Freitag, 22. Mai 2020

Charli allein zu Haus

[ digitalistisch | elektronisch | postmodern ]

Die zwanzigste Kalenderwoche des Jahres 2020 (auch bekannt als letzte Woche) war vielleicht die, in der die erste größere Ladung von Platten erschien, die komplett innerhalb der andauernden Covid-19-Quarantäne entstanden. Denn abgesehen von zahlreichen Livestreams, Online-Festivals, Kompilationen und Soli-Samplern, die in den vergangenen Monaten bereits erschienen sind, gibt es so einige Künstler*innen, die die tourfreie Zeit gerade nutzen, um komplett neue Longplayer oder zumindest Mixtape-artige Projekte an den Mann zu bringen. Allen voran gab es da schon am letzten Wochenende Bad Bunny mit Las Que No Iban A Salir, das eher eine Art Zusammenstellung von Songs war, die nochmal Streaming-Zahlen gererieren sollte und seitdem auch eine neue LP von Future, die ich wahrscheinlich innerhalb der nächsten Tage besprechen werde. Die umfassendste Form dieser Art von Platte kam aber am Freitag von Charli XCX, die zumidest am besten darin war, die saisonale Besonderheit ihres neuen Produkts hervorzuheben. Statt als vollweriges Album bezeichnet sie die vorliegenden elf Stücke als "Quarantäne-LP", inszeniert sich auf dem Cover im isolationstauglichen Comfy-Look ihres Schlafzimmers und nennt das Ding ganz bewusst How I'm Feeling Now. Die LP soll im Prinzip auch genau das sein: Eine Sammlung von Material, das durchweg innerhalb der Quarantäne entstand und Charlis Gedankengänge und Emotionen während der letzten zwei Monate beschreibt. Verifizieren kann ich das natürlich nicht, aber letztendlich ist das auch egal. Denn am Ende des Tages ist das hier nichts weiter als die konsequene Fortführung der regelmäßig erscheinenden kleinen und mittelgroßen Releases dieser Künstlerin, die es schon in den letzten sechs Jahren ständig gab. Wobei die Britin auch stilistisch bei ihren Sporen bleibt. How I'm Feeling Now ist ein weiteres dieser Projekte, das ganz klar in der Tradition von Formaten wie PC Music, Kim Petras und Slayyyter steht und mittlerweile nicht mehr nur davon beeinflusst ist. Mehr als ein klassischer Popstar mit elektronischen Anleihen ist Charli XCX ein einer Reihe mit Leuten wie Hannah Diamond oder AG Cook, mit dem Unterschied, dass man ihr noch eine eindeutig menschliche Identität zuschreiben kann. Und wenn ich ehrlich bin, ist das hier tatsächlich ein Album, mit dem sie ihre Vorbilder ein bisschen stolz machen kann, denn so gut wie diese LP klingen nur wenige Releases der Bewegung auf Großformat. Gerade mit Songs wie Claws, Detonate und c2.0 klingt Charli hier wie die wesentlich coolere Variante des letztjährigen Abschnarch-Debüts von Hannah Diamond und schafft eine kohärente Ästhetik, die auch sie selbst nicht immer hinkriegt. Vergleicht man die kompositorische Struktur hier mit der ihres selbstbetitelten LP-Highlights vom letzten Herbst (das ich leider ziemlich mittelmäßig fand), gibt es hier viel mehr klare ästhetische Blickfänge, direktere Produktion und weniger überflüssiges Füllmaterial, das nur von den guten Momenten ablenkt. Klar ist auch hier nicht jeder Track eine totale Granate und es gibt auch immer wieder kleinere Hänger, doch immer auch mindestens eine starke Hook, einen coolen Break oder ein lyrisches Highlight pro Song. Und insgesamt sind kann ich mir bei manchen Songs hier viel besser vorstellen, sie auch noch in ein paar Monaten hören zu wollen als auf dem letzten Album. Dass das Thema Quarantäne dabei in den meisten Momenten nicht so richtig durchkommt, ist in meinen Augen geschenkt. Darüber quatschen sowieso gerade schon alle so viel, dass ich nicht auch noch ein ganzes Mixtape dazu brauche, sondern eher froh bin, wenn es mal um was anderes geht. Und mit ziemlicher Sicherheit bin ich damit auch nicht der einzige.



Hat was von
PC Music
PC Music Vol. 1

Hannah Diamond
Reflections

Persönliche Höhepunkte
Claws | 7 Years | Detonate | c2.0 | Visions

Nicht mein Fall
I Finally Understand | Party 4 U



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