeutender Hanswurst in der saturierten Trap-Landschaft. Was es 2020 fast schon ein bisschen zu spät macht, um überhaupt mit ihm anzufangen, denn seine klangliche Ästhetik ist an diesem Punkt schon lange so vollständig etabliert, dass er sie langsam wieder brechen muss. Wobei das im großen und ganzen auch nur bedeutet, dass sein stilistischer Kopismus sich mit Wunna vom Young Thug Anno 2016 zu Young Thung Anno 2018 weiterentwickelt. Doch obwohl Gunna hier alles andere als ein innovativer MC ist und ähnlich wie Lil Baby oftmals nur ein gängiges Klischee reproduziert, muss ich doch sagen, dass er auf diesem Album einen einigermaßen packenden Charakter entwickelt, der durchaus Spaß macht. Auch wenn es Teil des Spaß-Faktors ist, dass die Platte an vielen Stellen ein bisschen unbeabsichtigt lachhaft ist und nicht zu unterschätzendes Cringe-Potenzial hat. Dass Traprap-Künstler vor allem dadurch ein Alleinstellungsmerkmal aufbauen, dass sie maximal stumpf, debil und überzogen Genre-Stereotype reproduzieren, kennt man inzwischen bereits sehr gut von Lil Pump, der in den letzten Jahren seine gesamte Karriere auf diesem Ideal aufgebaut hat. Wunna hat in vielen Punkten einen ähnlichen Vibe, mit dem Unterschied, dass ich mir hier oft nicht sicher bin, wie ironisch das ganze tatsächlich gemeint ist. Wenn Gunna albern detailliert über pubertäre Sexpraktiken schwadroniert oder im Titeltrack wortwörtlich nicht mehr tut als sich reimende Wörter aneinanderzureihen und als Bars zu verkaufen, ist das in erster Instanz natürlich unheimlich bescheuert und ganz schön witzig. Die Souveränität, mit der das ganze dabei performt ist, lässt mich auch erstmal vermuten, dass es als Gag gemeint ist. Kein erwachsener Mann würde sich mit solchen Lines ernsthaft Credibility erhoffen, geschweige denn selbst stolz darauf sein. Auf der anderen Seite ist das Drumherum häufig schon sehr ernsthaft oder zumindest bei weitem nicht so urkomisch, sodass man auch vermuten könnte, dass hier alles komplett echt gemeint ist. Wie aber auch immer die Intention von Gunna auf diesem Album ist, für einen Unterhaltungsfaktor sorgt er so oder so. Es ist ein erheblicher Zugewinn im Vergleich zum Großteil der zeitgenössischen Trap-Alben, dass er hier tatsächlich ein bisschen versucht, nicht nur atmosphörische Druffi-Hymnen zu schreiben, sondern wenigstens ab und zu einen schmissigen Beat oder eine hübsche Hook an den Start bringt. Was er dabei leistet, ist ein verschwindend kleiner Mehraufwand im Vergleich zum Szene-Mainstream, doch die Ergebnisse sind direkt spürbar. Was in letzter Konsequenz schon wieder ein bisschen paradox ist. Wenn 2020 ein Vollhorst wie Gunna eine interessantere und gelungenere Platte macht als ein Future und ein Lil Uzi Vert zusammen, muss schon irgendwas im Argen sein. Vielleicht ist es aber genau das, was Trap in dieser Saison am besten zusammenfasst: Ein Typ mit Fragwürdiger Ernsthaftigkeit, der mit minimalem Aufwand und So-bad-it's-good-Faktor die komplette Szene an die Wand spielt. Dafür lohnt sich diese ganze Nummer am Ende schließlich.


Hat was von
Future & Young Thug
Super Slimey

Lil Pump
Harverd Dropout

Persönliche Höhepunkte
Argentina | Feigning | Addys | Wunna | Nasty Girl / On Camera | I'm On Some | Top Floor | Don't Play Around

Nicht mein Fall
Dollaz On My Head | Met Gala


Freitag, 29. Mai 2020

Damals wie heute

[ filigran | epochal | sinfonisch ]

Es ist für mich manchmal ziemlich erstaunlich, wie schnell einige Leute, die in der popkulturellen Öffentlichkeit im einen Moment das Ding der Stunde sind, im nächsten Moment verschwinden können, ohne das irgendjemand so richtig was davon merkt. Zumindest bis man dann Jahre später wieder von ihnen hört und sich plötzlich fragt, was die eigentlich die ganze Zeit gemacht haben. Mit Owen Pallett, dem großen Folk-Arrangeur des späten Zwotausender-Indie, haben wir in dieser Woche ein Bilderbuchbeispiel für dieses Phänomen am Start. Als gefragter Multiinstrumentalist und Studiomusiker für Bands wie Arcade Fire, the National und Grizzly Bear war der Kanadier vor etwa zehn bis zwölf Jahren - so zumindest meine Erinnerung - der heiße Scheiß in der schönen Welt des eingebildeten Holzfällerhemden-Indie, die ihm zu Anfang allein schon seiner exklusiven Auftragsjobs wegen aus der Hand fraß (Kontrovers wurde es später, als er anfing, auch für Taylor Swift und Linkin Park zu arbeiten). Seine noch viel feingeistigeren Soloarbeiten ernteten dabei ihrerseits viel Ruhm und wurden spätestens dann ein Ereignis, als 2010 das Album Heartlands erschien, das seinerzeit von vielen Nerds und Blogger*innen als immens wichtiges musikalisches Dokument mit ernsthaftem Klassikerpotenzial gehandelt wurde. Stand 2020 ist davon nicht mehr allzu viel übrig. Seit seiner letzten vollwertigen LP In Conflict von 2014 (die ebenfalls grandiose Kritiken erntete) existiert der Name Owen Pallett im ebenfalls ruhig gewordenen Indie-Kosmos so gut wie gar nicht mehr und als zu Ende des letzten Jahres die großen Dekadenlisten aller wichtigen Musikformate veröffentlicht wurden, tauchte Heartlands nur sehr punktuell auf. Die Welt schien den Kanadier ein bisschen vergessen zu haben, doch war das, um ehrlich zu sein, auch nicht besonders verwunderlich. Eigene Musik gibt es von ihm seit In Conflict nämlich kaum mehr. 2015 und 2016 gab es noch jeweils eine Single für eine Compilation und für Adult Swim, ansonsten war es um ihn sehr schnell überaus still. Natürlich werkelte er im Hintergrund weiter mit anderen Künstler*innen an deren Projekten und war dabei immerhin an einigen meiner Lieblingsplatten der letzten Jahre beteiligt, doch waren auch seine Auftritte da nicht mehr ganz so prominent wie vorher. Pallett war in gewisser Weise ein Dienstleister geworden, der die künstlerischen Visionen anderer erfüllte und selbst nicht mehr als Einfluss in Erscheinung trat. Ein bisschen schade war das schon, ich muss aber auch gestehen, dass ich ihn zu keinem Zeitpunkt wirklich vermisste. Und dann kam letzte Woche dieses Album. Nach sechs Jahren ohne neues Material und wenig vorläufiger PR tatsächlich ein bisschen aus dem Nichts. Ich war tatsächlich ziemlich perplex, als ich in meinem Release-Radar plötzlich die Ankündigung von Island sah und wusste erstmal nicht so richtig, was ich davon halten sollte. Ganz zu schweigen von konkreten Erwartungen an die eigentliche Musik. Als Heartland und In Conflict damals rauskamen, konsumierte ich Musik noch auf eine ganz andere Weise als jetzt und fand es schwierig, die neuen Songs mit dem Hörgefühl der alten zu vergleichen. Klanglich ist sich der Owen Pallett von 2020 mit dem von 2014 schon sehr ähnlich, doch ist es irgendwie nicht ganz dasselbe. Ein Problem ist das aber nicht unbedingt. Die Songs des Kanadiers klangen ohnehin schon immer so erwachsen, wie er selbst jetzt ist und sein Hang zur Klassik war schon seit seiner frühen Karriere eine treibende Kraft. Dass er hier also einen sinfonischen Sequenz-Longplayer zwischen orchestralen Arrangements und Songwriter-Ästhetik macht, ist also nicht verwunderlich. Und noch etwas hat sich in den letzten sechs Jahren anscheinend nicht geändert: Ich finde seine Ästhetik noch immer kein bisschen interessant. Schon als ich 2014 das umschwärmte In Conflict hörte, wunderte ich mich, warum mich eine emotional und pathetisch dermaßen aufgeladene Musik so kalt ließ, und rückblickend dachte ich einfach, meine damalige Naivität wäre daran schuld. Doch über eine halbe Dekade später sitze ich wieder hier und habe genau das gleiche Problem. Dabei erkenne ich die innewohnende Schönheit dieser Songs durchaus an. In unglaublich vielen Momenten hier baut Pallett grandiose Arrangements und herrliche Zwischentöne, die mich im Normalfall zutiefst bewegen und auch eher folkig orientierte Stücke wie Transformer und Fire-Mare sind toll komponiert. Trotzdem bin ich am Ende nur selten wirklich berührt oder emotional angesprochen davon und empfinde vieles hier lediglich als sehr aufwändige Klangtapete. Das könnte daran liegen, dass Island trotz seiner gefühlten Größe nur sehr selten wirklich auf einen Punkt kommt und eher schöngeistig rumwabert, es könnte ein unklar definierter Leitgedanke sein oder die Abwesenheit von Pallett als tatsächlicher Performer. Ganz klar definieren kann ich es aber nicht, zumal es in allen Fällen ähnliche Platten gibt, an denen mich gerade diese Faktoren begeistern. Am Ende ist für mich nur das Resultat klar, dass auch das Comeback dieses vergessenen Genies mich sehr wahrscheinlich nicht zum Fan machen wird. Ich fand ihn beim letzten Mal okay und ich finde ihn jetzt okay. Richtig klasse finde ich ihn nach wie vor immer nur dann, wenn er für andere arbeitet. Und daran hat er ja in den letzten sechs Jahren schon sehr gut getan.


Hat was von
Arch Garrison
I Will Be A Pilgrim

Sarah Neufeld
the Ridge

Persönliche Höhepunkte
Transformer | Paragon of Order | Persevernace of the Saints | ---> (iv)

Nicht mein Fall
-



Donnerstag, 28. Mai 2020

Die große Freiheit



[ langatmig | pretenziös | opulent ]

Es ist ja im allgemeinen eine recht begrüßenswerte Sache, wenn sich Popbands so entwickeln wie the 1975 das in den letzten Jahren gemacht haben. Wenn sie ambitionierter werden, wenn sie keine Experimente scheuen, wenn sie ihre Musik größer denken und wenn sie komplexere Themen für sich entdecken. Denn in den meisten Fällen bedeutet so eine Entwicklung, dass sie musikalisch wesentlich interessanter werden und manchmal sogar, dass sie ein paar richtig gute Platten machen. Und gerade bei dieser bestimmten Band ist die künstlerische Metamorphose, die bei ihnen seit etwa 2017 eingesetzt hat, ebenso überraschend wie notwendig gewesen, drohten the 1975 vorher doch lange in die Irrelevanz einer völlig charakterlosen Ex-Indie-Boyband abzurutschen. Der Stilbruch, den die Briten vor zwei Jahren mit ihrer dritten LP A Brief Inquiry Into Online Relationships vollzogen, ist daher noch immer einer der größten Hauruck-Momente in der jüngeren Pop-Historie und als solcher ebenso verrückt wie kontrovers. Auch ich bin mir in diesem Moment noch immer nicht sicher, was genau ich von dieser letzten Platte eigentlich halten soll und ob ich sie an sich cool finde, Fakt ist allerdings, dass sie für die Band jede Menge Türen öffnete und kreative Möglichkeiten erschloss. Und dass die damals errungenen neuen Freiheiten scheinbar ausgiebig genutzt wurden, zeigte uns in der vergangenen Monaten die Promophase ihres nun erschienenen Nachfolgers. Nachdem das gute Stück ursprünglich schon Ende des letzten Jahres erscheinen sollte und erste Auskopplungen mehr oder weniger direkt nach Online Relationships das Licht der Welt erblickten, wurde die dazugehörige LP zuletzt nicht nur immer weiter nach hinten verschoben, sondern auch öffentlichkeitswirksam abgeändert. Stand Mai 2020 hat Notes On A Conditional Form gute fünf Artwork-Versionen durch, erscheint um gute drei Monate verspätet und hat in dieser Zeit einen Umfang von 22 Tracks in 80 Minuten angenommen. Übertrieben ist das definitiv, aber genau das war laut der Band selbst auch die Absicht bei diesem Album. Und zumindest den Singles nach zu Urteilen, die stilistisch unfassbar streuten, machten the 1975 in dieser großen Spannweite zumindest viele verschiedene Sachen. Im Vorhinein machte mich das natürlich neugierig, gleichzeitig war ich aber auch in Sorge, denn gerade dieser überambitionierte und großkotzige Artpop-Nimbus, der immer mehr sein wollte als er ist, war in meinen Augen schuld an den schlechtesten Attributen von Online Relationships. Was eine anderthalbstündige Riesen-LP, die zwischen Ambient und Industrial alles abdecken wollte, tendenziell eher zu einer bösen Aussicht machte. Und ja, ein bisschen war genau diese Sorge auch berechtigt, denn das Ergebnis ist in seiner Selbstverklärung definitiv nicht ohne. Gleich im selbstbetitelten (!) Opener, der im wesentlichen auf einem Redebeitrag von Greta Thunberg basiert (kein Sample, sondern ein offizielles Feature!), zeigt sich, dass the 1975 mit dieser LP zumindest mal wieder die Welt retten wollen und dafür auch mit Sicherheit die richtigen Songs schreiben. Und dieser ausgeprägte U2-Komplex ist eine nach wie vor schwierige Grundhaltung, die mich an dieser Band kolossal nervt und die hier nicht besser wird. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass sie die Sache musikalisch wenigstens eine ganze Ecke besser angehen und die Songs wesentlich intelligenter schreiben. Vor allem in klanglicher Hinsicht gibt es hier zwar wieder sehr viele verschiedene Einflüsse, doch sind diese nicht so ungeschickt verkleckert wie auf dem Vorgänger, sondern bilden einen durchaus ansprechenden Gesamtkörper, an den einzelne Experimente (zumindest meistens) nahtlos andocken können. Das ist einerseits gut, weil diese Art von fluffigen Popsongs mit orchestralen und elektronischen Sprenklern, wie sie hier dann meistens entstehen, schon beim letzten Mal die besten Momente erzeugten, und andererseits deshalb, weil sich dadurch eine sinnvolle Ästhetik entwickelt. Auf eine abstrakte Weise ist Notes On A Conditional Form den letzten Platten von Drake oder BTS sehr ähnlich, insofern dass es über eine sehr lange Spieldauer eine vergleichsweise chillige, Playlist-hafte Atmosphärik etabliert, die in gewisser Weise auch sehr zeitgenössisch ist. Für den bedeutungsschwangeren Inhalt dieser LP ist das zwar nicht die allerbeste Basis, doch muss ich auch an dieser Stelle sagen, dass sich the 1975 mit dem großen Besteck zurückhalten. Auf vielen Stücken hier geht es eher um die persönliche Einordnung in eine verwirrende Welt, um die Ängste vor der Zukunft und das Ringen mit Überzeugungen, was sich irgendwie natürlicher anfühlt als die paranoiden Black Mirror-Untertöne auf dem Vorgänger. Matt Healy ist zwar noch immer nicht der beste Texter der Welt und seine Gesangsperformance ist mehr als zuvor das schwächste Glied in der immer opulenter werdenden Soundkulisse dieser Gruppe, doch ist auch er weit davon entfernt, diese LP zu ruinieren. Überhaupt muss ich sagen, dass Notes On A Conditional Form insgesamt eine Platte ist, die sehr entgegen meiner ursprünglichen Erwartungen läuft. Mit all dem nachträglichen Hin und Her sowie dieser absolut massiven Spieldauer hatte ich zumindest in den letzten Wochen fast damit gerechnet, dass the 1975 sich hier mächtig verheben und ein mindestens zehnfaches Fear Inoculum-Szenario heraufbeschwören würden. Stattdessen schafft es die Platte überaus erfolgreich, die meisten meiner Kritikpunkte am letzten Album auszubügeln und mir das neue Kreativkonzept der Briten ein bisschen schmackhafter zu machen, wobei die immense Überlänge sogar zu ihrem Vorteil funktioniert. Wirklich begeistert bin ich hiervon immer noch nicht und ein Meisterwerk ist das hier wahrscheinlich nur für sie selbst, doch die Strukturen sind hier die richtigen. Was dieser LP zu einem echten Favoriten fehlt sind wenig mehr als etwas peppigeres Songwriting, eine frischere Performance an manchen Stellen und ein bisschen weniger Pathos insgesamt. Und zumindest zwei Dinge davon liegen absolut im Möglichkeitsradius dieser Band. Ein großer Wurf von the 1975 ist also zum Zeitpunkt wahrscheinlicher als das Gegenteil. Wobei man bei bei ihnen inzwischen nie genau weiß, was man erwarten soll. Denn zumindest das brechen von Vorurteilen haben sie mittlerweile perfektioniert.


Hat was von
BTS
Map of the Soul: 7

James Ferraro
Human Story 3

Persönliche Highlights
the 1975 | the End (Music for Cars) | Frail State of Mind | Streaming | the Birthday Party | Yeah I Know | Jesus Christ 2005 God Bless America | Tonight (I Wish I Was Your Boy) | Shiny Collarbone | If You're Too Shy (Let Me Know) | Having No Head | What Should I Say | Don't Worry

Nicht mein Fall
Roadkill


Mittwoch, 27. Mai 2020

Asian Fusion

[ lärmig | rabiat | groovy ]

Es ist ein faszinierender Aufhänger, den viele Medien, die die Band Chepang in den letzten vier Jahren für die Weltöffentlichkeit entdeckten, allzu gerne nutzten, dass es sich bei dieser Formation nicht nur eine der spannendsten jungen Gruppen in der Grindcore-Szene der jüngeren Vergangenheit handelt, sondern diese darüber hinaus aus einem Teil der Erde kommt, der für seine vitale Hardcore-Community nicht gerade bekannt ist: dem mittelasiatischen Gebirgsstaat Nepal. Und wo dieser Umstand in Bezug auf die Herkunft der fünf Musiker, ihren kulturellen Hintergrund und die in ihren Songs gesungene Sprache auf jeden Fall stimmt, ist er in letzter Konsequenz doch nicht ganz richtig. Denn obwohl die Band ihre Wurzeln tatsächlich in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu hat und alle fünf Mitglieder proforma noch immer ihre alte Staatsangehörigkeit haben, emigrierete die Band bereits vor ihrer Gründung geschlossen in die USA, was kontextuell einen gewaltigen Unterschied macht. Selbst im glorreichen Zeitalter von Bandcamp und selbstgemachten Internet-Platten ist es eine Sache, aus einem ziemlich überschaubaren alternativen Untergrund in Mittelasien heraus internationale Beachtung zu erhalten und eine andere, wenn das innerhalb der wesentlich besser vernetzten Szene von New York passiert, wo Chepang inzwischen ihren Hauptstandpunkt haben. Die Sensation einer nepalesisch beeinflussten Grindcore-Band als echte Innovationskraft eines Subgenres soll das gar nicht schmälern, ich empfinde es nur als Teil der Gleichung, dass der nächste Verwandte in diesem Fall eher System of A Down als Wrust sind. Natürlich auch insofern, dass Chepang nicht nur ihre kulturelle Identität mit in ihre Musik gebracht haben, sondern auch ihre Existenz als Migranten in den Vereinigten Staaten, die ihre lyrischen Narrative seit jeher prägt. Abgesehen davon ist ihr ästhetischer Ansatz aber vor allem klanglich interessant, da vieles bei dieser Band nicht ganz so gewohnt klingt wie bei "normalem" Grindcore. Sie sind in wesentlichen Belangen etwas grooviger, verzichten in ihrem Lineup komplett auf eine Bassgitarre und haben dafür gleich zwei Schlagzeuger in ihren Reihen. Und wo das auf vorherigen Alben in meinen Augen eher dafür sorgte, dass Chepang etwas dillettantisch anmuteten, funktioniert es auf ihrer dritten LP Chattta erstmals zu ihrem Vorteil. Was aber auch daran liegt, dass sie sich hier in Sachen experimentale Ambitionen wesentlich mehr ins Zeug legen und ein paar wirklich schräge Sachen anstellen. Schon im Opener Pahilo Bhet überrascht die Band mit einem Intro, das einem extrem abgefahrenen Saxofonsolo sehr ähnlich klingt und von dem aus man diesem Album tatsächlich ein paar ernst gemeinte Jazz-Einflüsse unterstellen kann. Nicht nur, weil dasselbe Instrument über die Dauer der Platte noch ein paarmal auftaucht, sondern weil es auch kompositorisch Sinn ergibt. Zwischen dem kollektiven Grind-Kotzreiz der 13 Hauptsongs gibt es immer wieder Passagen, die sehr nach ruppigem Free Jazz (ähnlich des Entwurfs auf dem letzten Sumac-Album) anmuten. Und spätestens wenn Trishna eigentlich komplett aus der Hardcore- und Metal-Assoziation ausbricht und irgendwo zwischen Sun Ra und Merzbow verloren geht, bekommt dieser Einfluss auch Gewicht. An coolen Fremdeinflüssen war das aber noch nicht alles: Nach den 13 regulären Titeln von Chattta folgen als Surplus noch einmal vier Remixes als Bonustracks, die die LP noch einmal in eine komplett andere Richtung - namentlich eine elektronische - steuern. Hier findet dann alles von Dub über Breakbeat bishin zu Industrial und Noise einen Platz und denkt die blanke Brutalität einiger Tracks der Platte (sowie ein paar älteren) nochmal komplett um die Ecke. Und obwohl mit dem bisherigen Sound des Albums dabei komplett gebrochen wird, haut die Wendung irgendwie hin und zeigt, wie viele Ebenen diese Band tatsächlich haben kann. Wenn Chattta damit am Ende eine Sache ist, dann das Werk einer Formation, die über den Tellerrand schauen will und sehr individuell denkt, was im Grindcore ja leider Gottes immer noch eine recht seltene Angewohnheit ist. Und obwohl Chepang damit noch lange kein vollwertiges Meisterwerk schaffen und stellenweise noch immer etwas stumpf brettern, muss ich ihnen den Innovations-Punkt für diese Platte zehnfach zugestehen. Es gibt in meinem Leben recht selten eine Grindcore-Gruppe, bei der ich wirklich der Meinung bin, dass man ihre Entwicklung im Auge behalten sollte, aber bei Chepang ist das auf jeden Fall eine dringende Empfehlung. Und an dieser Stelle gleich noch eine zweite: Wenn diese Band weiterhin so interessant klingt wie hier, braucht es in Zukunft nicht mehr diesen dämlichen (und gewissermaßen ja auch unwahren) Nepal-Aufhänger, um mich von ihnen zu überzeugen. Denn gute Musik ist gute Musik, egal wo sie gemacht wird.



Hat was von
Ken Mode
Loved

Full of Hell & the Body
Ascending A Mountain of Heavy Light

Persönliche Höhepunkte
Pahilo Bhet | Andho Manis | Bhramit | Sano Dhukur | Barood | Antim Bhet | Thrishna | Pakhandi (Labi Remix) | Chatta (Wreckless Life Remix) | Samajik Suchana (Foseal Remix)

Nicht mein Fall
-


Dienstag, 26. Mai 2020

Schlimmer geht immer

[ repetetiv | langatmig | überflüssig ]

Eigentlich ist es im Jahr 2020 und bei der momentanen Fluktuation des Trap-Zirkus eine ziemlich erstaunliche Sache, dass so viele Leute sich immer noch für Future interessieren. In einer Szene, in der Hype für die meisten Künstler*innen im Durchschnitt ein Dreivierteljahr reicht und ständig neue Namen auftauchen, hält der Rapper aus Atlanta seit inzwischen einer halben Dekade den Status eines relevanten und innovativen Protagonisten, der musikalisch einfach nicht totzukriegen ist und immer wieder Hits landet. Neben den Migos, Young Thug und Travis Scott ist er dabei sicherlich der Cloudrap-Interpret mit der größten Standkraft in der vergangenen Dekade, hat im Gegensatz zu denen aber weder nachhaltig das Gesicht seiner Stilrichtung geprägt (finde ich zumindest nicht) noch jene Art von exzentrischer Persönlichkeit, die die Beschäftigung mit ihm immer wieder interessant macht. Wenn ich es mir recht überlege, gibt es von ihm bis heute nicht mal ein wirklich definierendes Album, auf das sich Fans immer wieder berufen. Future ist einfach nur irgendwie da und das zu fast jedem Zeitpunkt. Seit etlichen Jahren verfolgt er im wesentlichen einen extrem engen Release-Kalender, der ihn zu jedem Zeitpunkt mit einem aktuellen Projekt an den Start bringt und innerhalb desser er immerhin schon LP-Kollaborationen mit Leuten wie Drake, Young Thug und JuiceWRLD aufnahm. So seltsam es also auch ist, Future ist 2020 einer der ganz großen im der Bewegung. Und obwohl ich dieser Entwicklung gegenüber noch immer extrem skeptisch bin, muss ich doch zugeben, dass gerade die letzten drei Jahre seiner Diskografie gar nicht übel waren. Vor allem auf besagten Kollabo-Projekten überzeugte er zuletzt immer wieder und mit zwei seiner Platten aus der letzten Saison, the Wizrd und Save Me, überraschte er mich tatsächlich positiv. Ganz zu schweigen von großartigen Einzeltrack-Momenten wie Mask Off oder Never Stop, für die er zwischendurch immer gut war. Generell konnte man also sagen, dass Future sich zuletzt ganz wesentlich verbesserte und vor allem seine schlechte Angewohnheit, im Monatstakt mittelmäßige Quotenplatten rauszuballern, die unfassbar enervierend und blutleer waren, ein bisschen loswurde. Zumindest fürs erste. Denn wenn High Off Life, seine erste Platte im neuen Jahrzehnt, eine Sache ist, dann die glorreiche Rückkehr genau dieser Version des Rappers, die ich so wenig vermisst habe. Und das fängt schon bei den Dimensionen dieses Projekts an: Als LP, die angeblich komplett in der Quarantäne-Phase der letzten zwei Monate entstand, protzt sie mit einer Spannbreite von opulenten 21 Tracks in 70 Minuten, was direkt eine gigantische rote Fahne sein dürfte, wenn man die Diskografie dieses Typen kennt. Angesichts der überwiegend positiven letzten Alben wollte ich aber nicht so sein und mir die Katze im Sack verkaufen lassen, was definitiv ein Fehler war. Denn obwohl Future in seinem Repertoire schon so einige Totalausfälle auf dem Kerbholz hat, muss ich doch ernsthaft überlegen, wann er das letzte Mal so ranzig und unmotiviert klang. Und es könnte tatsächlich sein, dass das sein bisheriger Höhepunkt in dieser Hinsicht ist. Wo selbst seine schlechten Platten in der Vergangenheit meistens nur extrem langweilig waren und ihr schlimmster Fehler war, gängige Standards innovativerer Trap-Künstler*innen billig reproduzieren, ist der überwiegende Teil der Songs hier effektiv mies gemacht. Kaum ein Beat ist in irgendeiner Weise catchy oder atmosphärisch, die meisten sind grauenvoll abgemischt, keines der hochkarätigen Features (u.a. Drake, DaBaby, Lil Baby, Lil Uzi Vert, Travis Scott und Young Thug) ist auch nur ansatzweise die Strophe wert (Große Ausnahme: Meek Mill in 100 Shooters) und Future selbst ist maulfaul wie selten. Schon seine ohnehin druffige Performance ist nur äußerst selten den entsprechenden Songs zuträglich, hier jedoch rutscht er nochmal eine Ebene tiefer ab und verliert in manchen Momenten scheinbar komplett die Kontrolle über seine verbalen Steuerungsmechanismen. Von Dingen wie Flow oder lyrischer Klarheit mal ganz zu schweigen. Es ist wahrhaftig zum fürchten. Am Ende von enervierenden 70 Minuten ist die Bilanz dann entsprechend fatal: Von 21 Songs (20 wenn man den abschließenden Remix von Life is Good nicht als eigenen Track zählt), finde ich gerade Mal die beiden Opener- beziehungsweise Closer-Stücke Trapped in the Sun und 100 Shooters wirklich nennenswert. Zu den halbwegs okayen Cuts zähle ich in meiner unendlichen Güte außerdem Too Comfortable und Accepting My Flaws, die immerhin ganz nette Instrumentals haben. Der Rest der Platte, und ich meine das so wie ich es sage, ist Mist. Nicht mittelmäßig, nicht öde, nicht vernachlässigbar - Mist. Ich habe in den letzten Jahren zwar auch schon Alben gehört, die kompositorisch schlimmer reinreißen als das hier und drei von elf Punkten sind nicht das verheerendste Resultat aller Zeiten für mich, aber es gehört schon zum Kaffeesatz der zahlreichen nervigen Trap-Projekte mit unnötiger Überlänge. Und so sehr ich das auch schade finde, ist es erstaunlich, dass es erst jetzt so weit ist, denn einen Rohrkrepierer wie diesen hatte Future schon immer in der DNA. Seltsamerweise auf die gleiche Weise, wie er tolle Platten wie the Wizrd und Super Slimey in der DNA hatte. Wenn man so viel produziert wie er, ist eine derartige qualitative Streuung vielleicht auch ganz natürlich. Sorgen mache ich mir auf jeden Fall nicht, dass es mit diesem Rapper jetzt komplett vorbei ist, denn irgendwie scheinen die Kids dieses Zeug ja immer noch zu mögen und auch ich bin mir sicher, dass es früher oder später wieder eine Future-LP gibt, die ich sehr gerne mag. Die Frage ist nur, durch wie viele schrottige Mixtapes wir uns bis dahin kämpfen müssen.




Hat was von
Lil Uzi Vert
Eternal Atake

Migos
Culture II

Persönliche Höhepunkte
Trapped in the Sun | Too Comfortable | Accepting My Flaws | 100 Shooters

Nicht mein Fall
HiTek Tek | Solitaires | Ridin Strikers | One of My | Pray for A Key | All Bad | Outer Space Bih | Life is Good



Montag, 25. Mai 2020

Bitte transzendieren Sie

[ zerfasert | meditativ | filigran | experimentell ]

Ich muss zugeben, ich war in der Vergangenheit nicht ganz fair mit Moses Sumney. Zumindest in der Weise, dass ich ihm lange nicht die Aufmerksamkeit habe zukommen lassen, die er sicherlich verdient gehabt hätte. Als vor etwa drei Jahren sein gefeiertes Erstlingswerk Aromanticism erschien und alle plötzlich über den Briten zu reden schienen, hätte es für mich eigentlich genügend Gründe gegeben, mir seinen Output etwas ausführlicher anzuhören und obwohl ich die Platte damals hörte, geschah das eher sehr oberflächlich und nicht mit der Intensität, die ein so anspruchsvolles Projekt eigentlich verlangt hätte. Denn schon da zeigte sich Sumney nicht nur als ein sehr talentierter moderner Soulkünstler, sondern vor allem auch als einer, der viele interessante Einflüsse in seiner Musik vereinte. Und es spricht ja schon irgendwie für sich, wenn gleich seine zweite LP drei Jahre später praktisch ein Doppelalbum ist. Wobei das auch nicht ganz stimmt. Wie auch einige andere Künstler*innen in dieser Saison hielt es Sumney für eine gute Idee, die Veröffentlichung von Græ seriell zu splitten und faktisch zwei separate Releases daraus zu machen. Wobei der erste Teil, der immerhin gute zwei Drittel des gesamten Albums ausmacht, bereits im Februar erschien und das Anhängsel von acht zusätzlichen Tracks am vorletzten Freitag folgte. Für wie sinnvoll ich so eine Aufteilung erachte, sei an dieser Stelle mal dahingestellt, Fakt ist aber, dass der Brite damit einen ganz schönen Brocken an neuer Musik auf Græ versammelt. Mit 20 Stücken in 65 Minuten ist diese LP schon von ihren Dimensionen her ziemlich ambitioniert und man kann definitiv sagen, dass Sumney diese Überlänge auch zu nutzen weiß. Stilistisch ist seine Hauptrichtung zwar nach wie vor eine Art experimenteller Soul in der Tradition von Frank Ocean, Serpentwithfeet oder Solange, doch gibt es darüber hinaus überall Anklänge von Progressive Rock, Jazz, Ambient, Folk und Klassischer Musik, die die Ästhetik dieser Platte erfolgreich transzendieren. Es hilft dem Gesamteindruck dabei immens, dass Græ über Weite Teile hinweg sehr fließend ist und es viele eingeschobene Vignetten und Interludes gibt, sodass einzelne Songs sehr effektiv ineinander übergehen. Dabei ergibt sich jedoch auch nicht der Effekt, dass es klare Kernsongs gibt, um die sich ein bisschen experimentelles Gewaber ansammelt, sondern fast die gesamte Platte, die sehr unstet und wenig greifbar ist. Oft sind es gerade länge Stücke wie Gagarin oder Bystanders, die am wenigsten definiertes Songwriting vorweisen und sich stattdessen viel Zeit für ausgiebige Klangexperimente nehmen. In anderen, wie Polly oder In Bloom (beides keine Nirvana-Cover), gibt es zwar klassischere Kompositionsstrukturen, doch sind diese klanglich sehr zurückhaltend und träge, sodass auch sie alles andere als eingängig sind. Wo das erstmal klingt wie ein Manko, ist gerade diese Ungreifbarkeit in meinen Augen die größte Stärke dieses Albums. Denn durch diese Ästhetik erhält die LP in vielen Momenten eine sehr sinfonische, meditative Qualität, bei der auch kleinen musikalischen Ideen viel Platz eingeräumt wird. Nicht selten hat das ganze dann auch etwas sehr opernhaftes, bei dem vor allem Moses Sumneys atemberaubendes Gesangstalent sehr schön zutage tritt. Er ist es auch, der vielen dieser fahrigen Songs extrem viel Charakter einhauchen kann, der Græ immer wieder spannend macht und dieses Ergebnis vom Output eines James Blake oder Yves Tumor unterscheidet, bei denen ähnliche Ansätze inzwischen sehr pretenziös klingen. Dem Briten ist definitiv nicht abzusprechen, dass er dem Genre-Etikett "Soul" alle Ehre macht und hier sehr viel Emotionalität und Leidenschaft einbringt. Und auch wenn sich die Platte gerade im zweiten Teil bei so viel bewusster Langsamkeit etwas zieht und einige Interludes vielleicht nicht zwingend notwendig gewesen wären, bin ich vom Gesamtergebnis doch ziemlich begeistert. Nicht nur weil diese LP handwerklich extrem gut gemacht ist, es viele tolle Details gibt und Moses Sumney verdammt viel Talent hat, sondern auch, weil seine musikalische Ästhetik etwas ist, das man nicht ständig hört. Es ist erfrischend, im momentan so überfluteten Bereich Neo-Soul und R'n'B, bei dem viele Experimente auch schief gehen, jemanden zu hören, der tatsächlich so vieles richtig macht und ein so breites Spektrum bedient. Wodurch man ihn am Ende des Tages nicht nur in einen Topf mit Frank Ocean und James Blake stecken muss, sondern auch mit Leuten wie Dave Longstreth, Joanna Newsom, Arca, Leland Whitty oder Radiohead. Und das hier ist definitiv die Platte, über die man später reden wird, wenn es um den ersten großen musikalischen Höhepunkt dieses Künstlers geht, denn hier zeigt sich wirklich, was der Typ kann. Was es mich definitiv nicht bereuen lässt, dieses Mal aufmerksamer gewesen zu sein.



Hat was von
Serpentwithfeet
Soil

James Blake
the Colour in Anything

Persönliche Höhepunkte
Cut Me | In Bloom | Virile | Gagarin | Jill/Jack | Colourour | Polly | Two Dogs | Bystanders | Me in 20 Years | Bless Me

Nicht mein Fall
Lucky Me


Sonntag, 24. Mai 2020

Where Are We Now?

[ gefasst | kunstig | heimatlich | mondän ]

Wenn eine Band wie die Einstürzenden Neubauten, von der es nun schon etwas länger keine neue Musik gegeben hat, ein Album wie dieses veröffentlichen, dann finde ich es am Anfang immer ganz gut zu wissen, woran sie hier eigentlich anschließen. Bei einer Diskografie von mittlerweile 40 Jahren, die die Berliner hinter sich haben und ihrem monströsen Legendenstatus ist ein bisschen Aufarbeitung wichtig, und für mich im Moment auch eine spannende Sache, da die Neubauten gerade auf dem besten Weg sind, eine meiner Lieblingsbands zu werden. Und egal wie man zu ihnen steht, zumindest im Sinne einer Information wäre es wichtig zu sagen, was denn eigentlich der Vorgänger von Alles in Allem so machte. Das Problem ist nur: Ich kann beim besten Willen nicht endgültig sagen, was dieser Vorgänger eigentlich ist. Denn was die Diskografie dieser Gruppe im neuen Jahrtausend angeht, ist vieles ziemlich verwirrend, und es kommt sehr darauf an, was man unter dem Begriff "Album" eigentlich fassen will. Hier ein kleiner Annäherungsversuch: Zählt man jede Veröffentlichung, so ist die zum Zeitpunkt letzte Neubauten-LP Lament von 2014, ein Auftragswerk für ein Geschichtsprojekt zum ersten Weltkrieg, das allerdings auch die Band selbst nicht wirklich listet. Davor gab es eine ganze Handvoll Releases innerhalb der Supporters- und Musterhaus-Reihen während der Zwotausender, die aber eher eine Art avantgardistische Serie waren und auch nicht wirklich ins Bild passen. Verfolgt man die Suche durch all das Material aber tatsächlich bis zum Ende, ist die letzte offizielle LP der Berliner Silece is Sexy von 2000, was auch irgendwie nicht sein kann. Deshalb lasse ich an dieser Stelle einfach mal offen, wo man in ihrer Diskografie letztlich die Nadel ansetzt und fange einfach hier an. Zumal es ja trotz unklarer Katalogisierung sehr einfach nachzuvollziehen ist, wohin sich diese Gruppe seit ihren frühen Tagen entwickelt hat. Die erste Feststellung hierbei ist: 2020 gehören die Einstürzenden Neubauten zum intellektuellen Establishment. 2017 haben sie die Elbphilarmonie eröffnet, den Hauptteil ihrer Musik schreiben sie mittlerweile für Ausstellungen und Theaterstücke und aus dem einstigen Speedfreak-Schocker Blixa Bargeld ist über die Jahre ein feingeistiger Bohèmien geworden, der bei Alfred Biolek mediterranes Risotto kocht und einen sehr weltmännischen Nimbus pflegt. Und Alles in Allem ist in seiner Gesamtheit auch durchaus ein Album, das diese Entwicklung anerkennt. Wobei die Neubauten noch immer eine Band sind, die ihre sorgsam entwickelte künstlerischer Freiheit ausnutzen kann und will. Provozieren wollen sie ja sowieso schon lange nicht mehr, auch dissonanter Lärm muss nur sehr selten sein und wenn man die Begriffe "Industrial" und "Avantgarde" hier weiterhin verwenden will, dann sind sie eher struktureller Natur. Denn zwar hört man noch immer viel zweckentfremdetes Baustellen- und Haushalts-Instrumentarium und jede Menge langinstallatorische Field Recordings, doch wird daraus nicht mehr Musik gemacht, die kracht und schreit und fiept, sondern eher raschelt und flüstert. Auch Blixa selbst schreit nicht mehr, sondern hat sich eher ein sehr sonores Gothic-Timbre angewöhnt, das optimal zu seinen schwarzen Maßanzügen und der Galeristen-Frisur passt. Es ist eine sehr undüstere, gefällige, teils atmosphärische Stimmung, die von Alles in Allem ausgeht und man kann sich sicher sein, dass die Neubauten wissen, was sie hier tun. Die Arrangements in vielen Tracks sind unfassbar erlesen und beinhalten neben den (in diesem Fall) üblichen Nicht-Instrumenten Dinge wie Akkordeon, Harfe, Orgeln oder filigrane Streicher, die wunderbar den Hintergrund vieler Songs auskleiden und ihre Schöngeistigkeit fördern. Eine Ästhetik, die vor allem für die lyrischen Inhalte der Platte eine perfekte Grundlage ist. Denn auch hier findet sich genau jene mondäne, elitäre Nonchalance, die gerade so schön zu dieser Band passt. Im Vokabular vieler Songs wie Möbliertes Lied und Zivilisatorisches Missgeschick geht es um räumliche Begrifflichkeiten aus der Architektur, um gegenständliche Besitztümer und Material, das meiste davon in Bezug auf Berlin, die Heimatstadt der Gruppe. Der Zusammenhang wird zwar nie direkt gezogen, doch es hat eine gewisse Energie, wenn Blixa in Am Landwehrkanal einerseits über seine wilden Zeiten im Szene-Sumpf und in Grazer Damm über seine Kindheit singt, später aber über helle Räume und Antikmöbel schreibt. In gewisser Weise ist Alles in Allem dabei zumindest teilweise eine Hommage an Berlin, aber vor allem eine Meditation darüber, wie sich die Stadt und die Protagonisten darin verändert haben. Und nichts fasst diese Veränderung besser auf als der fast orchestrale Album-Closer Tempelhof, in dem auf sehr besinnliche Weise die Ruine des ehemaligen Flughafengebäudes besungen wird, wobei man nicht umhin kann, gewisse Parallelen zu ziehen. Als Szene-Urgewächse der Hauptstadt sind die Einstürzenden Neubauten die perfekten Chronisten von vierzig Jahren, in denen Berlin vom modrigen Schandfleck der Bundesrepublik zur internationalen Vorzeige-Metropole mit viel schniekem Gloria geworden ist. Und wenn man es sich recht überlegt, ist das auch ein bisschen die Geschichte dieser Band. Von der Subkultur ins Establishment, aus der Avantgarde in die High Society und vielleicht auch ein bisschen in die Selbstentfremdung. Inklusive David Bowie und Nick Cave als stetig zitierte Fußnoten. Der einzige Vorsprung der Neubauten ist, dass sie in der Zwischenzeit von den harten Drogen weggekommen sind und die dämlichen Lederkutten eingemottet haben, so wie sich das für die alte Lady des Industrial gehört. Der Schalk im Nacken ist trotzdem noch da, und ich bin heilfroh, dass auch der hier ein weiteres Mal nicht unter den Teppich gekehrt wird. Denn so sehr diese Band auch zahm wird, langweilig wird sie nicht in tausend Jahren. Und wenn das kein Paradebeispiel für gutes Altern ist, dann weiß ich auch nicht.



Hat was von
Rio Reiser
Blinder Passagier

Nick Cave & the Bad Seeds
Push the Sky Away

Persönliche Höhepunkte
Am Landwehrkanal | Zivilisatorisches Missgeschick | Taschen | Seven Screws | Alles in Allem | Grazer Damm | Tempelhof

Nicht mein Fall
Wedding


Freitag, 22. Mai 2020

Charli allein zu Haus

[ digitalistisch | elektronisch | postmodern ]

Die zwanzigste Kalenderwoche des Jahres 2020 (auch bekannt als letzte Woche) war vielleicht die, in der die erste größere Ladung von Platten erschien, die komplett innerhalb der andauernden Covid-19-Quarantäne entstanden. Denn abgesehen von zahlreichen Livestreams, Online-Festivals, Kompilationen und Soli-Samplern, die in den vergangenen Monaten bereits erschienen sind, gibt es so einige Künstler*innen, die die tourfreie Zeit gerade nutzen, um komplett neue Longplayer oder zumindest Mixtape-artige Projekte an den Mann zu bringen. Allen voran gab es da schon am letzten Wochenende Bad Bunny mit Las Que No Iban A Salir, das eher eine Art Zusammenstellung von Songs war, die nochmal Streaming-Zahlen gererieren sollte und seitdem auch eine neue LP von Future, die ich wahrscheinlich innerhalb der nächsten Tage besprechen werde. Die umfassendste Form dieser Art von Platte kam aber am Freitag von Charli XCX, die zumidest am besten darin war, die saisonale Besonderheit ihres neuen Produkts hervorzuheben. Statt als vollweriges Album bezeichnet sie die vorliegenden elf Stücke als "Quarantäne-LP", inszeniert sich auf dem Cover im isolationstauglichen Comfy-Look ihres Schlafzimmers und nennt das Ding ganz bewusst How I'm Feeling Now. Die LP soll im Prinzip auch genau das sein: Eine Sammlung von Material, das durchweg innerhalb der Quarantäne entstand und Charlis Gedankengänge und Emotionen während der letzten zwei Monate beschreibt. Verifizieren kann ich das natürlich nicht, aber letztendlich ist das auch egal. Denn am Ende des Tages ist das hier nichts weiter als die konsequene Fortführung der regelmäßig erscheinenden kleinen und mittelgroßen Releases dieser Künstlerin, die es schon in den letzten sechs Jahren ständig gab. Wobei die Britin auch stilistisch bei ihren Sporen bleibt. How I'm Feeling Now ist ein weiteres dieser Projekte, das ganz klar in der Tradition von Formaten wie PC Music, Kim Petras und Slayyyter steht und mittlerweile nicht mehr nur davon beeinflusst ist. Mehr als ein klassischer Popstar mit elektronischen Anleihen ist Charli XCX ein einer Reihe mit Leuten wie Hannah Diamond oder AG Cook, mit dem Unterschied, dass man ihr noch eine eindeutig menschliche Identität zuschreiben kann. Und wenn ich ehrlich bin, ist das hier tatsächlich ein Album, mit dem sie ihre Vorbilder ein bisschen stolz machen kann, denn so gut wie diese LP klingen nur wenige Releases der Bewegung auf Großformat. Gerade mit Songs wie Claws, Detonate und c2.0 klingt Charli hier wie die wesentlich coolere Variante des letztjährigen Abschnarch-Debüts von Hannah Diamond und schafft eine kohärente Ästhetik, die auch sie selbst nicht immer hinkriegt. Vergleicht man die kompositorische Struktur hier mit der ihres selbstbetitelten LP-Highlights vom letzten Herbst (das ich leider ziemlich mittelmäßig fand), gibt es hier viel mehr klare ästhetische Blickfänge, direktere Produktion und weniger überflüssiges Füllmaterial, das nur von den guten Momenten ablenkt. Klar ist auch hier nicht jeder Track eine totale Granate und es gibt auch immer wieder kleinere Hänger, doch immer auch mindestens eine starke Hook, einen coolen Break oder ein lyrisches Highlight pro Song. Und insgesamt sind kann ich mir bei manchen Songs hier viel besser vorstellen, sie auch noch in ein paar Monaten hören zu wollen als auf dem letzten Album. Dass das Thema Quarantäne dabei in den meisten Momenten nicht so richtig durchkommt, ist in meinen Augen geschenkt. Darüber quatschen sowieso gerade schon alle so viel, dass ich nicht auch noch ein ganzes Mixtape dazu brauche, sondern eher froh bin, wenn es mal um was anderes geht. Und mit ziemlicher Sicherheit bin ich damit auch nicht der einzige.



Hat was von
PC Music
PC Music Vol. 1

Hannah Diamond
Reflections

Persönliche Höhepunkte
Claws | 7 Years | Detonate | c2.0 | Visions

Nicht mein Fall
I Finally Understand | Party 4 U



Donnerstag, 21. Mai 2020

Zehn Jahre später: Hauptsache nicht Mitte Dreißig

[ autobiografisch | persönlich | erwachsen ]

Rückblickend waren die frühen Jahre der letzten Dekade eine ungemein komische Zeit für Mainstream-kompatiblen Rap, die sich mit dem Wissen von heute wie ein äußerst seltsames Zwischenstadium für das Genre anfühlen. Es war die Phase, in der man kurz dachte, Hiphop würde den Weg des Progrock gehen, bevor einige Jahre später die Expolsion des Cloudrap alle Fronten neu steckte. Die seltsamen Trend-Fenster von Bling-Bling und Dipset waren vorbei, Aggro Berlin hatte sich aufgelöst, Bushido machte Filme mit Bernd Eichinger und in den Staaten veröffentlichte ein gewisser Kanye West gerade eine LP namens My Beautiful Dark Twisted Fantasies, die die Selbstherrlichkeit und kreative Spannweite von Hiphop völlig neu definierte. Und auch im Deutschrap spürte man damals eine ähnliche Art von Umbruchsstimmung. Der Kanye der hiesigen Gefilde hörte auf den Namen Peter Fox und schaffte es mit seinem Solo-Debüt Stadtaffe von 2008, eine sehr Mainstream-freundliche Variation von Deutschrap in die Charts zu bringen, die vor allem zeigte, wie erwachsen die Szene geworden war. Hier ging es nicht um Gang-Kriege und harte Haltungsfragen, sondern um die großen Themen des Lebens, und es wurde sich getraut, auch mal bieder und nachdenklich zu sein. Der Deutschrap-Mainstream hatte Ende der Nullerjahre seinen ersten Grönemeyer-Moment, und der zog binnen kurzer Zeit so einige Nachahmer mit sich. Da gab es den inzwischen etwas ergrauten Sido, der sich zu den Erwachsenen gesellen wollte, den schon immer recht soften Max Herre, der nochmal nach Pop-Ambitionen strebte und im Windschatten des ganzen auch einige junge Künstler wie Casper oder Tua, die für den End-Zwotausender-Untergrund der Bundesrepubik schlichtweg zu transzendent waren. Unter letzteren erlebte eines der größten Glow-Ups ein junger Rostocker MC, der im Sommer 2010 sehr plötzlich auf der Bildfläche auftauchte und es seltsamerweise ohne großes Szene-Backing schaffte, in die Charts einzusteigen. Sicher, auch Marten Lanciny war zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile unterwegs. Er brachte seine obligatorischen Auftritte bei Feuer über Deutschland, hatte mit zwei Alben bereits seit 2006 die Marke Marsimoto aufgebaut und dieser ein Jahr später auch das Real Life-Pendant Marteria hinzugefügt. Trotzdem war er innerhalb der gesamtdeutschen Community irgendwie isoliert und hatte zumindest kaum so erfolgreiche Freunde wie ein Casper oder ein Cro. Zumindest bis 2009, als gerade Peter Fox sich des Mecklenburgers annahm und ihn über Jahre hinweg mit Nachdruck pushte. Dass die beiden sich musikalisch ziemlich ähnlich waren, war dabei nur ein Vorteil dieser Zusammenarbeit, denn aus seinem zweiten Album Zum Glück in die Zukunft hört man erstmals heraus, dass er in dieser Zeit die richtigen Kontakte knüpfen konnte. Die Bubble um Seeed war seit den frühen Nullern eine Art Kartellbetrieb für talentierte Musiker*innen, die untereinander ständig kollaborierten, und in vielen Punkten profitiert Marteria hier davon. Das Produzententeam the Krauts produziert die Platte exklusiv, Miss Platnum ist als Gastsängerin auf diversen Songs zu hören und in der Feature-Liste finden sich damalige Hochkaräter wie Jan Delay, Armin Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks und natürlich auch Peter Fox höchstselbst. Die Beteiligung solcher Schwergewichte war vor allem daran Schuld, ZGIDZ 2010 sehr schnell in die Charts zu befördern, trotzdem ist der größte Verdienst der Platte, dass es Marteria ist, der darauf ganz eindeutig im Mittelpunkt steht und sich hier einen Charakter aufbauen kann. Das war wichtig, denn auf seiner ersten LP war er vor allem eine Art Marsimoto mit menschlichem Andlitz und tieferer Stimme, der kein wirkliches ästhetisches Alleinstellungsmerkmal hatte. Was sich hier im wesentlichen verändert ist, dass der Künstler beginnt, über sich selbst zu erzählen und seine eigenen Handlungen in den Vordergrund zu stellen. Ähnlich wie auf Stadtaffe erscheint hier plötzlich ein Rapper mit sehr erwachsenen Problemen und Ängsten, der über die Hürden des Alltags, vergangene Träume und unschöne Realitäten abseits von Gang-Klischees schreibt. Schon der Opener Endboss packt dieses Thema direkt beim Schopf und rattert in Zeitraffer die bisherige Biografie des Marten Lanciny durch, die quasi als Exposition für die folgenden Narrative dient. Danach ist klar, dass die Adoleszenz-Nummer größtenteils durch ist. In der Leadsinge Verstrahlt träumt der Erzähler vom Ausstieg aus der alltäglichen Ödnis, Amy's Weinhaus und Wie mach ich dir das klar beschreiben tragische Lebenschicksale mit Galgenhumor, Du willst streiten ist der Soundtrack einer in die Brüche gegangenen Beziehung und in Sekundenschlaf wird das Thema Altern schlussendlich komplett aus dem Subtext geholt. Zum Glück in die Zukunft ist das Album jedes durchschnittsdeutschen Mannes Anfang 30, das irgendwo zwischen begonnener Lebenserfahrung, Resthedonismus und Stagnation seinen Platz in der Welt sucht. Eine Ästhetik, die hier so gut formuliert ist, dass selbst ich als damals 13-jähriger ein bisschen verstand, was damit gemeint ist (und auch jetzt, noch immer recht weit von diesem Alter entfernt). Sicher waren es vor zehn Jahren nicht diese Faktoren, die mich zum Kauf der Platte animierten, wohl eher die Tatsache, dass viele meiner Lieblingskünstler aus dieser Zeit hier mit am Start sind. Doch es ist im Nachhinein das, was ich an Zum Glück in die Zukunft noch immer ungemein schätze. So sehr, dass ich es manchmal sogar ein bisschen darauf reduziere. Denn obwohl das Narrativ des resignierten und alternden hier oft im Vordergrund steht, gibt es auch viele Tracks, die daraus ausbrechen. Alles verboten, Kate Moskau oder Marteria Girl sind thematisch komplett aus dem Kontext gezogen und erinnern eher noch an den Marteria vom Debüt, sind deshalb aber nicht unbedingt schlechter. Und sie zeigen, dass sich diese Platte in der Schwebe befindet zwischen dem ulknudeligen Marsimoto-Zeug und dem gemütlichen Hiphop-Papa Lanciny von heute. Was sich hingegen verändert hat, ist wie sehr ich einzelne Stücke als reine Songs mag. Endboss und Louis waren vor zehn Jahren vielleicht meine Lieblingstracks, inzwischen mag ich sie mit Abstand am wenigsten. Und Marteria Girl und Seit dem Tag als Michael Jackson starb sind schlicht und ergreifend mies gealtert. In meiner Gunst gewonnen haben stattdessen eher die Stücke, bei denen die bombastische Krauts-Produktion sich bezahlt macht und die elektronischer gehalten sind. Verstrahlt ist in meinen Augen als Single-Hit unsterblich geworden, Sekundenschlaf und Veronal gehen musikalisch herrlich tief (Peter Fox' Hook in Sekundenschlaf ist eine seiner besten!) und Kate Moskau und Du willst streiten sind aus einer erzählerischen Rap-Perspektive einfach ziemlich genial. Ein kleines Guilty Pleasure (und das passt in diesem Fall tatsächlich sehr gut) ist darüber hinaus Alles verboten, hauptsächlich aber wegen des absolut kranken Features von Casper (diesen Flow hat er heute nicht mehr drauf). Insgesamt muss ich dabei sagen, dass Zum Glück in die Zukunft 2020 nicht mehr ganz so gut klingt wie vor zehn Jahren, aber immer noch grundsolide ist. Und dass Marteria seitdem nie mehr so fokussiert und klar auf einem Album war, steht für mich ebenfalls fest. Es ist im Nachhinein absolut nachvollziehbar, warum sein Durchbruch 2010 gerade mit dieser LP kam und warum es später nicht abwegig war, es mit einem Sequel zu versuchen. Das hier ist eine Platte, die ganz klar Identität schafft und einen Künstler positioniert. Und so eine machen die meisten Leute eben nur einmal, wenn überhaupt. Obwohl ich es Marteria nicht absprechen würde, mit 50 nochmal ein Opus Magnum zu schreiben, so gut wie er hier schon im Älterwerden ist.



Hat was von
Miss Platnum
Glück & Benzin

Peter Fox
Stadtaffe

Persönliche Höhepunkte
Verstrahlt | Amy's Weinhaus | Du willst streiten | Kate Moskau | Alles verboten | Veronal (Eine Tablette nur) | Sekundenschlaf

Nicht mein Fall
Endboss | Louis