Donnerstag, 28. Mai 2020

Die große Freiheit



[ langatmig | pretenziös | opulent ]

Es ist ja im allgemeinen eine recht begrüßenswerte Sache, wenn sich Popbands so entwickeln wie the 1975 das in den letzten Jahren gemacht haben. Wenn sie ambitionierter werden, wenn sie keine Experimente scheuen, wenn sie ihre Musik größer denken und wenn sie komplexere Themen für sich entdecken. Denn in den meisten Fällen bedeutet so eine Entwicklung, dass sie musikalisch wesentlich interessanter werden und manchmal sogar, dass sie ein paar richtig gute Platten machen. Und gerade bei dieser bestimmten Band ist die künstlerische Metamorphose, die bei ihnen seit etwa 2017 eingesetzt hat, ebenso überraschend wie notwendig gewesen, drohten the 1975 vorher doch lange in die Irrelevanz einer völlig charakterlosen Ex-Indie-Boyband abzurutschen. Der Stilbruch, den die Briten vor zwei Jahren mit ihrer dritten LP A Brief Inquiry Into Online Relationships vollzogen, ist daher noch immer einer der größten Hauruck-Momente in der jüngeren Pop-Historie und als solcher ebenso verrückt wie kontrovers. Auch ich bin mir in diesem Moment noch immer nicht sicher, was genau ich von dieser letzten Platte eigentlich halten soll und ob ich sie an sich cool finde, Fakt ist allerdings, dass sie für die Band jede Menge Türen öffnete und kreative Möglichkeiten erschloss. Und dass die damals errungenen neuen Freiheiten scheinbar ausgiebig genutzt wurden, zeigte uns in der vergangenen Monaten die Promophase ihres nun erschienenen Nachfolgers. Nachdem das gute Stück ursprünglich schon Ende des letzten Jahres erscheinen sollte und erste Auskopplungen mehr oder weniger direkt nach Online Relationships das Licht der Welt erblickten, wurde die dazugehörige LP zuletzt nicht nur immer weiter nach hinten verschoben, sondern auch öffentlichkeitswirksam abgeändert. Stand Mai 2020 hat Notes On A Conditional Form gute fünf Artwork-Versionen durch, erscheint um gute drei Monate verspätet und hat in dieser Zeit einen Umfang von 22 Tracks in 80 Minuten angenommen. Übertrieben ist das definitiv, aber genau das war laut der Band selbst auch die Absicht bei diesem Album. Und zumindest den Singles nach zu Urteilen, die stilistisch unfassbar streuten, machten the 1975 in dieser großen Spannweite zumindest viele verschiedene Sachen. Im Vorhinein machte mich das natürlich neugierig, gleichzeitig war ich aber auch in Sorge, denn gerade dieser überambitionierte und großkotzige Artpop-Nimbus, der immer mehr sein wollte als er ist, war in meinen Augen schuld an den schlechtesten Attributen von Online Relationships. Was eine anderthalbstündige Riesen-LP, die zwischen Ambient und Industrial alles abdecken wollte, tendenziell eher zu einer bösen Aussicht machte. Und ja, ein bisschen war genau diese Sorge auch berechtigt, denn das Ergebnis ist in seiner Selbstverklärung definitiv nicht ohne. Gleich im selbstbetitelten (!) Opener, der im wesentlichen auf einem Redebeitrag von Greta Thunberg basiert (kein Sample, sondern ein offizielles Feature!), zeigt sich, dass the 1975 mit dieser LP zumindest mal wieder die Welt retten wollen und dafür auch mit Sicherheit die richtigen Songs schreiben. Und dieser ausgeprägte U2-Komplex ist eine nach wie vor schwierige Grundhaltung, die mich an dieser Band kolossal nervt und die hier nicht besser wird. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass sie die Sache musikalisch wenigstens eine ganze Ecke besser angehen und die Songs wesentlich intelligenter schreiben. Vor allem in klanglicher Hinsicht gibt es hier zwar wieder sehr viele verschiedene Einflüsse, doch sind diese nicht so ungeschickt verkleckert wie auf dem Vorgänger, sondern bilden einen durchaus ansprechenden Gesamtkörper, an den einzelne Experimente (zumindest meistens) nahtlos andocken können. Das ist einerseits gut, weil diese Art von fluffigen Popsongs mit orchestralen und elektronischen Sprenklern, wie sie hier dann meistens entstehen, schon beim letzten Mal die besten Momente erzeugten, und andererseits deshalb, weil sich dadurch eine sinnvolle Ästhetik entwickelt. Auf eine abstrakte Weise ist Notes On A Conditional Form den letzten Platten von Drake oder BTS sehr ähnlich, insofern dass es über eine sehr lange Spieldauer eine vergleichsweise chillige, Playlist-hafte Atmosphärik etabliert, die in gewisser Weise auch sehr zeitgenössisch ist. Für den bedeutungsschwangeren Inhalt dieser LP ist das zwar nicht die allerbeste Basis, doch muss ich auch an dieser Stelle sagen, dass sich the 1975 mit dem großen Besteck zurückhalten. Auf vielen Stücken hier geht es eher um die persönliche Einordnung in eine verwirrende Welt, um die Ängste vor der Zukunft und das Ringen mit Überzeugungen, was sich irgendwie natürlicher anfühlt als die paranoiden Black Mirror-Untertöne auf dem Vorgänger. Matt Healy ist zwar noch immer nicht der beste Texter der Welt und seine Gesangsperformance ist mehr als zuvor das schwächste Glied in der immer opulenter werdenden Soundkulisse dieser Gruppe, doch ist auch er weit davon entfernt, diese LP zu ruinieren. Überhaupt muss ich sagen, dass Notes On A Conditional Form insgesamt eine Platte ist, die sehr entgegen meiner ursprünglichen Erwartungen läuft. Mit all dem nachträglichen Hin und Her sowie dieser absolut massiven Spieldauer hatte ich zumindest in den letzten Wochen fast damit gerechnet, dass the 1975 sich hier mächtig verheben und ein mindestens zehnfaches Fear Inoculum-Szenario heraufbeschwören würden. Stattdessen schafft es die Platte überaus erfolgreich, die meisten meiner Kritikpunkte am letzten Album auszubügeln und mir das neue Kreativkonzept der Briten ein bisschen schmackhafter zu machen, wobei die immense Überlänge sogar zu ihrem Vorteil funktioniert. Wirklich begeistert bin ich hiervon immer noch nicht und ein Meisterwerk ist das hier wahrscheinlich nur für sie selbst, doch die Strukturen sind hier die richtigen. Was dieser LP zu einem echten Favoriten fehlt sind wenig mehr als etwas peppigeres Songwriting, eine frischere Performance an manchen Stellen und ein bisschen weniger Pathos insgesamt. Und zumindest zwei Dinge davon liegen absolut im Möglichkeitsradius dieser Band. Ein großer Wurf von the 1975 ist also zum Zeitpunkt wahrscheinlicher als das Gegenteil. Wobei man bei bei ihnen inzwischen nie genau weiß, was man erwarten soll. Denn zumindest das brechen von Vorurteilen haben sie mittlerweile perfektioniert.


Hat was von
BTS
Map of the Soul: 7

James Ferraro
Human Story 3

Persönliche Highlights
the 1975 | the End (Music for Cars) | Frail State of Mind | Streaming | the Birthday Party | Yeah I Know | Jesus Christ 2005 God Bless America | Tonight (I Wish I Was Your Boy) | Shiny Collarbone | If You're Too Shy (Let Me Know) | Having No Head | What Should I Say | Don't Worry

Nicht mein Fall
Roadkill


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