Sonntag, 3. Mai 2020

Infinity Opens the Door

[ live | energisch | rhythmisch ]

Dass King Gizzard & the Lizard Wizard eine ziemlich gute Liveband sind, kann ich glücklicherweise inzwischen aus erster Hand bezeugen und dass sie als solche einen mehr als guten Ruf genießen, hat seine Gründe. Shows der Australier haben erfahrungsgemäß eine sehr spezielle Energie, die ich bisher bei keiner anderen Gruppe erlebt habe und die ich so auch von diversen anderen Konzertgänger*innen bestätigt bekommen habe. Doch selbst wenn dem nicht so wäre, war ein Live-Album von ihnen 2020 schon lange überfällig. Zwar findet man von diversen Gigs der Band seit Jahren Aufzeichnungen auf Youtube, die auch gar nicht übel sind, doch ist es immer etwas anderes, wenn die Akteure selbst so eine Veröffentlichung angehen. Besonders natürlich deshalb, weil King Gizzard bei dieser LP wie auch bei ihren meisten Releases ein kleines Extra in der Hinterhand haben, das man nicht sofort erwartet. Und das fängt schon damit an, dass Chunky Shrapnel keineswegs ihr erstes Live-Album in dieser Saison ist. Still und heimlich erschienen bereits im Januar dieses Jahres ganze drei Komplettaufnahmen als Benefiz-Veröffentlichungen, jeweils von einem Gig in Paris, Brüssel und Adelaide, die man auf ihrer Bandcamp-Seite für den Spottpreis von 10 Australischen Dollar (umgerechnet etwa 6 Euro) herunterladen kann. Deshalb eine Sache direkt vorweg: Wer die puristische Erfahung eines Gizzard-Auftritts auf Konserve haben will, ist mit diesen Releases unter Umständen besser bedient als mit Chunky Shrapnel, denn dort gibt es jeweils ein Konzert in voller Länge und ungeschnitten, was definitiv echter und reinkultureller ist. Die hier vorliegende Platte ist eher das Erlebnis für diejenigen, die nicht gleich sechs Stunden unbearbeiteter Live-Mitschnitte brauchen, sondern denen ein großer, guter Querschnitt reicht. Außerdem ist sicher relevant, dass Chunky Shrapnel im Gegensatz zu den reinen Bandcamp-Alben vom Januar auch auf Vinyl erscheint und somit sammelbar ist. Was aber nicht bedeutet, dass das hier einfach nur eine schlaue Verkaufsstrategie ist. Denn was King Gizzard auf den hier verbleibenden 76 Minuten versammelt haben, ist tatsächlich die bestmögliche Akkumulation toller Konzert-Momente plus ein bisschen mehr. Wobei die Aufmachung erstmal ziemlich verwirrend sein kann. Die digitale Version der Platte teilt sich in drei grobe Abschnitte, die jeweils eine LP-Seite repräsentieren und etwa 30 Minuten Material umfassen. Das komische dabei ist, dass jeder Abteilung ein Intro vorangestellt wird, das nachträglich im Studio eingespielt ist. Das kann zunächst ein bisschen komisch sein, ist als Aufwärmung aber gar nicht so verkehrt und separiert die einzelnen Kapitel ziemlich wirkungsvoll. Denn diese sind von der Dynamik her tatsächlich ziemlich unterschiedlich. Wo Part Eins in einer Art laufendem Crescendo Spannung und Intensität der Tracklist langsam anzieht (das klangliche Spektrum geht dabei vom jazzigen the River bis zum psychedelischen Mega-Stampfer Murder of the Universe), besteht der zweite im wesentlichen aus Performances von Songs ihres aktuellen Albums Infest the Rats' Nest (bis auf Let Me Mend the Past von 2013) und Teil drei aus älterem Material, Polygondwanaland-Tracks, sowie einem 20-minütigen Riesenmedley namens A Brief History of Planet Earth als Closer. Das alles ist schon ganz beachtlich und die Songs selbst sind bekanntermaßen großartig, auch wenn verhältnismäßig wenige offensichtliche Hits ihren Weg auf dieses Album finden. Wirklich krass und besonders wird diese LP aber vor allem dadurch, wie sie produziert ist. Denn obwohl fast alle Aufnahmen hier von individuellen Konzerten stammen und nur selten ein größerer Anteil aufeinander folgender Tracks von einer Show verwendet wurde, hört sich diese Platte an, als wäre sie an einem Abend aufgenommen worden. Die Übergänge sind organisch, die Dynamik wächst wie bei einem echten Gig mit der Zeit und Tracklist und Schnitt funktionieren so, dass man denkt, die Band würde einfach weiterspielen. Die Sahnehaube des ganzen setzen King Gizzard sich selbst dabei in A Brief History of Planet Earth auf, dessen Bestandteile insgesamt auf vier verschiedenen Konzerten zusammengesetzt wurden, wobei man an keiner Stelle merkt, wann eine Aufnahme beginnt und die andere endet. Und letztlich ist genau diese Herangehensweise nicht nur technisch brilliant, sondern gibt auch genau die Erfahrung wieder, die ich von den Konzerten der Australier kenne: Dieses Erfassen eines unerbittlichen, nicht enden wollenden Grooves, der über gefühlte Stunden hinweg gnadenlos pumpt und arbeitet. Mit dem Unterschied, dass hier nur die besten dieser Performances auf einer Platte versammelt wurden und somit der perfekte Optimalzustand einer Gizzard-Show auf Platte gebannt wird. Und spätestens an dieser Stelle muss man sagen, dass die Band ihren Soll mal wieder übererfüllt. Jede*r andere Musiker*in in ihrer Situation hätte wahrscheinlich ganz einfach eine oder zwei Shows aufgenommen, diese ein wenig gesichtet und das Ergebnis dann veröffentlicht. Diese Jungs sind aber wie immer anders drauf. Nicht nur machen sie sich die Mühe, ihre halbe Europatour für die Nachwelt aufzuzeichnen, sie veröffentlichen auch noch drei dieser Konzerte als kleines Surplus für den schmalen Geldbeutel. Mit dem bestreben, für das große Vinyl-Release schlussendlich die goldene Quintessenz zu vereinen, für die sich die umgerechnet etwa 20 Euro (was immer noch ein Spottpreis ist!) dann auch richtig lohnen. Das ist erneut ein wahrhaftiger Ehrenmann-Move von King Gizzard und nimmt dem Geschäft mit den Live-Alben, das sonst immer etwas sehr gieriges hat, sehr viel von seiner Geldschneiderei. Ganz davon abgesehen dass es ihr bestes Stück Musik seit ungefähr Gumboot Soup sein dürfte. Und dabei ist es streng genommen nicht mal ein vollweriges neues Album.



Hat was von
Oh Sees
A Weird Exits

Pauwels
Poena Cuelli

Persönliche Höhepunkte
the River | Road Train | Murder of the Universe | Planet B | Parking | Venusian 2 | Hell | Let Me Mend the Past | Horology | A Brief History of Planet Earth

Nicht mein Fall
-


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen