Dienstag, 30. März 2021

Lass es uns nochmal versuchen

Xiu Xiu - OH NO XIU XIU
Oh No
Polyvinyl
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ schräg | kunstig | alptraumhaft ]

Dass ich die Arbeit von Xiu Xiu seit inzwischen gut sechs oder sieben Jahren mehr oder weniger vollständig ignoriere, war zu einem gewissen Zeitpunkt während der letzten Dekade eine durchaus bewusste Entscheidung. Eine Entscheidung, die ich bereits in einigen Fällen getroffen habe, wenn ein Act mich auch nach mehrmaligen Anläufen nicht von sich überzeugen konnte. Und im Falle dieser Band ist das tatsächlich noch milde formuliert. Zwischen 2012 und 2014, als ich mit dem Schreiben anfing, hörte ich ihre drei jeweils aktuellen Platten Always, Nina und Angel Guts: Red Classroom, von denen ich eigentlich alle als ziemlich furchtbar empfand. Und obwohl mein musikalischer Horizont damals definitiv noch nicht seine heutige Weite hatte und ich inzwischen womöglich etwas weniger drastisch darüber denken würde, wäre das grundlegende Ergebnis wahrscheinlich das gleiche. Ich halte mich für einen sehr optimistischen und wohlwollenden Musikfan, weshalb es schon etwas heißen muss, gleich drei Alben einer Band so grausig zu finden. Und seitdem hatte ich folglich beschlossen, dass es sich mit Xiu Xiu einfach nicht weiter lohnen würde. So weit so gut. Doof nur, dass seitdem der komplette Rest der Indiewelt total auf sie abzufahren scheint und sie mit jeder neuen Platte ein bisschen beliebter werden. Als ich die Kalifornier seinerzeit beseite legte, hatten sie zwar bereits einen respektablen Leumund als intellektuelle Kunstband für edgelordige /mu/-Nerds, der inzwischen aber nochmal wesentlich größer und umfassender geworden ist. Spätestens mit den von der Kritik fetischisierten letzten beiden Platten Forget und Girl With Basket of Fruit sind auch die weniger radikalen Internet-Kids nachgezogen, die Xiu Xiu in den experimentellen Artpop-Olymp lobpreisen und ihr eine unantastbare überkünstlerische Aura verpassen, die beeindruckend ist. Was eine weitere Nicht-Beschäftigung mit der Band natürlich schwierig macht und mich nun doch nochmal mein Schweigen hat brechen lassen. Mit dem Resultat, dass ich tatsächlich mit dieser Musik warm zu werden scheine und zumindest Teile dieser Platte ziemlich genossen habe. Oh No ist anhand dessen, was ich von ihrem sonstigen Material bisher gehört habe, eine ihrer zugänglicheren LPs und rühmt sich vor allem mit einer ganzen Reihe prominenter Gastperformances. Sharon van Etten ist hier, Greg Saunier von Deerhoof, Twin Shadow, Owen Pallett, Chelsea Wolfe und die Liars, um nur ein paar zu nenen. Wie groß deren Beitrag in den individuellen Songs letztendlich ist, fällt insgesamt sehr unterschiedlich aus, wobei eines mit Sicherheit gesagt werden kann: In keinem Moment wirkt das hier aber wie ein Gorillaz-mäßiger kreativer Think Tank oder ein Rein-raus-Sessionprojekt, sondern immer eindeutig wie die Vision von Xiu Xiu. Allerdings ist auch diese hier sehr unstet und vielschichtig, zumal die Band uns hier durch ein seltsames Gruselkabinett an Artpop-Alpträumen führt. Da gibt es Stücke wie Goodbye for Good, Fuzz Gong Fight oder den Titelsong, die sehr verschroben, düster und kunstig anmuten, seltsam-witzige Augenblicke wie den Closer Ants oder einige teils memetische Lyrics von Sänger Jamie Stewart, aber auch unerwartete Banger wie Rumpus Room, die mich sehr an die Talking Heads oder David Bowie erinnern. Strukturell chaotisch wirkt Oh No dabei selten, was aber hauptsächlich daran liegt, dass es ein gewisses Chaos als naturgegeben wahrnimmt. Wenn in One Hundred Years Chelsea Wolfes Stimme mit Autotune zugepappt wird oder A Bottle of Rum klingt wie ein Erwachsenenrock-Brett aus den Achtzigern, gehört da genauso zum Konzept wie das völlig außer Kontext stattfindende Spoken-Word-Gedicht von Susanne Sachsse im Titeltrack. Nicht wenige Momente haben dabei etwas aberwitzig-grotestkes, weshalb es mich nicht wundert, dass auf diese Band vor allem die Shitpost-Legionen von /mu/ abfahren. Und ja, auch ich finde das irgendwie cool. Die Variante von kunstigem Avantgardismus auf Oh No ist definitiv eine, die mich persönlich anspricht und obwohl dabei einige songwriterische und performative Entscheidungen noch nerven (die ich aber meistens eher langweilig finde als verwirrend oder anstrengend), stört mich zumindest nicht mehr das eigentliche Konzept der Gruppe. Ob das daran liegt, dass ich meinen Musikgeschmack verändert habe oder doch eher Xiu Xiu ihre Musik, kann ich nicht so richtig beurteilen. Fakt ist allerdings, dass auch ich gerade auf dem besten Weg bin, einer der Leute zu werden, die diese Band online abfeiern. Hier ist der Moment zwar noch nicht ganz gekommen, doch sehe ich hinter den Schönheitsfehlern auf diesem Album etwas, das mich grundsätzlich sehr faszinieren könnte. Und ich hasse es, das zu sagen, aber vielleicht sollte ich doch nochmal ihre letzten paar Platten auschecken. Zumindest die, die ich wirklich noch nicht gehört habe.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
I Cannot Resist | Rumpus Room | One Hundred Years | A Classic Screw | It Bothers Me All the Time | Saint Dymphna | A Bottle of Rum | Ants

Nicht mein Fall
Goodbye for Good | Knock Out

Sonntag, 28. März 2021

Schwein gehabt

Armand Hammer & The Alchemist - Haram ARMAND HAMMER & THE ALCHEMIST
Haram
Backwoodz Studios
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ intellektuell | ungemütlich | düster ]

Man könnte jetzt argumentieren, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich die musikalische Freundschaft, die zwischen Billy Woods, Elucid und the Alchemist schon seit etlichen Jahren besteht, mal in so einem größer angelegten Projekt äußert und dass die Existenz dieser LP an sich eigentlich keine Überraschung ist. Trotzdem ist Haram als erste albumübergreifende Kollaboration dieser beiden Projekte für mich schon personell etwas sehr besonderes. Ganz einfach deshalb, weil beide hier beteiligte Parteien in meinen Augen zu den besten Sachen gehören, die im Hiphop der letzten Dekade passiert sind und auch ihre gemeinsamen Schnittpunkte in den vergangenen Jahren schon ziemlich cool waren. Aus meiner persönlichen Perspektive treffen auf dieser LP einer der besten Produzenten des Genres überhaupt auf zwei der besten MCs des neuen Jahrtausends, die hier einfach alle für sich eine Wagenladung an Talent mitbringen. Und da haben wir noch nicht mal darüber geredet, dass hier auch Gastparts von Earl Sweatshirt, Quelle Chris und Talib Kweli-Sohnemann Amani dabei sind. Erwartungstechnisch war Haram für mich also eine der wirklich großen Nummern der laufenden Saison, zumindest was Rap angeht. Wie so oft sind es aber gerade diese Projekte, von denen man umso schneller enttäuscht werden kann und die es gerade ihrer verheißungsvollen Vorzeichen wegen echt schwer haben. Und tatsächlich war mein erster Eindruck des Albums vor ein paar Tagen, dass es nicht ganz das hielt, was die Namen darauf versprachen. Soll heißen, dass das hier ein gutes Album ist, für das man aber viel Geduld und guten Willen braucht. Wobei das im Fall von Armand Hammer ja auch kein wirklich neues Phänomen ist. Schon ihre letzte LP Shrines vom vergangenen Sommer gab mir den Eindruck, nicht nur unnötig kompliziert zu sein, sondern absichtlich irreführend und herausfordernd. Und wo das teilweise cool war, wenn man erstmal dahinter kam, war es doch definitiv anstrengend, den Weg dahin zu finden. Eine Eigenschaft, von der ich gehofft hatte, sie würde von jemandem wie Alchemist ein wenig ausgekontert, der es normalerweise schafft, selbst den klobigsten Nerdrapper zugänglich klingen zu lassen. Doch scheint dieser sich hier vom experimentellen Vibe der beiden MCs mehr oder weniger mitziehen zu lassen. Die Beats auf Haram gehören zu den finstersten und ungemütlichsten, die ich von seiner Seite jemals gehört habe, was zu Armand Hammers Inhalten sicherlich passt, diese Platte aber mal wieder zu keiner einfachen macht. Nach mehreren Hörduchläufen kann ich inzwischen die Qualitäten in diesem Ansatz erkennen, nur liegen diese tief vergraben. Hier mit der Erwartung eines gemütlichen Boombap-Albums der Marke Alchemist heranzugehen, könnte also falscher nicht sein. Geworden ist es eher ein weiteres sehr gutes verkopftes und intellektuelles Armand Hammer-Album, geprägt von finsterer Poesie, grantigem Realismus und tausend geekigen Verweisen, die man erstmal googeln muss. Da geht es um die Steuern von Wesley Snipes, Boxkämpfe aus den Achtzigern, Ölpreise in Venezuela und rassistische Strukturen in der CIA. Ein wirklich bindendes Thema erkenne ich dabei nicht und oft sind beide MCs auch wieder sehr abstrakt unterwegs, was vielleicht erstmal verwirrend ist. Das Resultat sind aber erneut haufenweise ziemlich geniale Parts wie die erste Strophe von Billy Woods in Indian Summer oder der abgefahrene Flow von Elucid in Scaffolds, die mal wieder das lyrische Genie dieser Typen zeigen. Generell bin ich dabei das erste Mal der Meinung, dass Elucid die interessanteren Texte schreibt, wobei das definitiv nicht heißt, dass Billy Woods nachgelassen hat. Auch die insgesamt fünf Features hier sind allesamt nicht schlecht, tragen allerdings auch nicht mehr zur LP bei als die beiden Hauptakteure, die durchweg auf Hochtouren laufen. Die wesentliche Leistung von Producer Alchemist ist letztendlich vor allem, dem gesamten Projekt seine klangliche Form zu geben. Sicher, die Beats hier mögen nicht so einfach zu händeln sein wie auf seinen sonstigen Platten, doch habe ich dafür das erste Mal auf einer LP von Armand Hammer das Gefühl, ein rundes Gesamtwerk zu hören. Vor allem der getragene Closer Stonefruit setzt diesbezüglich nochmal ein wichtiges Zeichen und gibt der ganzen Sache ein vollendetes Album-Gefühl. Was alles in allem dafür sorgt, dass ich unterm Strich doch sehr zufrieden mit Haram bin. Zwar schreiben die New Yorker hier erneut eine Platte, die unendlich kompliziert ist und deshalb sicherlich einigen nicht gefallen wird, doch sind die Schätze am Grund des Sees aus verbogenen Beats und verschwurbelter Gesellschaftskritik es durchaus wert. Platten von Armand Hammer sind im besten Fall welche, die mir über lange Zeit hinweg Stoff zum Nachdenken geben und diese hier fühlt sich so an wie eine weitere davon. Und für Alchemist hat dieses Album vor allem den Charakter einer klanglichen Entgrenzung, die auf ihre Weise auch mal ganz interessant war. Man muss es eben nur wollen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Roaches Don't Fly | Black Sunlight | Indian Summer | Aubergine | Scaffolds | Falling Out the Sky | Wishing Bad | Chicharonnes | Squeegee | Stonefruit

Nicht mein Fall
God's Feet

Mittwoch, 24. März 2021

Cirque du Kauz

Chad VanGaalen - World's Most Stressed Out GardenerCHAD VANGAALEN
World's Most Stressed Out Gardener
Sub Pop
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ psychedelisch | verspult | garagig ]

Ich habe auf diesem Format bisher wenig über Chad Vangaalen geschrieben, doch ganz heimlich ist er seit Jahren einer der Künstler im Bereich des psychedelischen Garagenrock, die ich mit großem Interesse verfolge. Wobei es bisher vor allem seine Arbeit als Produzent für Andere war, mit der er sich bei mir sehr beliebt machte. Als Mann hinter den Reglern war er in der letzten Dekade unter anderem an einigen großartigen Platten von Women und den Preoccupations beteiligt, sein persönliches Meisterstück ist in meinen Augen allerdings das 2014 erschienene Debütalbum von Alvvays, das mittlerweile bombenfest zum engeren Kanon meiner ewigen Lieblingsplatten gehört. Als Songwriter trat Vangaalen dabei allerdings lange in den Hintergrund und wurde eher unter Ferner liefen behandelt. Seine Soloplatten, die er bereits seit Mitte der Zwotausender veröffentlicht und von denen ich zumindest die letzten beiden kenne, waren zwar nie wirklich mies oder mittelmäßig, nur immer irgendwie die nächstschlechtere Alternative zu Leuten wie Ty Segall oder Kurt Vile. Weshalb ich jahrelang darauf wartete, dass von ihm vielleicht mal eine LP kommt, die ein bisschen mehr Bums und Identität mitbringt. Die Art von LP, die World's Most Stressed Out Gardener nun zumindest ein bisschen geworden ist. Vor allem insofern, als dass Vangaalen mit diesem Album das erste Mal wirklich die Blicke auf sich zieht und Spannungen erzeugen kann. Ob man das Ergebnis dann auch gut findet, ist letztendlich eine andere Frage. Wobei er meinen Geschmack in den meisten Momenten durchaus trifft. Weg vom groovig-chilligen Garagenrock der Vorgängerplatten orientiert sich der Kanadier hier vor allem an den psychedelischen Weirdo-Songwriter*innen der frühen Siebziger wie Syd Barrett und Tim Buckley, stellenweise aber auch an Elementen von Krautrock, Freak Folk, Proto-Elektro und Hypnagogic Pop der Marke Animal Collective (zumindest der Zwotausender-Variante), was für eine ziemlich bunte Mischung sorgt. So gut wie jeder Track ist dabei auf eine andere Weise schrullig und abgefahren und ätherische Synth-Flächen wie Earth From A Distance baut Vangaalen mit der gleichen Souveränität wie lärmige Schepper-Orgien (Golden Pear) und motorische Kraut-Jams (Nightwaves). Dass die Platte psychedelisch klingt, meine ich dabei nicht so sehr in Sinne von umhüllenden Soundwänden und tausendfach geschichteten Klangmahlstöhmungen, sondern eher so, dass diese Musik klingt wie auf ein paar richtig guten Pappen komponiert. Die Strukturierung der LP und wie so viele verschiedene Stile zusammenfinden erinnert mich sehr an das letzte Album von Jeff the Brotherhood und ist auch auf die gleiche Weise cool. Der Ansatz ist vielleicht nicht ganz so fließend und nicht alle Songs hier grooven so stark, dennoch liegt beiden die gleiche Kompetenz zugrunde. Und wenn es um Lyrics geht, ist Vangaalen sogar noch einen Ticken besser. Zwar ergibt fast keine einzige Zeile auf diesem Album irgendeinen Sinn, doch hat die Art, wie in Samurai Sword oder Golden Pear verpeilte Satzhülsen zusammengeschraubt werden, eine sehr kauzige Poesie. Und auch wenn das heißt, dass die Gefüge auf der Platte grundsätzlich eher lose sind und eine fokussierte Ästhetik darauf nicht stattfindet, ist es doch mit Abstand das beste Stück Musik, das dieser Typ hätte machen können. Zum einen weil es spannend und lustig ist, aber auch weil Chad Vangaalen die Techniken des verdaddelten Weirdo-Songwritings in Form bringen kann. Wobei ich mich spätestens hier frage, warum er das nicht schon die ganze Zeit getan hat.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11

Persönliche Höhepunkte
Flute Peace | Earth From A Distance | Nightwaves | Plant Music | Nothing is Strange | Inner Fire | Golden Pear | Nightmare Scenario | Samurai Sword | Water Brother

Nicht mein Fall
Spider Milk

Dienstag, 23. März 2021

One Trick Benny

Benny the Butcher & Harry Fraud - The Plugs I Met 2BENNY THE BUTCHER & HARRY FRAUD
the Plugs I met 2
Black Soprano Family, LLC | SRFSCHL, LLC
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
[ kriminell | chillig | erzählerisch ]

Das alte Jahr ist gegangen und ein neues gekommen und wir haben nach dem letzten Dezember irgendwie alle unsere drei Kreuze macht, bei den Jungs und Mädels von Griselda hingegen scheint allerdings noch immer ein bisschen 2020 zu sein. Zumindest in Sachen Releases sieht es nicht so aus, als ob es seit dem Jahreswechsel irgendwelche Verschnaufpausen und Bilanzphasen gegeben hätte. Nach dem großen Brocken, den Benny the Butcher noch im November mit Burden of Proof auf uns losließ, dauerte es im Januar nur wenige Wochen, bis von seinem Cousin und Labelpartner Conway die erste LP erschien. Und mit the Plugs I Met 2, das direkt wieder von Benny kommt, scheint es ganz so, als wollten die New Yorker auch 2021 den Grind aufrecht erhalten, der ihren Output zuletzt so einzigartig machte. Wobei sich mit dieser besonderen Platte für mich persönlich auf gewisse Weise ein Kreis schließt. Der erste Teil von the Plugs I Met war vor anderthalb Jahren sowas wie mein Erstkontakt mit dem Label und auch das erste Mal, das ich von der Musik dieser Gang hin und weg war. Seitdem ist viel passiert und vieles hat sich verändert, vor allem scheinen sich seitdem aber die engen Verbindungen innerhalb der Crew ein bisschen aufgedröselt zu haben. Einen starken Zusammenhalt gibt es bei Griselda zwar noch immer und mit den familiären Banden der drei Hauptakteure hat das ganze nach wie vor etwas von musikalischen Clan-Strukturen, doch zeichnet sich langsam ab, dass von den Rappern hier auch eigene Wege gegangen werden wollen. Und gerade Benny war in dieser Hinsicht schon eine Weile derjenige, der am weitesten vom Stamm fiel. Seine letzte Platte war verhältnismäßig glamourös und catchy und wollte definitiv aus dem üblichen ästhetischen Muster des Labels ausbrechen. Eine Richtung, in die auch Plugs 2 weiter ausschlägt. Obwohl die EP als Nachfolger eines der definierenden Projekte für ebendiesen Sound ein gewisses Erbe antreten soll, ist sie vor allem klanglich ein weiter Ausfallschritt. Mit Harry Fraud als offiziellem Partner geht Benny konsequent den Weg des klassisch-souligen Edel-Boombaps, den schon Burden of Proof einschlug, veröffentlicht absichtlich nicht mehr über das Label Griselda und hat auch keinen der MCs darauf in der Gästeliste. Eine Abwendung von den stilistischen und persönlichen Wurzeln seiner Crew sehe ich darin allerdings weniger als den Wunsch nach ein bisschen mehr Beinfreiheit, um ein bisschen zu wachsen. Und rein inhaltlich bleibt ja trotzdem alles beim alten. The Plugs I Met 2 ist in seinen 28 Minuten sehr reich an ehrlichem Storytelling, das tief aus dem düsteren Großstadtdschungel von New York kommt und bei dem es nicht mehr nur darum geht, wer den Längsten hat. Mehr als sonst fokussiert sich Benny auf tragische Geschichten wie in Survivor's Remorse und hält die dicken Eier zumindest ein bisschen zurück. Das ist insofern cool, da es lyrisch mal ein bisschen Abwechslung in seinen Output bringt und die Geschichten hier zum Teil wirklich gut geschrieben sind. Und nach nun fast zwei Jahren voller guter, aber auch sehr gleichförmiger Griselda-Platten ist es zumindest etwas erfrischend, hier nicht immer die gleichen Beatmotive und Adlibs zu hören. Was allerdings nicht heißt, dass diese Platte gleich super kreativ und visionär wäre. Schon immer war Benny unter den drei Haupt-MCs seines Labels der am wenigsten charismatische und gerade auf Burden of Proof wirkte er nicht selten etwas anbiedernd. Plugs 2 hat dieses Problem nicht so, trotzdem fehlen mir manchmal die Aha-Momente. Vor allem Harry Frauds Beats werden nach ein paar Malen ziemlich öde und im Vergleich zu den meisten Griselda-Projekten sind die Feature-Parts (unter anderem von 2Chainz, Fat Joe und French Montana) hier durchweg etwas lahm. Benny selbst ist vor allem dann gut, wenn er eine spannende Geschichte findet, was aber nicht immer der Fall ist. Und ihm stattdessen drei Minuten lang dabei zuzuhören, wie er Fun Facts aus der Biografie von Tony Montana abspult, ist halt auch nicht mehr so geil wie vor zwei Jahren. Grundsätzlich ist Plugs 2 weiterhin ein cooles Projekt mit einigen echt faszinierenden Momenten, das an vielen Stellen aber auch die Befürchtungen bestätigt, die ich im Bezug auf Griselda schon länger habe: Der Style dieser Crew setzt Patina an, die Reizüberflutung mit so vielen Veröffentlichungen nervt langsam eher als zu begeistern und peu à peu scheint den New Yorkern ihre konzeptuelle Monotonie zum Verhängnis zu werden. Und im Falle von Benny zeigt sich auch immer mehr, dass er dieser Schlinge zwar am ehesten zu entkommen versucht, dafür aber womöglich nicht das Talent hat. Zumindest bin ich dieser Meinung so lange, bis von ihm in ein paar Monaten das nächste Brett von ihm kommt und ich mich aufs neue in ihn verliebe.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
When Tony Met Sosa | No Instructions | Survivor's Remorse

Nicht mein Fall
-

Montag, 22. März 2021

Sorry Bro

Justin Bieber - Justice
JUSTIN BIEBER
Justice
Def Jam
2021
 









 
 
 
[ introvertiert | seicht | spirituell ]

Ich hatte dieses Jahr bei der Verleihung der Grammys äußerst wenige ehrliche Hoffnungen und schon als die Nominierungen im letzten Herbst erschienen, wusste ich, dass darunter niemand war, für den ich ernsthaft meine Finger kreuzte. Um eine Sache war ich nach den Awards dann aber trotzdem froh: Dass Justin Bieber mit leeren Händen ausging. Als in meinen Augen schlimmstes Symptom der diesjährigen Preiskandidat*innen war der Kanadier 2021 gleich in mehreren Kategorien nominiert, noch dazu für sein absolut katastrophales Album Changes (beziehungsweise die Singles darauf) und es wäre ein echtes Armutszeugnis seitens der Akademie gewesen, dieses Stück Musik für irgendetwas auszuzeichnen. Vor allem deshalb, weil sich dafür abgesehen von ihnen anscheinend niemand interessierte. Es war die erste LP von Bieber, die kommerziell nicht komplett überzeugte, die Kritiken waren durchweg mies und man könnte fast schon sagen, dass hier zum ersten Mal seit über zehn Jahren der Punkt erreicht war, an dem dieser Typ der Weltöffentlichkeit ein bisschen egal war. Eine Sache, die für das Imperium, das hinter seinem Namen steht, natürlich gar nicht ging. Und hauptsächlich das wird auch der Grund sein, warum fast auf den Monat genau ein Jahr später die nächste LP von Bieber in den Regalen steht, auf dem dieser sich die Leute wieder zurückholen will. Weil er dabei schon immer irgendwie der toxische Arschfreund des Musikbusiness war, kommt er hier auch ahnbar mit dem Move, den alle von ihnen irgendwann bringen: Die Entschuldigung mit Hundeblick, verbunden mit der Beteuerung, sich jetzt definitiv zu ändern. Im Fall von Justice soll der Junge sogar Gott gefunden und hier so eine Art spirituelle Confessions-Art von Platte aufgenommen haben. Eine inhaltliche Ausrichtung, die ich diesem Album keine Sekunde lang abkaufe. Wie schon auf Changes beschäftigen sich die Songs darauf vor allem mit Biebers eigenen Komplexen, gepaart mit ein bisschen demostrativer Selbstgeißelung und ein paar religiösen Verweisen. Nicht wirklich das Material, aus dem ernsthaftes erzählerisches Wachstum gemacht ist. Musikalisch allerdings muss ich sagen, dass Justice zumindest ein bisschen aus den Verfehlungen der Vergangenheit gelernt hat. Statt wie beim Vorgänger auf minimalistische R'n'B-Verschnitte zu setzen, geht Biebers Produktionsteam hier wieder ein bisschen mehr auf Eingängigkeit und Hit-Faktor zu. Stilistisch wird sich dabei sehr offensichtlich an den Synthpop-Sporen des letzten the Weeknd-Albums bedient, aber auch an die sonnigen Styles angeschlossen, die schon die besten Momente auf Purpose vor fünf Jahren ausmachten. Und an nicht wenigen Stellen funktioniert das tatsächlich gut. Die ersten drei Tracks 2 Much, Deserve You und As I Am gehören zu den besten Tracks, die ich von Bieber je gehört habe, ebenso wie die letzten drei. Off My Face macht darüber hinaus mit seiner Akustikballaden-Ästhetik jede Menge her und hat diesen coolen Autotune-Part, der sogar als experimenteller Move durchgeht. Und auch wenn mir ansonsten nicht viele krasse Highlights auffallen, ist Justice doch kompositorisch in jedem Moment spannender als alles auf Changes. Sicher, die teilweise peinlichen Lyrics ziehen viele klanglich coole Stücke ein bisschen runter und der an den Haaren herbeigezogene Bezug auf Martin Luther King nervt kolossal, doch ist das hier wenigstens kein Album, das mich einfach nur langweilt. Vibe-technisch bringt Bieber die Nummer ziemlich gut durch die immerhin 16 Tracks und obwohl nicht alle Features hier super sind (*hust* Chance the Rapper *hust*), tragen sie doch zur Diversität der Platte bei. Was effektiv bedeutet, dass der Kanadier hier direkt nach einem seiner schlimmsten Projekte eines seiner besten gemacht hat. Justice ist keinesfalls ein Album, das bei Justin Bieber plötzlich einen Mehrwert erzeugt, den er vorher nicht gehabt hätte und noch immer gibt es das ziemlich okaye Purpose, doch muss ich auch irgendwie anerkennen, wie er sich hier musikalisch wieder etwas aus dem Sumpf zieht. Nach der Katastrophe von Changes hatte ich wirklich nicht auf viel gehofft, aber das hier ist allen ernstes gar nicht mal so schlecht. Und es macht mir zumindest Hoffnung, dass wir in Zukunft noch gute Musik von diesem Typen bekommen. Ob ich ihn irgendwann inhaltlich erträglich finden kann, ist nochmal eine ganz andere Frage.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
2Much | Deserve You | As I Am | Off My Face | Ghost | Loved By You | Anyone

Nicht mein Fall
Unstable | MLK Interlude | Die for You

Sonntag, 21. März 2021

Trouble in Paradise

Lana Del Rey - Chemtrails Over the Country ClubLANA DEL REY
Chemtrails Over the Country Club
Polydor
2021
 







 
 
[ weltfremd | kitschig | mondän ]

Wenn wir an dieser Stelle über die öffentliche Persönlichkeit und Künstlerin Lana del Rey im Jahr 2021 reden wollen, dann müssen wir meiner Meinung nach erst einmal ein wenig neu definieren, welche Persönlichkeit damit genau gemeint sein soll. Denn seit einiger Zeit scheinen zum ersten Mal in der Karriere der Kalifornieren zwei davon zu existieren. Wobei beide auch immer wieder auf seltsame Weisen konvergieren. Bis vor etwa einem Jahr gab es in der öffentlichen Betrachtung vor allem Lana del Rey als Kunstfigur, von der abgesehen von ihrer Musik selbst wenig nach außen Drang. Sie war ein surreales Fantasiegebilde, die in ihrer Kunst eine kitschige, pompöse Parallelwelt aufbaute, die ganz absichtlich Abstand von tagespolitischen Statements nahm und auch wenig über sich selbst herausgab. Und weil diese ganze alternative Realität und Kunstfigurigkeit so offensichtlich war, dachte auch niemand so wirklich daran, sie für ihre privilegierte Haltung und ihre Abnabelung von der echten Welt zu kritisieren. Wenn überhaupt war es künstlerisch sehr wertvoll, zwischen all den sozialkritischen Statements von Internet-Celebrities und durch Shitstorms erzwungenen Positionierungen diese eine Person zu haben, die ganz absichtlich völlig out of touch war und mit ihrer verklärten Hollywood-Romantik eher Meta-mäßig Botschaften vertrieb, die man erstmal checken musste. Nur bekam diese Fassade vor kurzem einige gehörige Risse, als Lana del Rey eben doch meinte, sich zu etwas äußern zu müssen. Durch einige Posts auf Instagram und anderswo, mit denen die Künstlerin vor kurzem durch latenten Rassismus und Antifeminismus auffiel, erhaschte man plötzlich doch einen Blick auf die Frau hinter dem perfekt inzenierten Charakter, auf den man vielleicht lieber verzichtet hätte. Mit einem Mal war diese Person, die aus ihrem Elfenbeinturm an die frische Luft getreten war, also in dem Rampenlicht, dass sie so lange gemieden hatte: Dass der virtuellen Debattenkultur. Und das auch noch kurz vor Release ihres neuen Albums. Chemtrails Over the Country Club, ihr insgesamt sechstes Studioprojekt unter dem Lana del Rey-Moniker, findet diskussionstechnisch gerade unter völlig anderen Parametern statt als ihre vorigen Platten, was ziemlich weird ist. Auf einmal wird in ihren Texten nach verschlüsselten politischen Botschaften gesucht, der reißerische Plattentitel wird online seziert und den Fans von früher scheint langsam aufzufallen, dass Lana del Rey eine reiche, weiße Frau ist, die in ihren Songs konservative Ideale romantisiert. Meine persönliche Perspektive ist dabei am ehesten eine von Verwirrung über die Reaktion. Klar ist es schade, dass hier erneut ein Promi nicht so woke ist, wie man das vielleicht imaginiert hatte, doch ist ihre Musik schon immer ein Thema gewesen, das damit sehr wenig zu tun hat. Die findet nämlich auch auf dieser neuen LP wieder in der gleichen fluffigen Parallelwelt statt wie schon die fünf davor und wer hier plötzlich auf Statements hofft, wird mehr als Grashalme nicht finden. Wobei ich eins trotzdem zugeben muss: Auch das Universum von Lana del Rey hat sich nach 2020 verändert und bekommt langsam aber sicher die Verwerfungen der echten Gesellschaft zu spüren. Eine Sache, die schon der Titel in meinen Augen wahnsinnig gut einfängt. Hier erleben wir die gleiche heile Welt, die diese Musikerin schon immer skizziert hat, doch gibt es darin plötzlich diffuse Bedrohungen, die alles in leichte Schieflage bringen. Eine Stimmung, die zumindest auf Teilen des Albums auch musikalisch spürbar wird. Gleich der Opener White Dress, der für mich hier einer der besten Songs ist, handelt vom Gefühl verlorener Unschuld, bei dem del Rey auch einmal kurz wirklich persönlich wird. Ich mag dabei besonders die vielen lyrischen Bezüge auf die Farbe weiß, die das ziemlich gut illustrieren (und für mich nichts mit irgendwelchen versteckten White Power-Statements zu tun haben). Der Titelsong übt sich danach klanglich in der Art von softem Hedonismus, den man von den frühen del Rey-Hits klingt, hat aber unterschwellig etwas von Endzeitstimmung, was das leicht bedrohliche Gefühl noch verstärkt. Nach diesem starken ersten Doppel hatte ich tatsächlich große Hoffnung, dass dieses Album auf dem besten Weg ist, das künstlerische Aha-Projekt zu werden, das ich mir von dieser Frau schon lange gewünscht hatte. Das den schon immer einwandfreien Style-Faktor ihrer Musik endlich mit einem Inhalt kombiniert, der ebenso stark ist und qualitativ vor allem über eine Gesamtlänge trägt. Und obwohl die Platte danach immer noch die meiste Zeit okay ist und es tolle Songs wie Yosemite und Wild at Heart gibt, muss ich leider auch diesmal sagen, dass sie es mal wieder nicht geworden ist. Zum großen Teil deshalb, weil sich danach Stück für Stück das lyrische Thema verliert und die Platte in den üblichen lamentierenden Softpop-Trott verfällt. Tulsa Jesus Freak ist furchtbar langweilig und Let Me Love You Like A Woman hat nach den letzten Instagram-Statements eben doch zu viel realistisch-konservatives, um es wirklich als reines Fiktionswerk wahrzunehmen. Erst gegen Ende nimmt Chemtrails Over the Country Club wieder richtig fahrt auf, vor allem mit den letzten beiden Tracks Dance Till We Die und dem Joni Mitchell-Cover For Free. Besonders cool finde ich dabei, wie del Rey im ersteren davon noch darüber singt, dass sie einen Song von Joni Mitchell spielt und das im Closer dann tatsächlich tut (inklusive einer Gastperformance von Weyes Blood, die dem Original gruselig ähnlich ist.). Die unterschwellige Paranoia hat die Platte an diesem Punkt zwar gänzlich verloren, doch findet sie auf diese Weise immerhin einen ziemlich stimmigen Abschluss. Und obwohl die gesamte LP am Ende nur wieder okay ist, bekommt Lanas Songwriting hier zumindest wieder einigen Aufwind. Nach den in meinen Augen völlig versiebten letzten beiden Alben Lust for Life und Norman Fucking Rockwell ist Chemtrails Over the Country Club wenigstens wieder halbwegs interessant und klanglich einigermaßen spannend. Und dass sie hier dieses leicht apokalyptische beziehungsweise konfliktbehaftete Narrativ findet, macht mir ernsthaft Hoffnung, dass sie darauf noch aufbaut. Wobei ich in diesem Fall wieder an dem Punkt wäre, an dem ich jeweils nach Born to Die und nach Honeymoon schon mal war und an dem ich dafür bete, dass die nächste Platte die guten Ideen von dieser nimmt und nochmal fokussierter angeht. Dann hätten wir auch endlich die Platte, auf der Lana del Rey wirklich mal ihr gesamtes Potenzial ausschöpft. Zumindest wenn sie sich bis dahin nicht schon um Kopf und Kragen getwittert hat.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
White Dress | Wild at Heart | Yosemite | Dance Till We Die | For Free

Nicht mein Fall
Tulsa Jesus Freak

Mittwoch, 17. März 2021

This is My Swamp

Eyehategod - A History of Nomadic Behavior
EYEHATEGOD
A History of Nomadic Behavior
Century Media
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ dreckig | rotzig | schmalbrüstig ]

Ich wusste ja bereits, dass die Diskografie von Eyehategod nach der Jahrtausendwende keine besonders üppige ist, doch habe ich erst im Laufe der Recherche für diesen Artikel festgestellt, wie rar sich die Band aus New Orleans in den letzten zwei Dekaden tatsächlich gesät hat. Sicher, zwischen mehreren Auflösungs-, Reunions-, und Umbesetzungs-Querälen in den frühen Zwotausendern, dem Tod von Drummer Joey La Caze, diversen Mitgliedern mit Suchtproblemen und längeren Gefängnisaufenthalten und einer schweren Identitätskrise nach Hurrikan Katrina 2005 hatte die Gruppe über eine lange Zeit auch echt andere Prioritäten zu klären, doch sah es nach 2013 eigentlich so aus, als würde man sich langsam wieder fangen. 2014 kam von ihnen das erste Album seit anderthalb Jahrzehnten und irgendwie wirkte die Gruppe wieder ein bisschen frischer. Nur leider ist seitdem wieder ziemlich wenig passiert. Mit A History of Nomadic Behavior nach sieben Jahren wieder eine neue Platte zu bekommen, ist allein des Seltenheitswertes wegen ein ziemliches Ereignis, zumal Eyehategod ja auch schon lange keine Niemande mehr sind. Ihre Rolle in der Entwicklungsphase des Sludge Metal Anfang der Neunziger wächst mit den Jahren immer weiter und Stand 2021 haben wir es bei ihnen tatsächlich mit einem gewissen Legendenstatus zu tun. Eine Sache, die man sich ob dieser zwölf neuen Tracks ruhig nochmal aufs Brot schmieren lassen kann. Denn wenn man allein das beurteilt, was hier gespielt wird, möchte man das gar nicht so glauben. Dass die Formation nach einer so langen Zeitspanne ohne Album so ein halbgares, stumpfes und dröges Projekt vorlegt, ist einfach nur eine große Enttäuschung. Selbst für mich als Überhauptnicht-Fan. Wobei ich bei Eyehategod eigentlich schon deshalb ein paar Augen zudrücke, weil sie traditionell nicht ins Entwicklungsschema der zeitgenössischen Sludge-Ästhetik passen. Als Erbverwaltende des räudigen Neunziger-Sounds scheren sie sich wenig darum, wie edel und ausproduziert heutzutage Bands wie High On Fire oder Mastodon klingen, sie knattern weiter ihren New Orleanser-Szene-Stiefel ab. Und wo ich das theoretisch irgendwie ehrlich und treu finde, funktioniert es für diese LP ausschließlich zum Nachteil. Die minimalistische Ausgestaltung des Songwritings lässt sehr viel Platz für ein paar äußerst mittelmäßigen Gesangsparts von Mike Williams, klanglich werden die immer gleichen Effekte schnell monoton und was sich hier Produktion schimpft, macht den Gesamtsound eher noch dünner und blechiger, als die fetten Momente aus ihm herauszuholen. Dass die Texte hier darüber hinaus ziemlich cringy und edgelordig sind, macht die Sache nicht besser. Weshalb diese Platte in meinen Augen in sehr vielen Punkten für das steht, was im schlimmsten Fall passiert, wenn man seit Jahrzehnten nur scheuklappig "real" bleibt und ignorant gegenüber neueren Entwicklungen ist. Und es ist ja nicht so, dass sowas prinzipiell furchtbar klingen muss. Die letzten Alben von Crowbar, den zweiten wichtigen Sludge-Pionieren, waren ebenfalls sehr traditionell, aber in keinster Weise so stumpf und stockig wie das hier. Und dass Eyehategod es besser können, zeigen sie ganz schemenhaft kurz vor Ende der Platte. Die letzten vier Songs auf A History of Nomadic Behavior sind mit großem Abstand die besten, wobei the Trial of Johnny Cancer und Smoker's Piece dadurch cool werden, dass sie ein paar vorsichtig psychedelische Momente mit einbauen und Circle of Nerves das erste Mal auf diesen Album wirklich einen fetten Bass hinbekommt. Every Thing, Every Day ist dann zwar wieder etwas hölzern, aber bringt zum Abschluss wenigstens ein starkes Monsterriff auf die Bühne. Und in solchen Momenten funktioniert es dann plötzlich. Wäre das ganze Album so aufgebaut gewesen wie der Schlussteil, hätte ich Eyehategod wenigstens noch den Relegationsplatz der aktuell relevanten Sludge-Bands angeboten, doch mit diesem Witz als erste Hälfte kann ich nicht anders reagieren als mit der Einschätzung, dass diese Band sich verbraucht hat. Ich schätze nach wie vor ihren immensen Einfluss auf ein Subgenre, dass ich liebe, doch weiß ich eben auch, wann sie darin nichts mehr mitzureden haben. Bei so einem Schaden können sie sogar froh sein, wenn sich ihre alten Fans nicht von ihnen abwenden. Weil sich sieben Jahre warten für sowas halt einfach in keinster Weise auszahlt.

🔴🔴🔴🟠🟠⚫⚫⚫⚫⚫⚫ 05/11

Persönliche Höhepunkte
the Trial of Johnny Cancer | Smoker's Piece | Circle of Nerves

Nicht mein Fall
Current Situation | the Day Felt Wrong | Built Beneath the Lines

Sonntag, 14. März 2021

Black History (nicht mehr) Month 3/2021: Rebel Music

Bad Brains - Bad BrainsBAD BRAINS
Bad Brains
ROIR
1982 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ rotzig | turbulent | optmistisch ]

Um direkt mal ganz ehrlich zu sein: Über eine sehr lange Zeit hinweg war das Debüt der Bad Brains für mich ein Album, mit dem ich nicht so richtig warm werden konnte und dass ich effektiv überbewertet fand. Bei aller theoretischen Wertschätzung, die ich für diese LP als definitiver Meilenstein des Hardcore-Punk und Inspiration für unzähliche Bands hatte, war es doch nie eine Platte, die ich um ihrer selbst willen gut fand. Erst als ich mich für diese Besprechung hier noch einmal ausführlicher damit beschäftigte und diese Songs mit einer anderen Erwartungskaltung hörte, fiel es mir leichter, mich damit anzufreunden. Zwar ist es immernoch sehr unwahrscheinlich, dieses Album eines Tages zu einem meiner ewigen Favoriten zu zählen und dafür eine so große Leidenschaft zu entwickeln wie die meisten Fans, doch mag ich inzwischen doch sehr das, was ich hier höre. Um mein persönliches Empfinden soll es hier aber sowieso nur zum Teil gehen, viel wichtiger ist an dieser Stelle der immense Einfluss, den die Bad Brains mit ihrer Musik auf andere hatten, vor allem in Bezug auf ihr Dasein als eine der wenigen großen BPOC-Bands im Bereich Hardcore. Wobei man zuerst mal sagen muss, dass sie damit eigentlich gar keine so große Ausnahme waren. In vielen US-amerikanischen Städten, in denen während der späten Siebziger und frühen Achtziger kleinere Punkrock-Bubbles aufkeimten, waren darunter auch nicht weiße Formationen wie beispielsweise Fishbone oder Pure Hell, die oft auch wichtige Impulse für die regionalen Underground-Gefüge setzten. Mal Ganz zu schweigen von der Bewegung in Großbritannien, die von Bands mit BPOC-Mitgliedern wie den Specials und den X-Ray Spex ganz wesentlich mitgeprägt wurde und in der Einflüsse aus Reggae und Ska auch bei Gruppen wie the Clash stattfanden. Wo es jedoch meistens schwierig wurde, war besonders in den USA die Vermarktung dieser Musik. Solange die Gruppen noch innerhalb der regionalen Szeneclubs stattfanden, waren sie ein gleichberechtiger Teil des Gefüges, das ebenso Teil dieses sehr heterogenen Ganzen war. Als es später aber darum ging, welche Acts von Labels aufgenommen und somit kommerziell Platten veröffentlichten konnten, waren es vordergründig weiße Künstler*innen, die davon profitierten. Als unschöne Parabel dient in dieser Hinsicht bis heute die Geschichte der Detroiter Protopunk-Band Death, die in den Siebzigern mit MC5 und den Stooges der allerersten Welle der Bewegung angehörten, jedoch erst 2009 ihr Debüt veröffentlichten. Was die Bad Brains historisch zur großen Ausnahme machte, deren Erfolg als nicht-weiße Gruppe in der Ursuppe des Hardcore tatsächlich gut dokumentiert ist. Mit diesem Debüt als ein Album, das bis heute zu den wichtigsten Eckpfeilern des ganzen Genres zählt. Zusammen mit Fresh Fruit for Rotten Vegetables von den Dead Kennedys und Damaged von Black Flag bildet es sowas wie die heilige Dreifaltigkeit der Bewegung in den frühen Achtzigern, deren Impulse heute nicht wegzudenken sind. Wobei die Bad Brains eine Schnittstelle ganz verschiedener Strömungen und Attitüden waren. Was ihren Ansatz damals so besonders machte war, wie schnell sie ihre Songs spielten und dabei selbst die Punkbands der Generation der Ramones überholten. Dabei war natürlich auch ihre Performance alles andere als technisch brilliant, Sänger H.R. kann man die meiste Zeit kein bisschen verstehen und die maximal räudige Produktion tat auf den frühen Alben ihr übriges. Das hier vierzig Jahre später zum ersten Mal zu hören, ist also selbst mit der Erwartung unsauberer Szenepunk-Standards erstmal eine ziemliche Breitseite. Und mehr als blindes Gedresche mit guten Pogo-Hooks sind die ersten fünf Songs eigentlich auch nicht. Banned in D.C. hat ein ziemlich cooles Gitarrensolo am Ende und die Mitgröhl-Hooks in Attitude und Sailin' On machen echt Spaß, aber übersprudelnde Kreativität ist auch was anderes. Zumindest bis hierhin. Denn der richtige Curveball kommt erst danach: Mit Jah Calling driften die Bad Brains auf Track Nummer sechs stilistisch völlig ab und schreiben ganz plötzlich einen mehr oder weniger reinförmigen Reggae-Song, der an diesem Punkt eine mittelgroße, wenngleich positive Überraschung ist. Und von diesem Moment an schlagen in der Brust dieser Band für den Rest ihrer Karriere quasi zwei Seelen: Die der rotzigen, ruppigen Punk-Berserker, die man ganz zu Anfang gehört hat und die der soften und teilweise auch sehr spirituellen Dub-Kapelle, die tief im religiösen Kontext des Rastafarismus steckt und das auch kommunizieren will. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es auf diesem Album eigentlich nichts. Anders als the Clash oder die Slits, die aus ihren deftigen Rock'n'Roll-Wurzeln und importierten Reggae- und Ska-Einflüssen ein harmonisches Amalgam formten, geht bei den Bad Brains entweder das eine oder das andere. Und obwohl darunter auch erheblich die Kohärenz dieses Albums leidet, ist es doch wenigstens abwechslungsreich. Vergleicht man diese LP hier mit den ersten Releases von Black Flag oder den Adolescents, die rückblickend doch sehr monoton und blaffig ausfallen, fällt es hier wesentlich leichter, die gesamte Spieldauer über interessiert zu bleiben. Denn dieses Album ist nicht nur vielseitig, sondern meistens auch gut umgesetzt. Auf der B-Seite überzeugen Right Brigade und I als deftige Stampfer, die fast schon an Motörhead erinnern und mit I Luv Jah und Leaving Babylon sind zwei weitere ziemlich coole Reggae-Nummern vertreten. Lediglich der aberwitzig betitelte Closer Intro ist in meinen Augen ziemlich sinnlos und ebenso wie der etwas verholperte Anfang könnte auch der Abschluss etwas bewusster erfolgen. Zwischendrin präsentieren sich die Bad Brains aber als unterhaltsame Gruppe, die vielleicht ziemlich chaotische und unfokussierte Musik machen, aber dabei trotzdem jede Menge Spaß haben. Als Kind der Zwotausendzehner finde ich es zwar unfassbar Schade, dass diese Platte nicht ein bisschen fetter klingt und mehr Nuancen in der Abmischung herausholt, aber ich weiß auch, dass das sehr dummes Wunschdenken ist. Trotzdem habe ich ich mich am Ende des Tages sehr mit dieser LP eingegroovt und sie auch ohne ihren ganzen Kontext als eines der besseren frühen Hardcore-Standardwerke empfunden. Mit dem ganzen Reggae-Ding tun sie sich und mir sowieso einen großen Gefallen, denn dafür bin ich immer zu haben. Was mich persönlich aber besonders freut ist, dass diese Besprechung erst dafür gesorgt hat, dass ich diesen Sinneswandel hatte und somit auch für mich nochmal ein veränderndes Erlebnis war. Was mich gerade bei so einem Klassiker immer extra freut.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Sailin' On | Attitude | the Regulator | Jah Calling | Supertouch/Shitfit | Leaving Babylon | F.V.K. (Fearless Vampire Killers) | I | Big Take Over | Right Brigade | I Luv Jah

Nicht mein Fall
Intro

Freitag, 12. März 2021

Was er alles kann

Lapalux - Total Reality, Total ChaosLAPALUX
Total Reality, Total Chaos
LPLX
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ ambient | esoterisch | experimentell ] 

Es gab auf diesem Format bisher nur wenige Musiker*innen aus dem Bereich Electronica, die ich über mehrere Jahre hinweg immer wieder aus purem Interesse gehört habe und die mein leider ja nach wie vor überschaubares Interesse für diesen Bereich des Pop wirklich lange Zeit aufrecht erhalten konnten. Und ehrlich gesagt findet sich selbst unter diesen nur selten jemand, für den ich eine dermaßene Leidenschaft hege wie für Stuart Howard alias Lapalux. Bereits seit etlichen Jahren höre ich nun mit großem Interesse die Platten des Briten, wobei diese nicht nur mit jedem Mal völlig anders klingen, sondern auch kontinuierlich besser werden. Und auch im Falle von Total Reality, Total Chaos ist das mal wieder der Fall. Zwar reden wir hier proforma nur von einer kleinen Zwischendurch-EP, die Howard sehr regelmäßig veröffentlicht und die meistens nichts besonderes sind, diese hier ist mit einer guten halben Stunde aber verhältnismäßig umfangreich und geht auch klanglich in eine neue Richtung. Nach dem bereits recht verkopften und ätherischen letzten Album Amnioverse von 2019 zieht es Lapalux hier nämlich endgültig in den Supernerd-Bereich der ambienten Popmusik: analoge Tapeloops. Ich will ich an dieser Stelle nicht zu sehr in Details verheddern, nur geht es bei dieser Art von Tracks um die Manipulation vorher aufgenommener Magnetbänder, die auch sehr viel mit Musique Concrète und Soundcollagen zu tun hat. Dabei verbindet sie die Liebe zu steinaltem Equipment mit einer Sammelleidenschaft für obskure Tapes und einer Meta-Faszination für Aufnahmetechnik, was sie schon immer zum Auffangbecken für Sonderlinge wie William Basinski und Steve Reich machte. Und auf den ersten Blick passt jemand wie Howard da eigentlich nicht so gut rein. Wenige Platten ist es her, da machte der Brite noch tanzbaren UK Garage und chilligen Schlafzimmer-Funk und war darin eigentlich auch ganz gut. Doch ist Lapalux eben auch ein Projekt, dass ständig neue Ausdrucksformen dazulernt und gerade zuletzt auch zunehmend in den abstrakten Elektro-Bereich tendierte. Mit der Folge, dass auch dieses Stück Musik wieder ein einwandfreies Ergebnis auf die Bühne bringt. Mit zwei sehr Sample-lastigen Longtracks, in denen auch Plunderphonic- und Spoken Word-Elemente vorkommen, macht Howard ordentlich Platz für seine leisetreterischen Soundscapes und brilliert letztlich vor allem in Details. Das Mastering beider Stücke ist der absolute Wahnsinn und wann immer irgendwo ein neues Movement das andere überlappt, sorgt das bei mir für helle Begeisterung. Ein inhaltlich oder kompositorisch besonders potentes Projekt ist Total Reality, Total Chaos dabei nicht, aber das waren die letzten von Lapalux auch nicht wirklich und mussten sie auch nicht sein. Sein Material waren schon immer auch dann gut, wenn es nicht besonders sein wollte. Wer von ihm ein analytisches Tapeloop-Projekt mit historischem Kontext wie von William Basinski haben will, ist hier falsch; hier geht es um den Spaß am arbeiten. Und zumindest den merkt man Howard in allen Momenten ziemlich an. Wobei ich auch ein bisschen hoffe, dass diese Techniken vielleicht nochmal zeitnah auf einem richtigen Albumprojekt Platz finden. Denn 30 Minuten sind zwar praktisch auch eine LP, von diesem Zeug könnte ich aber locker nochmal das doppelte verkraften. Mein Vertrauen hat dieser Typ inzwischen sowieso mit Allem.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Total Reality, Total Chaos (Part I) | Total Reality, Total Chaos (Part II)

Nicht mein Fall
-

Donnerstag, 11. März 2021

Oh Brother

Mathus & Bird - These 13MATHUS & BIRD
These 13
Wegawam Music Co. & Southern Broadcast
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ altmodisch | pittoresk | kitschig ] 

Wenn man mich fragt, dann ist es völlig unmöglich, sich den Film Oh Brother, Where Art Thou? von den Gebrüdern Coen anzusehen und danach nicht zum Countryfan zu werden. Und zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen, dass dieses besondere cineastische Meisterwerk eine sehr gefährliche Einstiegsdroge war, die mich langfristig in die Arme eines Chris Stapleton und einer Norma Jean Beasler getrieben hat. So schön ich inzwischen aber auch zeitgenössischen Country und diverse Crossover-Varianten finde, mein persönlicher Favorit sind noch immer die rudimentären Oldschool-Stylings mit starker Folk-Verwurzelung und der gelegentlichen Bluegrass- und Blues-Schlagseite. Die Art Musik eben, für die mich besagter Coen-Film anfangs begeistert hatte und die im Moment immer mal wieder meine Oldies-Listen bestückt. Aber auch wenn 2021 jemand solche Songs schreibt, macht mich das natürlich sehr neugierig. Und im Falle dieser neuen LP von James "Jimbo" Mathus und Andrew Bird kann ich definitiv auch sagen, dass ich von dem Ergebnis begeistert bin. Was ehrlich gesagt nicht so oft passiert, da es bei solcher Musik meiner Meinung relativ schwer ist, den authentischen Vibe und das oldschoolige Gefühl richtig zu treffen. Diese Sorte von Country lebt davon, dass sie nicht nur alt wirkt, sondern effektiv alt ist und völlig aus der Zeit gefallen scheint. Allein der Versuch, so etwas in ein heutiges Pop-Verständnis zu übersetzen, erscheint oft surreal und müßig. Und noch schwerer wird es, wenn man wie Bird und Mathus hier eigene Songs schreibt und noch dazu sehr modernes und hochauflösendes Equipment verwendet. Es gibt aus den letzten 30 Jahren unzählige Tracks und Alben, die aufgrund solcher Ansätze oberflächlich und falsch klingen und in meinen Augen fallen darunter sogar große Teile des so geliebten Oh Brother-Soundtracks. Und sicher, auch These 13 merkt man an, dass es nicht in den Dreißigern aufgenommen wurde. Trotzdem ist es in meinen Augen die bestmögliche Variante, sich aus heutiger Perspektive analytisch diesem Sound zu nähern. Was letztlich vor allem daran liegt, wie die beiden hier Songs schreiben. Die (wie der Titel schon vermuten lässt) 13 Tracks des Albums sind nicht in etwa der Versuch, ein möglichst authentisches Historienporträt aufzubauen, sondern in gewisser Weise dessen Subversion. Nicht so sehr musikalisch, aber definitiv lyrisch. Stücke wie Poor Lost Souls, Sweet Oblivion oder Jack O'Diamonds sind ziemlich sarkastisch geschriebene Räuberpistolen, die auf metaphorische Weise sehr moderne Themen wie Hedonismus, affige Celebrity-Kultur oder den Nihilismus der Generation Z verarbeiten. Nicht immer kommt man darauf sofort und teilweise muss man auch ein bisschen um die Ecke denken, doch ist das Material definitiv da. Und wenn diese kleinen Parabeln dann mit so altmodischen Kompositionen ausgestaltet werden, hat das etwas sehr charmantes. Es erinnert mich ein bisschen an die letzte LP von Tim Heidecker, nur in besser. Zumindest auf den ersten drei Vierteln der Platte, die fast nur aus genialen Stücken bestehen. Zum Ende hin lassen die beiden dann etwas nach und werden auch songwriterisch unfokussierter, wirklich mies wird es hier aber nie. Und wann immer Mathus und Bird hier ein fettes Banjosolo, einen trashigen Violinenpart oder ihren wunderbaren Satzgesang vom Stapel lassen, ist das richtige Feeling einfach da. Letztendlich nicht, weil es so echt klingt, sondern weil sie gute Songs schreiben. Weshalb es mir auch nicht weh tut, das hier als meine erste Country-Lieblingsplatte des Jahres zu bezeichnen. Auch wenn ich insgeheim ein bisschen gehofft hatte, dass diese Phase bei mir 2021 aufhört.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡⚫⚫⚫ 08/11
 
Persönliche Höhepunkte
Poor Lost Souls | Sweet Oblivion | Encircle My Love | Beat Still My Heart | Red Velvet Rope | High John | Stonewall (1863) |

Nicht mein Fall
Bell Witch | Dig Up the Hatchet