Neues vom Dauerzustand
Sultan Günther
Wir sind hier mittlerweile bei Album Nummer acht der Hamburger Remmidemmi-Kanallien angekommen und dabei mittlerweile auch beim vierten seit der kreativen Neuerfindung 2012 mit Befehl von ganz unten. Letzterer Punkt ist für mich der entscheidende, weil es sich bei Neues vom Dauerzustand halt auch ein bisschen um den mittlerweile vierten Aufguss dieser vor zehn Jahren aufgebauten kompositorischen Formel handelt, die langsam aber sicher Ermüdungserscheiungen zeigt. Schon der Vorgänger Wer sagt denn das fühlte sich 2019 ein bisschen zu sehr an wie auf eine Festivalsaison zurechtgeschnitten, die letztlich nicht stattfand und auch hier findet man viele übliche Tricks und Kniffe wieder zu Hauf. Vor allem das Konzept von thematischen Songs wie Kids in meinem Alter, Delle am Helm, Merkste Selber oder Nummer sicher, deren Strophenteile nur aus der Aufzählung von griffigen Beispielen bestehen und deren Schema spätestens seit Leider geil bekannt sein sollte, sind hier wieder sehr zahlreich vertreten und wirken - obwohl sie immer noch irgendwie witzig sind - langsam ausgelutscht. Auch die Entscheidung, sich für eine Single Clueso auf die Platte zu holen, ist nicht unbedingt zu begrüßen, andererseits schaffen Deichkind mit Fettes Brot auf Mehr davon auch einen unerwartet coolen Feature-Moment. Und meine Lieblingssongs wie Kein Bock oder Wutboy finden sich dann größtenteils auch in der zweiten Hälfte der LP, in dem die Band dann auch mal aus den üblichen Formeln aussteigt. Dass Neues vom Dauerzustand bei alledem ein schwaches Album ist, würde ich nicht sagen, nur ist sein Titel auf gewisse Weise auch sehr programmatisch. Weshalb ich den Leumund, Deichkind seien die großen Vordenker deutscher Popmusik, spätestens hier nicht mehr wirklich gerechtfertigt finde. Was jedoch auch nicht heißt, dass ich nicht trotzdem jeden Song von dieser Platte nachts um elf auf dem Highfield tierisch abfeiern würde.
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11
Optical Delusion
London
Ein bisschen schade ist es schon, dass in einem Monat mit so vielen potenziell spannenden Releases von jungen Künstler*innen eine der wenigen richtig guten Platten von diesem IDM-Fossil aus den Neunzigern kommt, doch will ich mich an dieser Stelle mal nicht beschweren. Denn dass sie Musik der Gebrüder Hartnoll so aufregend war wie auf dieser LP, dürfte tatsächlich eine Weile her sein. Und mit ihrem experimentellen und vielseitigen Techno machen die Briten hier immer noch vieles ganz ordentlich. Sowohl die den Songs zugrunde liegenden Beats und Kompositionen als auch viele der Features auf Optical Delusion sind klasse kuratiert und in 51 Minuten wird es hier geschafft, gleichzeitig ziemlich kohärent und doch abwechslungsreich zu sein. Einziger Schandfleck ist am Ende das ganz schön stumpfe und repetetive Dirty Rat mit Sleaford Mods, sogar das ist aber wenigstens in seiner Message sympathisch. Am Ende also ein unerwartetes Highlight, das mir diese Formation auch zum ersten Mal richtig nahe bringt.
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11
Quest for Fire / Don't Get Too Close
OWSLA
Es mag fast zehn Jahre gedauert haben, dass der notorisch longplayerfaule Sonny Moore sich an einen Nachfolger zu seinem Debüt Recess gewagt hat, doch gibt es davon jetzt wenigstens gleich zwei. Eine gute Nachricht ist das nur bedingt, da die Welt der Popmusik 2023 einerseits nicht wirklich nach neuer Musik von ihm schreit, andererseits kann man hier nach wie vor feststellen, dass das Album ganz sicher nicht das künstlerische Format ist, auf dem die Marke Skrillex sich am stärksten präsentiert. Schon besagtes Debüt war 2014 eher ein lauwarmer Nachschub seiner Hype-Phase in den frühen Zwotausendzehnern, spätestens hier wirkt das ganze dann nur noch wie eine mäßig motivierte Werkschau von Produktionsjobs für andere Künstler*innen. Dass Problem, komplett von ihren illustren Featurelisten vereinnahmt zu werden, haben beide der vorliegenden Platten, ein Unterschied findet letztendlich am ehesten dahingehend statt, ob auch tatsächlich künstlerische Ambitionen dahinterstehen. Quest for Fire als das grundsätzlich Electronica-lastigere Projekt findet dabei stellenweise eine durchaus coole Chemie mit anderen Produzent*innen wie Mr. Oizo, Porter Robinson und Fred Again, ist kreativ aber auch alles andere als anregend. Und spätestens das einen Tag später veröffentlichte Don't Get Too Close fühlt sich kreativ doch ziemlich unterirdisch an. Man könnte sagen, dass Skrillex mit letzterer Platte ein kommerzielles Comeback versucht, doch wirkt es als solches trotz Features von Pink Pantheress, Bladee, Trippie Redd, Yung Lean oder Don Toliver leider überhaupt nicht modern. Ein letztes Interesse habe ich an diesen beiden Alben letztlich nur noch deswegen, weil dieser Typ irgendwann tatsächlich mal das Verständnis von Popmusik in meiner Generation definierte, doch ist das hier definitiv lange passé. Ich für meinen Teil würde es sogar vorziehen, wenn er einfach die Nostalgietour schieben würde und wieder Dubstep macht. Das kann er nämlich definitiv besser.
Quest for Fire:
🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫⚫ 06/11
Don't Get Too Close:
🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫⚫ 06/11