Samstag, 25. Februar 2023

Die Wochenschau (19.02.-24.02.2023): Party auf 3 Floors

 





Deichkind - Neues vom Dauerzustand
DEICHKIND
Neues vom Dauerzustand
Sultan Günther


Wir sind hier mittlerweile bei Album Nummer acht der Hamburger Remmidemmi-Kanallien angekommen und dabei mittlerweile auch beim vierten seit der kreativen Neuerfindung 2012 mit Befehl von ganz unten. Letzterer Punkt ist für mich der entscheidende, weil es sich bei Neues vom Dauerzustand halt auch ein bisschen um den mittlerweile vierten Aufguss dieser vor zehn Jahren aufgebauten kompositorischen Formel handelt, die langsam aber sicher Ermüdungserscheiungen zeigt. Schon der Vorgänger Wer sagt denn das fühlte sich 2019 ein bisschen zu sehr an wie auf eine Festivalsaison zurechtgeschnitten, die letztlich nicht stattfand und auch hier findet man viele übliche Tricks und Kniffe wieder zu Hauf. Vor allem das Konzept von thematischen Songs wie Kids in meinem Alter, Delle am Helm, Merkste Selber oder Nummer sicher, deren Strophenteile nur aus der Aufzählung von griffigen Beispielen bestehen und deren Schema spätestens seit Leider geil bekannt sein sollte, sind hier wieder sehr zahlreich vertreten und wirken - obwohl sie immer noch irgendwie witzig sind - langsam ausgelutscht. Auch die Entscheidung, sich für eine Single Clueso auf die Platte zu holen, ist nicht unbedingt zu begrüßen, andererseits schaffen Deichkind mit Fettes Brot auf Mehr davon auch einen unerwartet coolen Feature-Moment. Und meine Lieblingssongs wie Kein Bock oder Wutboy finden sich dann größtenteils auch in der zweiten Hälfte der LP, in dem die Band dann auch mal aus den üblichen Formeln aussteigt. Dass Neues vom Dauerzustand bei alledem ein schwaches Album ist, würde ich nicht sagen, nur ist sein Titel auf gewisse Weise auch sehr programmatisch. Weshalb ich den Leumund, Deichkind seien die großen Vordenker deutscher Popmusik, spätestens hier nicht mehr wirklich gerechtfertigt finde. Was jedoch auch nicht heißt, dass ich nicht trotzdem jeden Song von dieser Platte nachts um elf auf dem Highfield tierisch abfeiern würde.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11




Orbital - Optical Delusion ORBITAL
Optical Delusion
London


Ein bisschen schade ist es schon, dass in einem Monat mit so vielen potenziell spannenden Releases von jungen Künstler*innen eine der wenigen richtig guten Platten von diesem IDM-Fossil aus den Neunzigern kommt, doch will ich mich an dieser Stelle mal nicht beschweren. Denn dass sie Musik der Gebrüder Hartnoll so aufregend war wie auf dieser LP, dürfte tatsächlich eine Weile her sein. Und mit ihrem experimentellen und vielseitigen Techno machen die Briten hier immer noch vieles ganz ordentlich. Sowohl die den Songs zugrunde liegenden Beats und Kompositionen als auch viele der Features auf Optical Delusion sind klasse kuratiert und in 51 Minuten wird es hier geschafft, gleichzeitig ziemlich kohärent und doch abwechslungsreich zu sein. Einziger Schandfleck ist am Ende das ganz schön stumpfe und repetetive Dirty Rat mit Sleaford Mods, sogar das ist aber wenigstens in seiner Message sympathisch. Am Ende also ein unerwartetes Highlight, das mir diese Formation auch zum ersten Mal richtig nahe bringt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11


 

SKRILLEX
Quest for Fire / Don't Get Too Close
OWSLA
 
Es mag fast zehn Jahre gedauert haben, dass der notorisch longplayerfaule Sonny Moore sich an einen Nachfolger zu seinem Debüt Recess gewagt hat, doch gibt es davon jetzt wenigstens gleich zwei. Eine gute Nachricht ist das nur bedingt, da die Welt der Popmusik 2023 einerseits nicht wirklich nach neuer Musik von ihm schreit, andererseits kann man hier nach wie vor feststellen, dass das Album ganz sicher nicht das künstlerische Format ist, auf dem die Marke Skrillex sich am stärksten präsentiert. Schon besagtes Debüt war 2014 eher ein lauwarmer Nachschub seiner Hype-Phase in den frühen Zwotausendzehnern, spätestens hier wirkt das ganze dann nur noch wie eine mäßig motivierte Werkschau von Produktionsjobs für andere Künstler*innen. Dass Problem, komplett von ihren illustren Featurelisten vereinnahmt zu werden, haben beide der vorliegenden Platten, ein Unterschied findet letztendlich am ehesten dahingehend statt, ob auch tatsächlich künstlerische Ambitionen dahinterstehen. Quest for Fire als das grundsätzlich Electronica-lastigere Projekt findet dabei stellenweise eine durchaus coole Chemie mit anderen Produzent*innen wie Mr. Oizo, Porter Robinson und Fred Again, ist kreativ aber auch alles andere als anregend. Und spätestens das einen Tag später veröffentlichte Don't Get Too Close fühlt sich kreativ doch ziemlich unterirdisch an. Man könnte sagen, dass Skrillex mit letzterer Platte ein kommerzielles Comeback versucht, doch wirkt es als solches trotz Features von Pink Pantheress, Bladee, Trippie Redd, Yung Lean oder Don Toliver leider überhaupt nicht modern. Ein letztes Interesse habe ich an diesen beiden Alben letztlich nur noch deswegen, weil dieser Typ irgendwann tatsächlich mal das Verständnis von Popmusik in meiner Generation definierte, doch ist das hier definitiv lange passé. Ich für meinen Teil würde es sogar vorziehen, wenn er einfach die Nostalgietour schieben würde und wieder Dubstep macht. Das kann er nämlich definitiv besser.

Quest for Fire:
🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 06/11
 
Don't Get Too Close:
🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 06/11




Sonntag, 19. Februar 2023

Die Wochenschau (11.02.-18.02.2023): Paramore, Kelela, Caroline Polachek


 
 
 
 
 
Paramore - This Is WhyPARAMORE
This is Why
Atlantic

War After Laughter vor fünf Jahren nun das glorreiche Comeback von Paramore oder ist es dieses hier? Auf gewisse Weise verdienen beide Platten dieses Prädikat, denn auch mit dieser neuen LP kehrt das Trio aus Nashville nach langer Pause - inklusive eines erfolgreichen Solo-Ausflugs von Sängerin Hayley Williams - mit verändertem Sound und neuer Ästhetik zurück. Wobei besagter Exkurs das Songwriting auf This is Why auch ganz wesentlich geprägt hat. Aus dem belebten New Wave-Powerpop auf After Laughter ist hier kantiger und ziemlich aufgekratzter Postpunk geworden, der mich persönlich sehr an Bands wie die Talking Heads, Mourn oder auch das letzte Foals-Album erinnert. Und zumindest in der ersten Hälfte der LP zeigen Paramore auch, was sie tolles aus diesem Sound machen können. Im Mittelteil schläft das Konzept vor allem um Tracks wie C'est comme ça und Figure 8 ein bisschen ein, effektiv mies wird es aber nie und stets bleibt die Band dabei kohärent und stilistisch stimmig. Insgesamt dürfte This is Why also schon zu ihren besten Alben bisher zählen, auch wenn es weiterhin keine so großen Begeisterungsstürme bei mir auslöst wie Hayley Williams' Soloarbeiten.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11
 
 
 
 
Kelela - RavenKELELA
Raven
Warp
 
Wahrscheinlich sorgte die handvoll sehr stimmiger Singles am Ende des letzten Jahres noch dafür, dass das zweite Album von Kelela in den vergangenen Wochen eines der von mir sehnlich erwarteten Releases der jungen Saison wurde, von dem ich ehrlich hoffte, dass es endlich mal das große Talent spiegeln würde, das diese Sängerin ja schon seit langem hat. Wobei das Daumendrücken anscheinend geholfen hat, denn Raven ist nun tatsächlich ein ziemlich großer Schritt für die Kalifornierin, was künstlerischen Charakter, Songwriting und vor allem Produktion angeht. Wo der Vorgänger Take Me Apart von 2017 doch noch sehr unauffällig an mir vorüberzog, macht Kelela hier definitiv ein Album, bei dem es sich lohnt, genau zuzuhören und dem roten Faden zu folgen, den die Künstlerin hier legt. Mit fantastischen R'n'B-Jams am Anfang (On the Run wäre sicherlich mein bisheriger Lieblingssong 2023, wäre er nicht schon letzten Herbst erschienen) und stimmungsvollen Deep Cuts, die zwischendurch auch mal in Richtung Elektro und sogar Ambient abbiegen, schafft die Sängerin hier eine kleine Sinnesreise, an der fast jede Kurve irgendwie spannend ist und mich auch in ihrer Subtilität irgendwie begeistert. Ein besonderes Shoutout sollte dabei auch der Produktion gelten, die mit ihren fließenden Übergängen und der tiefenscharfen HiFi-Soundkulisse alles noch ein bisschen immersiver und nahtloser macht. Für mich persönlich definitiv der Durchbruch, den Kelela bei mir brauchte.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11
 




Caroline Polachek - Desire, I Want to Turn Into YouCAROLINE POLACHEK
Desire, I Want to Turn Into You
Perpetual Novice

Bisher hatte ich mich über den Output von Caroline Polachek hier ja elegant in Schweigen gehüllt und Kommentare über ihr mittlerweile zum Hyperpop-Darling mutierten Debüt Pang vermieden, spätestens jetzt holt mich diese Entscheidung aber ein. Wobei die Wahrheit letztendlich die ist, dass ich mich für ihre Musik seit der Trennung von Chairlift nie wirklich interessiert habe und mir besagte erste Platte ziemlich egal war. Mich hier für einen Nachfolger zu motivieren, war mir also nicht besonders angelegentlich und ob des Ergebnisses auch eine Sache, die sich in meinen Augen nicht gelohnt hätte. Denn im großen und ganzen macht Polachek hier weiter mit der gleichen Sorte Musik, die ich nach wie vor mäßig anhebend finde. Zwar gibt es gerade in der zweiten Hälfte der LP zwar Momente wie den folkigen Part mit dem Dudelsack (wenn es denn einer ist) in Blood & Butter, das überraschende Dido-Grimes-Doppelpack in Fly to You oder die ganz vernünftige Hook in Butterfly Net, die irgendwie interessant aufbereitet sind, im großen und ganzen finde ich Desire aber mal wieder ziemlich austauschbar und kompositorisch flach. Und im Gegensatz zum Vorgänger kann ich hier nicht mal die Entschuldigung gelten lassen, dass es für irgendetwas entscheidende Pionierarbeit leistet.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11
 
 
 
 

Samstag, 18. Februar 2023

Review: Extraterrestrische Kakophonie

Sun Ra & His Solar Arkestra - The Magic City
BLACK HISTORY MONTH 2023 #3
SUN RA & HIS SOLAR ARKESTRA
the Magic City
Saturn
1966

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ avantgardistisch | kakophonisch | schrill ]

Es bietet sich an dieser Stelle sowohl durch die Wahl des Themas für den vorliegenden Post als auch durch die Art und Weise der Musik, über die ich darin geschrieben habe die Möglichkeit einer Stellungnahme, die manche vielleicht für notwendig befinden. Einer Stellungnahme, die darin besteht, dass ich hier ausführlich meine rezeptive Herangehensweise an das Medium Free Jazz schildere und begründe, warum zum Henker ich dieses Zeug eigentlich so gut finde. Das werde ich an dieser Stelle nicht tun. Viel eher möchte ich in diesem Artikel über eines der wie ich finde aufregendsten und spannendsten Alben aus dieser Gattung der Jazzmusik und die Großartigkeit schreiben, sowie über dessen genial weirden Schöpfer Sun Ra, der in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem meiner Lieblingsmusiker geworden ist. Wobei ich weiß, dass ich am Ende des ganzen wohl die Wenigsten dazu anstecken kann, diese Platte genauso zu mögen wie ich. Doch möchte ich in dieser Besprechung wenigstens mal ausführlich darüber reden, was sie für mich so besonders macht. Und das ist in meinen Augen vor allem die Art und Weise, wie Sun Ra und sein Arkestra hier mit den Elementen Klang und Dynamik spielen. Wenn es nämlich eine Sache gibt, durch die Musik ohne jeglichen kompositorischen roten Faden und bar jeder Struktur so überzeugen kann wie sie das hier tut, dann ist es ein Aufmerksamkeit erregender Sound. Eine Sache, die die hier beteiligten Künstler auch nicht erst auf diesem Album verstehen. Schon auf den relativ konventionellen frühen Platten des Arkestra hört man einen sehr dynamischen und wechselhaften Sound, der wenig vom üblichen Chorus-Solo-Chorus-Geklimper vieler zeitgenössischer Hardbop-Gruppierungen hatte und eher an einem sinfonischen Zusammenspiel orientiert war. Ein Merkmal, dass sich sher wahrscheinlich auf Sun Ras frühere klassische Musikausbildung zurückführen lässt. Und spätestens mit der Hinwendung zur Avantgarde fühlen sich die Alben der Band zunehmend an wie eine Art interdimensionales Offbeat-Tischtennis, bei dem die Instrumentalisten sich immer mehr aneinander aufreiben und gegenseitig herausfordern. Was the Magic City dabei zu einem meiner persönlichen Highlights dieser Spielweise macht ist einerseits, dass die Aufnahmen hier klanglich sehr klar sind und gut mit dem ihnen zur Verfügung gestellten Raum spielen, zum anderen ist das Thema Dynamik hier nochmal auf eine ganz andere Weise auffällig, indem einzelne Extreme hier wirklich aneinander abprallen. So finden sich in allen vier Songs der LP immer wieder Jumpscare-ähnliche Phrasen (vor allem von den Blechbläsern und Flöten), die gerne mit einem langgezogenen und raumgreifenden Ton ins Geschehen grätschen und die viel von der schrillen Atmosphäre ausmachen, die die Platte dominiert. Gerade im Titeltrack hört sich die Musik dabei zeitweise an wie ein Singkonzert angestachelter Roboter-Vögel, die gegenseitig ihre Hackordnung ausfechten und dabei so irritierd flirren wie die Soundkulisse einer Folge Star Trek aus den frühen Sechzigern. Nicht unwesentlich beeinflusst wird diese Wirkung dadurch, dass der Meister selbst hier mit großer Hingabe eine Clavioline maltretiert, eine Vorform des Synthesizers, die seinerzeit noch für große Teile des Musikbusiness unbekanntes Territorium war. Und obwohl diese frühe Version des Elektrojazz auch nicht gerade durch ihre formvollendete Virtuosität besticht, gibt sie klanglich doch einen einzigartigen Touch ab, der auf eine verquere Art auch in die schrille Komposition dieses Stücks passt. Besagter Titeltrack ist mit einer imposanten Länge von fast 28 Minuten dann auch das definitive Herzstück von the Magic City, das heute von Fans als eine der großen Meisterstücke des Free Jazz verehrt wird. Obwohl die drei anderen Stücke aber im Schatten dieses obskuren Opus nicht mehr sind als gut gemeinte Beilagen, tragen sie den Spirit des Openers in meinen Augen doch entscheidend weiter und sorgen dafür, dessen ausgebuffte Kakophonie im zweiten Teil ein bisschen auszugleichen. Der zweite Track the Shadow World ist mit seinen aufeinanderprallenden Bläsersätzen und dem stetig klimpernden Schlagzeug ist dabei zwar noch alles andere als ein Ruhepol und ballert ebenfalls aus allen Rohren, klanglich gesehen fokussiert er sich aber eher auf bassige Tiefen und ist nich ganz so fordernd und schrill. Und spätestens mit dem abschließenden Doppel der beiden Geschwisterstücke Abstract Eye (Cosmic Eye) und Abstract "I" findet die Platte schließlich eine fast schon ambiente Langsamkeit, die nur noch gelegentlich vom avantgardistischen Aufflammungen unterbrochen wird. Ob das nun improvisatorischer Zufall oder ausgeklügeltes Konzept ist, ist am Ende fast schon irrellevant. Genauso wie es eigentlich Quatsch ist, so ausführlich über die inneren Dynamiken dieser Platte zu lamentieren, denn am Ende ist es trotzdem ein geniales, kolossales Wurstgewitter. Was das ganze zudem mit Sun Ras Konzepten von Afrofuturismus und extraterrestrischer Magie zu tun hat, weiß auch nur der Künstler selbst und als Endverbraucher kann ich mich dahingehend lediglich darauf beschränken, dass es tatsächlich klingt wie nicht von dieser Welt. Die erste Feststellung über the Magic City ist also letzlich auch die, die nach allem Zerdenken übrigbleibt und von allen die wichtigste ist. Selber schuld also, wenn man darüber so einen langen Artikel schreibt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11


Persönliche Höhepunkte
the Magic City | the Shadow World

Nicht mein Fall
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Hat was von
Eric Doplhy
Out to Lunch

Asher Gamedze
Dialectic Soul