Montag, 25. Mai 2020

Bitte transzendieren Sie

[ zerfasert | meditativ | filigran | experimentell ]

Ich muss zugeben, ich war in der Vergangenheit nicht ganz fair mit Moses Sumney. Zumindest in der Weise, dass ich ihm lange nicht die Aufmerksamkeit habe zukommen lassen, die er sicherlich verdient gehabt hätte. Als vor etwa drei Jahren sein gefeiertes Erstlingswerk Aromanticism erschien und alle plötzlich über den Briten zu reden schienen, hätte es für mich eigentlich genügend Gründe gegeben, mir seinen Output etwas ausführlicher anzuhören und obwohl ich die Platte damals hörte, geschah das eher sehr oberflächlich und nicht mit der Intensität, die ein so anspruchsvolles Projekt eigentlich verlangt hätte. Denn schon da zeigte sich Sumney nicht nur als ein sehr talentierter moderner Soulkünstler, sondern vor allem auch als einer, der viele interessante Einflüsse in seiner Musik vereinte. Und es spricht ja schon irgendwie für sich, wenn gleich seine zweite LP drei Jahre später praktisch ein Doppelalbum ist. Wobei das auch nicht ganz stimmt. Wie auch einige andere Künstler*innen in dieser Saison hielt es Sumney für eine gute Idee, die Veröffentlichung von Græ seriell zu splitten und faktisch zwei separate Releases daraus zu machen. Wobei der erste Teil, der immerhin gute zwei Drittel des gesamten Albums ausmacht, bereits im Februar erschien und das Anhängsel von acht zusätzlichen Tracks am vorletzten Freitag folgte. Für wie sinnvoll ich so eine Aufteilung erachte, sei an dieser Stelle mal dahingestellt, Fakt ist aber, dass der Brite damit einen ganz schönen Brocken an neuer Musik auf Græ versammelt. Mit 20 Stücken in 65 Minuten ist diese LP schon von ihren Dimensionen her ziemlich ambitioniert und man kann definitiv sagen, dass Sumney diese Überlänge auch zu nutzen weiß. Stilistisch ist seine Hauptrichtung zwar nach wie vor eine Art experimenteller Soul in der Tradition von Frank Ocean, Serpentwithfeet oder Solange, doch gibt es darüber hinaus überall Anklänge von Progressive Rock, Jazz, Ambient, Folk und Klassischer Musik, die die Ästhetik dieser Platte erfolgreich transzendieren. Es hilft dem Gesamteindruck dabei immens, dass Græ über Weite Teile hinweg sehr fließend ist und es viele eingeschobene Vignetten und Interludes gibt, sodass einzelne Songs sehr effektiv ineinander übergehen. Dabei ergibt sich jedoch auch nicht der Effekt, dass es klare Kernsongs gibt, um die sich ein bisschen experimentelles Gewaber ansammelt, sondern fast die gesamte Platte, die sehr unstet und wenig greifbar ist. Oft sind es gerade länge Stücke wie Gagarin oder Bystanders, die am wenigsten definiertes Songwriting vorweisen und sich stattdessen viel Zeit für ausgiebige Klangexperimente nehmen. In anderen, wie Polly oder In Bloom (beides keine Nirvana-Cover), gibt es zwar klassischere Kompositionsstrukturen, doch sind diese klanglich sehr zurückhaltend und träge, sodass auch sie alles andere als eingängig sind. Wo das erstmal klingt wie ein Manko, ist gerade diese Ungreifbarkeit in meinen Augen die größte Stärke dieses Albums. Denn durch diese Ästhetik erhält die LP in vielen Momenten eine sehr sinfonische, meditative Qualität, bei der auch kleinen musikalischen Ideen viel Platz eingeräumt wird. Nicht selten hat das ganze dann auch etwas sehr opernhaftes, bei dem vor allem Moses Sumneys atemberaubendes Gesangstalent sehr schön zutage tritt. Er ist es auch, der vielen dieser fahrigen Songs extrem viel Charakter einhauchen kann, der Græ immer wieder spannend macht und dieses Ergebnis vom Output eines James Blake oder Yves Tumor unterscheidet, bei denen ähnliche Ansätze inzwischen sehr pretenziös klingen. Dem Briten ist definitiv nicht abzusprechen, dass er dem Genre-Etikett "Soul" alle Ehre macht und hier sehr viel Emotionalität und Leidenschaft einbringt. Und auch wenn sich die Platte gerade im zweiten Teil bei so viel bewusster Langsamkeit etwas zieht und einige Interludes vielleicht nicht zwingend notwendig gewesen wären, bin ich vom Gesamtergebnis doch ziemlich begeistert. Nicht nur weil diese LP handwerklich extrem gut gemacht ist, es viele tolle Details gibt und Moses Sumney verdammt viel Talent hat, sondern auch, weil seine musikalische Ästhetik etwas ist, das man nicht ständig hört. Es ist erfrischend, im momentan so überfluteten Bereich Neo-Soul und R'n'B, bei dem viele Experimente auch schief gehen, jemanden zu hören, der tatsächlich so vieles richtig macht und ein so breites Spektrum bedient. Wodurch man ihn am Ende des Tages nicht nur in einen Topf mit Frank Ocean und James Blake stecken muss, sondern auch mit Leuten wie Dave Longstreth, Joanna Newsom, Arca, Leland Whitty oder Radiohead. Und das hier ist definitiv die Platte, über die man später reden wird, wenn es um den ersten großen musikalischen Höhepunkt dieses Künstlers geht, denn hier zeigt sich wirklich, was der Typ kann. Was es mich definitiv nicht bereuen lässt, dieses Mal aufmerksamer gewesen zu sein.



Hat was von
Serpentwithfeet
Soil

James Blake
the Colour in Anything

Persönliche Höhepunkte
Cut Me | In Bloom | Virile | Gagarin | Jill/Jack | Colourour | Polly | Two Dogs | Bystanders | Me in 20 Years | Bless Me

Nicht mein Fall
Lucky Me


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