Dienstag, 12. Mai 2020

Alles außer anders

[ progressiv | schroff | gewöhnlich ]

Rückblickend bin ich ehrlich gesagt sehr froh darüber, dass es in den letzten Jahren ein paar unnachgiebige Personen gab, die mich immer wieder dazu gedrängt haben, mir the Hirsch Effekt anzuhören, denn andernfalls würde ich sie wahrscheinlich noch heute doof finden. Es war eine seltsame Begegnung, und ich als Musikhörer noch reichlich grün hinter den Löffeln, als ich 2012 zum ersten Mal auf die Gruppe aus Hannover traf und sie mich mehr oder weniger grundlegend verstörten. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass Holon: Anamnesis, ihre damals aktuelle LP, auch ein echt seltsames Stück Musik war und bis heute seinesgleichen in der Szene sucht. Erst wiederholte Anläufe mit dem Material und der Kontext ihrer anderen Platten brachte mich über etliche Jahre dazu, diese Band zu akzeptieren und bisweilen sogar ein bisschen zu mögen. Stand 2020 bin auch ich genereller Befürworter der berüchtigten Holon-Trilogie und ihr letztes Album Eskapist von 2017 fand ich zumindest ziemlich okay. Sicher gibt es noch immer einige Faktoren wie Sänger Nils Wittrocks sehr eigenwillige Vokalakrobatik, die mir über die Gesamtheit ihrer Diskografie übel aufstoßen und an die ich mich nie gewöhnen werde, doch habe ich auch gelernt, es als Teil dieser Musik zu verstehen. Wobei ich bei aller gefundenen Liebe für das Trio doch sagen muss, dass sie sich mit ihren letzten Platten in einem vorsichtigen Abwärtstrend befinden. Schon Holon: Agnosie hatte 2015 seine fragwürdigen Momente, war aber insgesamt noch ziemlich cool. Doch schon auf Eskapist mehrten sich Elemente wie der pathetische Gesang von Wittrock oder völlig nutzlose Prog-Gniedelei zusehends. Damals fand ich das alles nicht ganz so schlimm, da the Hirsch Effekt nach dem Ende der Holon-Serie generell viel an ihrem Sound herumschraubten und dabei auch sehr coole neue Ideen entstanden. Mit Kollaps zeigt sich jetzt aber erstmal so richtig, wo die Reise die ganze Zeit hinging. Und wenn man mich fragt, bin ich von dieser Erkenntnis gerade sehr enttäuscht. Denn mehr denn je gehen die Hannoveraner auf diesem Album in die Richtung des amerikanischen Prog- und Math-Metal von Gruppen wie Between the Buried & Me, Coheed & Cambria oder Periphery, was an sich ja kein Beinbruch ist, sich bei ihnen aber irgendwie sehr gewöhnlich anhört. Abgesehen von der technischen Flexerei und der kaskadischen Härte vieler Riffs haben the Hirsch Effekt hier nicht viel, was diesen Style für sie irgendwie personalisiert und zumindest im direkten Vergleich zu ihren Vorgängern klingen sie hier deutlich weniger kreativ. Das einzige, was als progressives Kontrastprogramm hier verbleibt, sind mehr oder weniger die Elemente ihres Sounds, die ich schon vorher blöd fand. Wittstock klingt noch mehr nach Alligatoah als je zuvor, sinfonische Einschübe wie Moment sind reiner Selbstzweck und bei weitem nicht so komplex wie früher, und dass mit Anoki hier ein Rapper drei völlig auswechselbare Zeilen einwirft, wirkt wie ein äußerst gewolltes Outside the Box-Gimmick. Hirsch Effekt wollen weiterhin cool und experimentell sein, über mehr als Add-Ons kommen sie diesmal aber nicht hinaus. Und wo solch wilde Ideen einst organischer Teil ihres Songwritings waren, wirken sie hier oft wie billig eingefügte Extras, die der Band ihren Status als "experimentelle Rockband" sichern müssen. Und das ist im Endeffekt sicher das schlimmste an Kollaps: Auf ihren vergangenen Alben konnte ich the Hirsch Effekt weiß Gott einiges vorwerfen, doch niemals, dass sie gewöhnlich gewesen wären. Diesen Begriff im Zusammenhang mit dieser Gruppe überhaupt zu benutzen, wäre mir nicht eingefallen. Doch irgendwie ist das hier schon ein bisschen die Richtung, in die sich der Wagen bewegt. Klar ist der Kontext dabei vor allem die eigene Diskografie der Hannoveraner und würde man diese Songs hier mit Sachen von Periphery vergleichen, wären das immer noch Äpfel und Birnen. Mein Argument ist aber vor allem auch, dass es mit der großartigen Kreativität der Band bergab geht und hier zwar lange nicht alles verloren ist, aber ich das hier zumindest sehr mittelmäßig finde. Allermindestens ist Kollaps die schwächste Platte ihrer bisherigen Karriere und weist den Weg in eine Richtung, die unangenehm nach Djent-Gefrickel und Dream Theater müffelt. Und für diese Ecke der Metal-Welt wären sie dann auf jeden Fall doch zu schade.



Hat was von
Coheed & Cambria
the Aftermath: Ascension

the Dear Hunter
IV: Rebirth in Reprise

Persönliche Höhepunkte
Moment | Torka | Kollaps | Agera

Nicht mein Fall
Noja | Domstol


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