Donnerstag, 27. Dezember 2018

2018: Die 30 besten Alben


Ein komisches Jahr war das 2018. Ein unbeständiges, sich selbst und viele musikalische Traditionen auflösendes Jahr, das über viele Monate lang ziemlich verrückt spielte. Diejenigen Platten zu bestimmen, die diese Saison für mich bestimmt haben, mir wichtig waren und die ich letztendlich am besten fand, war demzufolge auch einmal mehr besonders schwierig. Viele Alben, die ich zu Anfang richtig geil fand, haben mich über die Zeit ein bisschen verloren und einige, die ich zunächst nicht so mochte, haben sich als wahre Highlights entpuppt. Das ist prinzipiell nicht neu, aber so krass wie 2018 waren die Schwankungen wirklich noch nie. Abgesehen davon ist diese Liste oberflächlich gesehen vielleicht ein bisschen konservativ (viele Künstler*innen aus Großbritannien und den USA, nur eine deutschsprachige Platte, überraschend wenig Hiphop), bei genauerem Hinsehen, bildet sie für mich aber ein Jahr ab, das äußerst schwer auf solche Kategorien festzunageln ist. Ich hoffe, ein paar gute Empfehlungen kann ich euch trotzdem vermitteln im diesjährigen Staffelfinale.



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KIDS SEE GHOSTS
Kids See Ghosts
G.O.O.D. Music / Def Jam Recordings

Dass Kanye West die Zukunft des Hiphop kennt, hatte man schon immer ein bisschen im Urin, aber in meinen Augen ist Kids See Ghosts das erste Mal, dass man das auch wirklich direkt merkt. In 23 Minuten nimmt er hier alles, was Mainstream-Rap 2018 ausmacht und schickt es in ein Labyrinth aus Zerrspiegeln, besetzt mit seinen eigenen Alptraumgestalten und filtert dabei das Maximum an Kreatität in sieben wegweisende Songs. Dass mit Kid Cudi dabei ein weiterer Experte für Psychedelik und Emo-Attitüde mit im Boot ist, ist aber mindestens genauso wichtig. Schon seit langem sind die beiden gegenseitige kreative Anziehungspunkte, dieses Album zeigt aber auch endgültig, dass sie alle beide gleichberechtigt große Hiphop-Visionäre sind. Die schiere Zügellosigkeit und Dreistigkeit, mit der hier komponiert und getextet wird, ist auch beim zwanzigsten Mal noch beeindruckend und ist eine Zäsur, sowohl in Kanyes als auch in Cudis Karriere. In meinen Augen vielleicht sogar der Gravitationspunkt ihrer beiden Diskografien bis hierhin.

Das beste daran: Kanyes absolut geisteskranke Trap-Scats in Feel the Love.

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IDLES
Joy As An Act of Resistance
Partisan Records

Die wichtigste Stimme im Punkrock waren 2018 definitiv und ohne Frage Idles. Vielleicht nicht die lautesten, nicht die schlausten und möglicherweise nicht mal die mit dem besten Songwriting. Aber sie hatten etwas zu sagen, was dieses Jahr vielen Leuten wichtig war und trafen deshalb auf offene Ohren. Das Reden über Gefühle, Geschlechterrollen, Selbstliebe, das Befinden von Mensch und Gesellschaft. Und obwohl sie dabei auch jede Menge Dinge ansprechen, die sie ziemlich hart nerven, ist die größte Leistung von Joy As An Act of Resistance, kein bloßes Anti-Alles-Album zu sein. Ganz im Sinne des Titels ist das hier eine LP, die die Welt nicht nur beschimpfen, sondern besser machen will, und Idles schreiben für dieses Utopia zumindest schonmal die richtigen Hymnen. Und obwohl ich die Platte inzwischen nicht mehr ganz so heiß liebe wie zu ihrem Release Ende August, ist es müßig abzustreiten, dass die Briten hier eines der stärksten und markantesten musikalischen Statements dieser Saison gemacht haben, das hoffentlich auch weiter in die Zukunft abstrahlt. Denn Optimismus wie diesen hat die Welt gerade jetzt bitter nötig.

Das beste daran: "TEN POINTS TO GRYFFINDOR!!!"

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THOM YORKE 
Suspiria (Music for the Luca Guadagnino Film) 
XL Recordings

In sieben Jahren dieses Formats ist Suspiria der erste Filmscore, der in einer Jahresbestenliste auftaucht. Was vor allem daran liegt, wie wenig er mit konventionellen Soundtracks gemein hat. Zwar vermittelt diese Platte beim Hören durchaus ein sehr cineastisches Feeling und wirkt vor allem atmosphärisch, doch geben sich wenige Komponist*innen dabei auch die Mühe, ein kohärentes LP-Erlebnis zu erschaffen. Als Vollblutmusiker schreibt Thom Yorke hier eine zähe Masse an musikalischen Eindrücken, die eher an ein surreales Ballett erinnern und auch unabhängig vom Bildmaterial (das ich im übrigen bis heute nicht gesehen habe) eine enorme Wirkung entfalten. Zwischen Musique Concrète, abstrakter Elektronik, Neoklassik und einer Prise Radiohead-Glutamat baut er dabei nicht nur eine sehr ansprechende Austragsarbeit, sondern fügt auch seinem eigenen musikalichen Oeuvre eine komplett neue Facette hinzu. Diese ist selbstverständlich nicht unbedingt so zugänglich und klar strukturiert wie sein sonstiges Material, aber gerade deshalb finde ich Suspiria auch so spannend. Und mindestens genauso wichtig, als wäre das hier ein vollwertiges Soloalbum von ihm.

Das beste daran: Wie aus dem finsteren Ambient-Dschungel der ersten beiden Tracks das melancholische Titelstück emposteigt und die LP einen ihrer wenigen Euphorie-Momente erlebt.


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 TOCOTRONIC
Die Unendlichkeit
Vertigo

Angesichts der Tatsache, wie sehr ich Die Unendlichkeit zu Anfang dieses Jahres geliebt habe, mag es vielleicht überraschen, es nun nicht weiter oben auf dieser Liste zu sehen, aber man sollte sich von den Verhältnissen nicht täuschen lassen: Dass es sich hierbei nun doch nicht um das beste Album 2018 handelt, heißt lange nicht, dass es nicht doch eines der besten der Saison wäre. Tocotronic fügen ihrer Nostalgie-Periode, die die letzten beiden Platten begonnen hatten, einen weiteren sehr wertvollen Eintrag hinzu, weiterhin klare Zeichen setzt. In vielen Songs hier zeigen sie sich so autobiografisch und persönlich wie selten zuvor, finden sich an verschiedenen Punkten ihrer eigenen Bandgeschichte wieder und blicken zum ersten Mal albumübergreifend nach innen, statt poetische Manifeste anzuzetteln. Was dabei unterm Strich steht, ist Bescheidenheit, Demut und vielleicht auch ein bisschen Stolz. Was bei aller Nostalgie aber mit Sicherheit gesagt werden kann: Im fünfundzwanzigsten Jahr ihres Bestehens sind die Hamburger nach wie vor weit entfernt davon, ihr Alterswerk zu schreiben.

Das beste daran: Wenn als vorletzter Titel nochmal 1993 als Quasi-'International Version' zum besten gegeben wird.


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BEAK>
>>>
Invada Records

Wenn Geoff Barrow etwas macht, dann macht er immer es ordentlich. Auch wenn das heißt, dass es seine Zeit dauert. Schon bei Portishead war das immer so, für seine jetzige Hauptband Beak> gilt das nicht weniger. In den gut zehn Jahren ihres bestehens hat das Trio gerade Mal drei Alben veröffentlicht, die alle zu den besten Sachen gehören, die im neuen Jahrzehnt unter dem Begriff "Progrock" laufen. >>> als dritte LP ihrer Diskografie fokussiert sich dabei insbesondere auf die groovige Welt der Krautrock-Bewegung aus den frühen Siebzigern, wobei die Briten hier eine ganze Reihe schneidiger Hits abfeuern. Unter den überraschend vielen Retro-Projekten, die sich 2018 mit Krauf beschäftigt haben, besticht diese Platte als die ausgeräumteste, dichteste und vielleicht insgesamt rockigste. Beak> machen hier sozusagen psychedelische Musik, die kein bisschen psychedelisch klingt, sondern eher eine gewisse akkurate Catchiness in sich trägt. Wie gesagt, Ordnung ist das halbe Leben. Vor allem, wenn ein Geoff Barrow dabei am Steuer sitzt.

Das beste daran: die spiralförmigen sieben Minuten von Allé Sauvage.

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HARM'S WAY
Posthuman
Deathwish, Inc.

Wenn eine Band wie Harm's Way, die sich seit Jahren wirklich abrackert und ihre Musik als Leidenschaft versteht, nach gefühlten Ewigkeiten endlich die verdiente Anerkennung bekommt, kann einen das schon sehr zufrieden Stellen. Es ist aber auch nur logisch, denn so gut wie auf diesem Album waren sie tatsächlich noch nie. Posthuman ist die mit Abstand fetteste, dichteste, härteste und kreativste LP des Kollektivs aus Chicago und der letzte Beweis dafür, dass diese Jungs mehr sind als die coole Underground-Gruppe, die bei all deinen Lieblingskünstler*innen als Vorband spielt. Dass sie hier ihre kürzeste Platte machen, ist dabei genauso konsequent wie die deutlichen Industrial-Einspielungen, die sich über die gesamte Spielzeit hinweg finden. Wo man Harm's Way sonst immer nur den ehrlichen Arbeitsschweiß anhörte, spielen sie hier das erste Mal wirklich großzügig und sind für die Verhältnisse ihrer musikalischen Nische sogar ein bisschen Experimentell. Nichts was einem den Metal kaputtmacht, aber ein Faktor, der sie für mich von einer guten Band zu einer Highlight-der-Saison-Band macht.

Das beste daran: Wie verfickt gut der Bass in der Endmische klingt.

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 IMPERIAL TRIUMPHANT
Vile Luxury
Throatruiner Records

Ein Death Metal-Konzeptalbum über Urbanisierung und Entmenschlichung im industriellen Zeitalter mit Anleihen aus neuer E-Musik, expressionistischer Lyrik der 1920er-Jahre und dem filmischen Schaffen von Fritz Lang. Klingt kompliziert? Kann man bei einer Band, die im Dunstkreis von Acts wie Liturgy und Artificial Brain verkehrt auch nicht anders erwarten. Vile Luxury, das inzwischen sechste Album der New Yorker Szene-Institution Imperial Triumphant, ist ein apokalyptisches und verkopftes Avantgarde-Metal-Ungetüm, dessen Komplexität beim besten Willen nicht zu beschönigen ist. Absolut disharmonisch und absolut dämonisch ist diese LP das komplette Gegenteil von Easy Listening. Doch wo diese Beschreibung die Ersten vielleicht schon abschreckt, empfinde ich das ganze als durchaus spannende historische Entdeckungsreise mit reichlich Nerd-Faktor. Es ist krass zu hören, wie diese Band hier die Brücken zwischen ihrer Welt und der von vor hundert Jahren schlägt, Einflüsse damaliger Popkultur in ihre Stücke einbindet und musikalisch einen furchterregenden Mutanten erschafft, der vielen Ideen jener Zeit einen modernen Anstrich verleiht. Will sagen: Hätte Paul Celan gewusst, was Death Metal ist, sein Ansatz hätte vielleicht nicht unähnlich geklungen. Ein wahnsinnig spannendes Experiment, das vielleicht nicht besonders zugänglich ist, aber nichtdestotrotz für diejenigen eine Faszination, die auf solchen Scheiß stehen.

Das beste daran: Wenn Mother Machine einfach komplett jeden kompositorischen Halt verliert.

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ANNA CALVI 
Hunter 
Domino Recordings Co.

Auf dem Cover ihres neuen Albums sieht Anna Calvi dieses Mal aus, als würde sie von Eddie Redmayne gespielt werden, sie singt Songs über männliche Körperlichkeit und spielt in ihren Texten mit Geschlechterrollen und Machtverhältnissen. Viele Fans haben Hunter dieses Jahr deshalb als eine Art queeres Statement gedeutet, was in meinen Augen nur bedingt passt. Wenn man mich fragt, dann ist diese LP eher ein Paukenschlag eines sehr tranzendentalen Feminismus-Gedankens, als solcher aber nicht weniger faszinierend. Mit wahnsinnig viel Kraft, Passion und Soul schmeißt sich die Britin hier in ihre düsteren Kammerpop-Songs, wobei sie nicht von ungefähr ein weiteres Mal an ihre musikalische Großtante Patti Smith erinnert. Hunter ist dabei ein Album mit Ansage, vor allem aber auch mit Hektolitern an Herzblut und Calvi eine Sängerin, die in jeder Nuance ihres Gesangs die Muskeln spielen lässt. Was diese Platte meiner Meinung nach zu ihrer bisher besten macht. Und egal, wie das alles letztendlich gemeint ist: Das ist Alpha!

Das beste daran: Der unglaublich nervenaufreibende Slowburner von einem Titelsong, der dieser LP gleich zu Anfang eine unglaubliche Tiefe gibt.

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MAC MILLER
Swimming
Warner Bros.

Ich war nie ein wirklich großer Fan von Mac Miller, über die letzten Jahre tatsächlich eher ein ziemlicher Skeptiker, was seinen musikalischen Output anging. Dass sein letztes Album zu Lebzeiten aber auch die LP ist, mit der ich nun doch meinen Frieden finden kann, ist eine tolle Sache. Wenn man mich fragt, ist Swimming 2018 nochmal seine beste Platte geworden, auf der der Rapper sein ganzes künstlerisches Potenzial endlich entfalten kann. Miller ist hier ein ebenso guter MC wie ein Sänger, er schafft ein unglaublich starkes und emotionales Narrativ, hat etwas wichtiges zu sagen und geht dabei auch musikalisch aufs Ganze. In seinen besten Momenten hat dieses Album die Qualitäten einer klassischen Soul-LP und schafft kompositorische Höhepunkte, die mich ins Staunen versetzen. Das traurige daran ist, dass diese Platte vielleicht erst der Anfang der kreativen Bestform dieses Künstlers hätte werden können, wäre diese nicht so jäh abgerissen. So ist es der helle Stern am Ende seiner Diskografie, der wesentlich mehr ist als nur sein Schwanengesang. Und für mich persönlich der Punkt, an dem ich vom Skeptiker zum Optimisten wurde.

Das beste daran: Wenn die Streicher in 2009 der Platte fast zum Ende nochmal ihren stärksten Romatik-Moment abringen.


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SOULFLY
Ritual
Nuclear Blast

Dem Hiphop ist es zu danken, dass New Metal 2018 wieder salonfähig wurde, ein Blick auf die alte Riege lohnt sich dennoch. Vor allem (und ausgerechnet) Soulfly profilieren sich dabei dieses Jahr als großartige Trend-Bewahrer, die mit Ritual eine ihrer besten Platten genau zum richtigen Zeitpunkt gemacht haben. Sicher, das Ding als lupenreines New Metal-Projekt darzustellen, wäre wirklich zu viel des guten, aber die Grundelemente sind da: Rollende, dick aufgetragene Grooves, akzentuierte Basslines, ulkige Rhythmuswechsel und nicht zum Schluss Max Cavalera, der hier so manches mal den pissig scattenden Rumpelstilzchen-Dreadbanger gibt. Dass die LP am Ende vielleicht sogar ein bisschen näher an Slayer ist als an KoRn, sorgt trotzdem für die nötige Glaubwürdigkeit und vielleicht wäre die Welt für mehr als das noch nicht bereit gewesen. Egal wie man das stilistisch nun aber nennen will, Ritual ist eine der fettesten Metal-Platten des Jahres von einer Band, die ich bisher so überhaupt nicht auf meinem Zettel hatte. Für mich eine der größeren positiven Überraschungen der Saison.

Das beste daran: Das chillige Smooth Jazz-Outro Soulfly XI, ein wirklich ganz besonderes Ständchen der Brasilianer.
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SUN KIL MOON
This is My Dinner
Caldo Verde

Jetzt kann ich es ja zugeben: This is My Dinner ist nicht auf dieser Liste, weil die Musik darauf so unglaublich gut ist oder weil Mark Kozelek hier ein künstlerisches Ausnahmealbum aufnimmt. Es ist einfach nur hier, weil es unfassbar witzig ist. Ein Ausnahmealbum ist es damit vielleicht schon, insofern dass der Songwriter hier wieder Mal eine völlig neue Facette seiner Kunst aufdeckt, mit der eigentlichen musikalischen Darbietung hat das allerdings weniger zu tun. Mehr denn je sind es Kozeleks Texte, die hier viel Platz einnehmen, und wo er sonst tragische Geschichten aus seiner Verwandtschaft oder gesellschaftskritische Monologe von der letzten Tour zum besten gab, sind es hier in bester Henry Rollins-Manier Stories, die die Komik des Alltags offenbaren. Und wie erwartet beweist er auch ein Händchen dafür: Er quatscht über David Cassidy und covert danach einen Song von ihm, spricht grauenvolles deutsch und macht sich über Metalband-Namen lustig. Auf This is My Dinner ist er weniger Erzähler als Unterhalter und das Teilweise in einer Art und Weise, bei der man die Musik fast weglassen könnte. Glücklicherweise ist sie aber noch da, sonst könnte ich diese wunderbare Platte wohl schlecht in eine Liste wie die hier schreiben.

Das beste daran: Wie Kozelek versucht, das Husten der jungen Frau aus Linda Blair nachzuahmen.

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KRAUS
Path
Terrible Records

Etwas mehr als drei Minuten braucht Will Kraus, um auf Path das Shoegaze-Feuerwerk des Jahres zu zünden. Die wenigen Sekunden, die der zweite Song Bum nach dem verhaltenen Intro Figure noch still hält, sind pure Gänsehaut, die nächste halbe Stunde pure Euphorie. Wenn es um Dynamik geht, kann man diesem New Yorker absolut nichts vormachen. 2018 ist das hier die LP mit den tiefsten Kaskaden, den bittersüßesten Breaks und den schärften klanglichen Pointen, die nicht lange zetern, um zur Sache zu kommen. Wofür andere Bands lange ambiente Aufbauten und mindestens zehn Minuten Gewaber brauchen, schafft er in 180 Sekunden und wo andere noch nicht mal ihr Delay-Pedal angeschlossen haben, ist er schön wieder fertig mit seinem Longplayer. Wenn Path eines ist, dann ein hochwirksames Destillat der Idee von Shoegaze, ein konzentriertes Stück Bilderbucharbeit, abgeschaut bei My Bloody Valentine und Slowdive. Kraus' Musik ist wie ein Defibrillator, der mit dicken Gitarrenwänden, plärrigem Schlagzeug und kratzigem Gesang versucht, die späten Achtziger schockreanimiert, nur um ihnen nochmal die Fresse zu polieren.

Das beste daran: Immer, wenn Kraus diese krassen Sechzehntel-Schlagzeugfills reinballert.

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NINE INCH NAILS
Bad Witch
the Null Corporation

Die Nine Inch Nails in einer Jahresbestenliste sind auch so eine Sache, die vor diesem Jahr auch kaum für möglich gehalten hätte. Nicht dass ich sie gehasst hätte, sie waren mir einfach lange Zeit relativ egal. Mit Bad Witch jedoch vollzieht Trent Reznor 2018 noch einmal eine ziemlich umfassende musikalische Neuorientierung, die mich sehr plötzlich zu einem Bewunderer seiner Kunst macht. Auf den gerade Mal 30 Minuten dieser Platte finden die Kalifornier eine neue Radikalität in ihrer Musik, die Einflüsse von überall her einbezieht, wobei Big Beat, Miles Davis, Death Grips und Drum & Bass nur die auffälligsten sind. Bad Witch ist düster, pulsierend, energisch, verschwitzt und verspielt und Reznor bastelt in jedem der sechs Tracks eine völlig neue Höllenmaschine, die alle auf ihre Art faszinierend sind. Von der Wirkung her ändert sich dabei nicht viel, doch die Ausdrucksformen sind in meinen Augen wesentlich cleverer als zuvor. Und dass mit Atticus Ross hier ein weiterer Langzeitpartner hinter den Reglern sitzt, sorgt für das sicherlich beste Mixing des ganzen Jahres. Eine dicke Überraschung von einer scheinbar so eingefahrenen Band, aber eine, die mir 2018 sehr willkommen war.

Das beste daran: Der komplett irre Drum-&-Bass-Groove, der sich durch Ahead of Ourselves zieht.

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TIRZAH
Devotion
Domino Recordings Co.

Devotion war dieses Jahr das beste Album, das ich immer ein bisschen unterschätzt habe. Dass es gut war, wusste ich schon zum Zeitpunkt meiner Besprechung, doch dass es etwas wirklich besonderes war, zeigte sich erst allmählich. Dass es unter all den vielen tollen R'n'B-Projekten dieser Saison jenes sein würde, das bei mir wirklich hängenbleibt, ahnte ich damals nicht. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass Tirzah in dieser Welt noch ziemlich neu und unerfahren ist. Sie hat nicht die große Soulstimme wie viele, ihr Songwriting ist teilweise sehr eigenwillig und die meisten Tracks auf ihrem Debüt sind auf einem einzigen Synthesizer eingespielt. Gerade dieser Dilletantismus macht Devotion aber am Ende so unglaublich erfrischend. Denn so, wie die junge Britin hier arbeitet, erfüllt sie eben keine Klischees, zeigt neue kreative Wege auf und gibt der traditionell sehr glamourösen R'n'B-Schiene einen ziemlich coolen DIY-Anstrich. Und im Gegensatz zu vielem, was sich aus dieser Richtung in den letzten Jahren "experimentell" nannte, ist das hier mal wirklich originell und ansprechend. Definitiv einer der aufregendsten Einstände einer jungen Künstlerinnen in dieser Saison.

Das beste daran: Die bratzige, verzerrte Metal-Gitarre in Guilty, auf jeden Fall der größte WTF-Moment dieser Platte.

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WIEGEDOOD
De Doden Hebben Het Goed III
Century Media

Alle Jahre wieder. Es ist mittlerweile keine Überraschung mehr, dass Wiegedood mit ihrem neuen Eintrag aus der De Doden Hebben Het Goed-Serie unter meinen besten dreißig landen, zum dritten Mal in Folge inzwischen sogar. Mit dem dritten Teil der Reihe scheint sich nun jedoch auch der Vorhang zu schließen, den die Belgier 2015 mit ihrem Debüt aufzogen und uns über vier Jahre den grandiosesten Black-Metal-Zirkus darboten, den man sich hätte wünschen können. DDHHGIII klingt dabei noch einen Zacken epochaler und dramatischer als seine Vorgänger, nimmt sich für viele Dinge wesentlich länger Zeit und erweckt damit auch musikalisch den Eindruck eines ganz großen Finales. Als solches ist diese LP jedoch ebenso gut gelungen wie die beiden letzten Teile der Serie und bäumt sich zum Ende hin wenigstens nochmal richtig bedrohlich auf. Und sie bestätigt, was die ersten beiden Wiegedood-Alben schon klar machten: Diese Band ist eine der besten in Europa, was traditionellen, großkotzig gespielten Black Metal angeht und nach nur drei Platten schon absolut unfickbar. Wenn jetzt Schluss sein soll, dann haben die Belgier wenigstens bei mir ein paar tiefe Furchen hinterlassen und ihr Vermächtnis ist der vielleicht am schönsten gelungene LP-Hattrick der letzten 20 Jahre. Und das nicht nur im Bereich des Heavy Metal.

Das beste daran: Wie behutsam sich das Intro des Titeltracks anschleicht, um kurz danach den schönsten Metal-Jumpscare des Jahres zu vollziehen.

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 SUMAC
Love in Shadow
Thrill Jockey

 Es mag zwar wegen der vielen mäandernden Riffs, dem dämonischen Geschrei und den Drum-Kaskaden erstmal nicht so auffallen, aber in Wahrheit ist Love in Shadow ein Jazz-Album. Wie ich darauf komme? Man muss nur zuhören, was sich hinter dem Lärm verbirgt. Klar sind Sumac hier noch immer eine Post-Metal-Formation, in der sich Mitglieder prominenter Krachmacher-Institutionen wie Isis, Russian Circles und Baptists verstecken, doch die Art, wie sie hier ihre Songs strukturieren, diese scheinbar improvisatorisch komponieren und auch immer wieder großzügige Solierungen einbauen, hat sehr viel mit einer klassischen Jamsession gemein. Die Instruemte der Wahl sind vielleicht Gitarre und Bass statt Saxofon und Piano, weshalb das hier auch oberflächlich nach Metal klingt, würde man diese aber auswechseln, hätte man stellenweise ein ziemlich gutes experimentelles Jazz-Album bekommen. Und allein schon für diese Idee muss man Sumac einfach lieben. Dass die Umsetzung ganz nebenbei auch noch richtig klasse ist, macht Love in Shadow dann endgültig zu einem Favoriten für mich. Was auch endlich mal Zeit wurde, denn ein Platz in so einer Liste gebührt dieser Band eigentlich schon viel länger.

Das beste daran: Immer, wenn das dicke Metal-Riffing hier aufklart und einen Moment lieblichen Postrock-Songwritings offenbart.
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JEFF THE BROTHERHOOD
Magick Songs
Dine Alone Music

Ich hege seit langem eine große Bewunderung für Künstler*innen, die es fertig bringen, etwas aufzunehmen, das ich ein "fließendes Album" nenne. Eine Platte, die weniger über die Qualität ihrer Einzeltracks funktioniert, sondern viel mehr über die Summe ihrer Teile, und die dabei zu jedem Zeitpunkt einen klanglichen Fluss erzeugen kann, der über die gesamte Spieldauer nicht einmal abbricht. Wenige schaffen es, überhaupt so eine LP aufzunehmen, doch noch weniger schaffen es, dabei so faszinierend zu klingen wie Jeff the Brotherhood hier. Magick Songs, das inzwischen siebte Album des Duos aus Nashville, ist nicht nur ein Fluss, es ist ein Mäander, mit dem diese Band sich durch allerhand exotische Gefilde navigiert und dabei mitunter sehr exotische musikalische Entdeckungen macht. Von Proto-Metal über Krautrock und Indierock bishin zu New Age-Ambient finden sich hier unglaublich viele ulkige Stile zusammen, die aber alle irgendwie Teil des gleichen magischen Psychedelik-Trips der Gebrüder Orrall sind und erstaunlich gut zusammen funktionieren. Es ist wie von einem wahnsinnig bunten Raum in den nächsten zu gehen und erst sehr viel später zu merken, dass man die ganze Zeit nie durch eine Tür gegangen ist. Und Platten, die das schaffen, kann ich einfach nur mit Bewunderung gegenübertreten.

Das beste daran: Wie Relish zwischendurch komplett im Proto-Elektro-Dschungel verschwindet

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TY SEGALL
Freedom's Goblin
Drag City

Es ist nicht einfach, bei einem Künstler wie Ty Segall, der pro Jahr gern mehrere Platten veröffentlicht, die für gewöhnlich auch immer sehr gut sind, von einem Opus Magnum zu sprechen. Gerade in dieser Saison war sein Schaffen mal wieder besonders schwer zu überblicken, ganze fünf Longplayer sollen von und mit ihm 2018 erschienen sein. Wenn ich in diesem Fall dennoch jenen Begriff gebrauche, dann weil sich Freedom's Goblin, das "offizielle" neue Soloalbum des Kaliforniers, tatsächlich wie etwas besonderes und großes anfühlt. In seinen 74 Minuten Spielzeit ist es nicht nur sein bisher umfangreichstes geschlossenes Projekt, sondern bei weitem auch sein vielseitigstes. Mit dem Füßen im Fuzzrock greift Segall hier nach Disko, Funk und Soul, schreibt Klavierballaden und fast avantgardistische Noise-Bretter, die sich die Klinke in die Hand drücken, als wäre nichts dabei. Nach seinem etwas konservativen Output in den letzten Jahren ist diese LP nun der erneute Ausbruch des exzentrischen Freak-Songwriters in ihm, der immerhin dazu führt, dass seine Musik zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder in einer meiner Bestenlisten steht. Mit einem seiner besten Alben überhaupt.

Das beste daran: Wenn Segall sich in And, Goodnight am Ende selbst covert.

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ARMAND HAMMER
Paraffin
Backwoodz Studios

Eine wichtige Kraft und absolute Ausnahmeerscheinung im Rap sind Armand Hammer schon seit ihrer Gründung vor sieben Jahren, doch dieses eine, wirklich überzeugende, komplett runde Albumerlebnis fehlte ihnen bis hierhin noch. Und obwohl ich mir sicher war, dass sie es irgendwann schon noch hinbekommen würden, haben sie sich mit Paraffin dieses Jahr selbst überholt. Nicht mal ein Jahr nach ihrer letzten LP Rome veröffentlichen sie hier nicht nur ein noch viel umfassenderes, sondern auch ein echt großartiges Gesamtwerk, das ihren bisherigen Output nochmal in den Schatten stellt. Die Platte ist dabei mit Sicherheit ihr bisher garstigstes und am deutlichsten Hiphop-zentriertes Projekt, das sich zu hundert Prozent auf die Symbiose von Beats und Bars fokussiert, und dabei faszinierendes zutage fördert. Das erste Mal sind Armand Hammer dabei nicht nur ein Kollektiv mit richtig guten Texten, sondern ballern auch musikalisch ganz ordentlich, ein paar Tracks gehen sogar als echte Banger durch. Und es ist bezeichnend, dass es am Ende so ein Album ist, das für mich die beste Hiphop-Gesamtleistung 2018 repräsentiert und eben nichts von Travis Scott oder Drake. Denn diese beiden MCs haben wenigstens einen Arsch in der Hose. Sowas sollte 2019 vielleicht wieder ein bisschen mehr Priorität bekommen.

Das beste daran: No Days Off, der bisher größte Ohrwurm von Armand Hammer.

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FRANKIE COSMOS
Vessel
Sub Pop

2018 sollte eigentlich das Jahr von Frankie Cosmos werden. Der frische Deal bei Sub Pop und die zahllosen Vorschusslorbeeren aus der Online-Fangemeinde ließen Vessel zum Zeitpunkt seines erscheinens wie eine ziemlich sichere Kiste aussehen, irgendwie wurde es mit dem Durchbruch am Ende aber nicht wirklich was. Dabei ist das hier das bestmögliche Album, das man sich von dieser Künstlerin wünschen kann: Ganze 18 neue Stücke, allesamt mit fantastischem Songwriting, quirligen Texten und jeder Menge Charakter, die Greta Kline von ihrer besten Seite zeigen. Nichts wirklich neues, aber eine LP, die die kreative Identität dieser Sängerin für die größere Bühne optimal aufbereitet. Für mich persönlich ist die New Yorkerin damit die Künstlerin, die mich hier doch noch mit dem Konzept des niedlichen Garagenrock-Albums versöhnt und ganz klar eines der vergessenen Indie-Highlights der Saison abliefert. Herrlich verspult, auf die simpelste weise einfallsreich, irgendwie spontan und am Ende doch gut genug ausgearbeitet, um auch die richtige Laufkundschaft anzusprechen. Das Problem liegt also nicht bei Kline, sondern bei den Leuten, die lieber Mac DeMarco hören. Pech gehabt!

 Das beste daran: "If I thought really hard about flying / I could probably do / I'm just too tired for trying"

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TONY MOLINA
Kill the Lights
Slumberland Records

Es liegt eigentlich nahe, Tony Molina vorzuwerfen, ein fauler Sack zu sein. Alle zwei Jahre macht er eine Platte, die höchstens eine Viertelstunde geht, verkauft diese als vollwertigen Longplayer und lässt anschließend wieder fünfe gerade sein. Hört man diese Alben jedoch erstmal, reichen wenige Sekunden, um vom Gegenteil zu überzeugen: Seine Songs mögen nicht besonders lang sein, doch fließt in sie eine unglaubliche Sorgfalt und eine Liebe zum Detail, die andere Künstler*innen gerne übersehen. Jede Nuance einer Melodie, jedes noch so kleine Fill und jeder Gesangston ist an der richtigen Stelle, für achtzig Sekunden Song wird hier eine opulente Backingband aufgefahren und auch in Sachen Sound traut sich Molina inzwischen ein bisschen mehr zu. Kill the Lights ist 2018 damit seine bisher größte Pop-Platte geworden, die den Mainstream der ausgehenden Sechziger feiert und im Zuge dessen auch das erste Mal echte Ohrwürmer fabriziert. In ihrer gewohnt knappen Manier verfügen seine Tracks dabei über alles, was ein Stück Musik gut und eingängig macht und ist in knapp 15 Minuten auf keinen Fall als etwas anderes als ein vollwertiger Longplayer zu verstehen. In meinen Augen sogar als sein bisher bester.

Das beste daran: Wenn Molina im Outro nochmal alle Register seiner Backingband zieht.

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KALI UCHIS
Isolation
Virgin EMI

Es muss ein ähnliches Gefühl gewesen sein, vor fünfzehn Jahren das erste Mal ein Album von Amy Winehouse zu hören. Einfach direkt zu wissen, was diese Frau auf dem Kasten hat und eine Platte zu haben, die ihr Charakter und ihre Stimme so beherrscht, dass sie über alle Zweifel erhaben ist. Dabei ist Isolation noch weit davon entfernt, perfekt zu sein. An vielen Stellen ist diese LP weniger ein geschlossenes musikalisches Konstrukt als einfach eine Sammlung von Tracks, die keinerlei Zusammenhang finden und Kali Uchis lässt sich stilistisch gern treiben, aber das ist vollkommen egal. Weil einfach jede Nuance hier unglaublich gut ist. An welchem Genre sie sich gerade auslässt, mit wem sie dabei zusammenarbeitet oder ob sie nun auf spanisch oder englisch singt, ist komplett irrelevant, weil sie einfach eine Künstlerin ist, die einen Song verkaufen kann. Und dass das auf einem teilweise eher lückenhaften Debütalbum so ist, zeigt umso mehr, was für ein krasses Potenzial die Kolumbianerin in Zukunft noch hat. Popstars wie sie sind ein seltener Schatz und man kann nur hoffen, dass dieser in den folgenden Jahren nicht allzu sehr ausgeschlachtet wird. Denn wir wissen ja alle, was mit Amy Winehouse passiert ist...

Das beste daran: "but why should I be Kim, I could be Kanye": Empowerment-Line des Jahres!

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ADRIANNE LENKER
Abysskiss
Saddle Creek

Auch Adrianne Lenker ist eine Künstlerin, die sich in ihrer Musik vor allem auf das Charisma ihrer Stimme verlassen kann, mit dem Unterschied, dass sie inzwischen souverän genug ist, darüber hinaus kaum noch andere Ausdrucksmittel zu brauchen. Abysskiss ist eine LP, die selten über das minimalistische Gefüge eines von der Akustikgitarre begleiteten Sololieds hinausgeht und wenn doch, dann nur für ein paar eingestreute Field Recordings oder ein kaum wahrnehmbares Piano. Entsprechend schwierig ist es demnach, über die Platte große Lobeshymnen zu singen, denn zu beschreiben ist sie relativ schwierig. Was aber nur heißt, dass ihr Songwriting, ihr Gesamtklang und die darauf eingefangene Performance umso besser sein müssen, damit sie ohne weiteres in einer Liste mit meinen liebsten Alben des Jahres landet. Und dass die ganze Sache ein bisschen mysteriös bleibt, trägt zum Hörerlebnis am Ende eigentlich auch nur bei. Eines der stillsten Highlights dieser Saison, das man aber definitiv nicht verschlafen sollte.

Das beste daran: Die ganz subtile Drum-Maschine, die in Symbol nebenher puckert.


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SNAIL MAIL
Lush
Matador

Keine 19 Jahre jung ist Lindsay Jordan, als Lush im Juni dieses Jahres erscheint, ein zartes Alter für ein LP-Debüt bei Matador. Der Fairness halber muss man aber auch sagen, dass Jordan eines dieser Songwriting-Talente ist, die aus ihrer Jugend das größte nur mögliche Kapital schlagen. Viele Songs hier könnten von niemandem über 20 geschrieben sein, so pubertär und mädchenhaft wie sie manchmal klingen und dass man sie ernst nimmt, liegt ehrlich gesagt gerade daran. Denn wenn diese Platte schon ein Teenie-Tagebuch sein muss, dann ist es eines dieser coolen Kids mit schwarzem Lippenstift und Doc Martens, die nie mit einem reden und die so herrlich mysteriös sind, bis man merkt, dass sie eigentlich nur niemandem zum reden haben. Und es ist schön, dass Snail Mail damit im Moment ein bisschen Erfolg hat, denn sie zeigt, dass man diese Sachen auch anders handhaben kann als ein XXXtentacion (der heute ungefähr so alt wäre wie Lindsay) und dass die gute alte Garagen-Songwriterin-Nummer trotzdem noch zieht. High School never ends? Die Neunziger scheinbar auch nicht.

Das beste daran: Wenn man in Heat Wave die Schweißtropfen förmlich hören kann.

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<06>

TWIN SHADOW
Caer
Reprise

All diese Jahre habe ich auf Leute wie the Weeknd und Frank Ocean geschaut, in der Hoffnung, sie mögen eines Tages das Album machen, das jetzt irgendwie doch Twin Shadow gemacht hat. Der Typ, den ich immer ein bisschen als den Klassenclown des modernen R'n'B abgetan hatte und der heimlich lieber Hairmetal-Platten machen würde, veröffentlicht 2018 die LP, die die Transzendenz seines Fachbereichs mit der besten B-Note absolviert. Caer ist nicht so komplett draußen wie ein Blonde und nicht so verhalten wie die Sachen von Blood Orange, aber George Lewis weiß, dass man am Ende auch noch Songs schreiben muss. Und ihm ist dabei jedes Mittel recht. Mit der Power von Springsteen, dem Soul-Verständnis von Prince, der Entrücktheit von Bon Iver und der Catchiness von Phil Collins schreibt hier er hier ein Album, das mal unterkühlt, mal nostalgisch, mal theatralisch ist. Aber definitiv nie langweilig. Womit er hier nicht nur die bisher beste LP seiner Karriere vorlegt, sondern ein Bilderbuch-Beispiel dafür, wie experimenteller R'n'B tatsächlich sehr angenehm sein kann. Und dass es eben nicht immer Frank Ocean sein muss.

Das beste daran: Jedes verdammte Gitarrenfill in Saturdays.

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<05>

TURNSTILE
Time & Space
Roadrunner Records

Als Turnstile vor gut vier Jahren ihr Debüt veröffentlichten, amüsierte ich mich noch über ihre eigenwillige Mixtur als Achtziger-Crossover und Hardcore-Punk, die so schön albern nach Faith No More und Freaky Styley-Funkmetal klang, 2018 macht die gleiche Band damit das mit Abstand beste Punkrock-Album der Saison. Sicher, es hat schon einen ordentlichen Rundumschlag gebraucht, um diese Gurkentruppe zu einer ernstzunehmenden Szene-Hoffnung zu machen, aber das Ergebnis spricht für sich: Time & Space sind 25 Minuten grandiose Krachmusik mit ordentlich Energie, Zappel-Faktor und einer bestechenden Kreativität, die man im Hardcore-Bereich nicht allzu oft hat. Das Faible für Crossover-Elemente ist dabei nach wie vor nicht ausgemerzt, aber zumindest so kanalisiert, dass es zum Vorteil des Albums funktioniert und nicht zuletzt einige der coolsten Momente hier erzeugt. Und dass es bei Turnstile läuft, beweisen nicht zuletzt die unzähligen Fans, die diese Band im Laufe des Jahres überall dazugewonnen hat. Sowas freut mich, denn mit Time & Space sind die Kalifornier auch wirklich zu einer Band geworden, der ich diesen Erfolg von ganzem Herzen gönne. Ganz abgesehen davon, dass sie endlich den Hardcore zurück in dieses Format bringen.

Das beste daran: Immer wenn es mit der Band hier durchgeht und sie doch wieder Faith No More sein wollen.

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<04>

MOUNT EERIE
Now Only
P.W. Elverum & Sun

Now Only hatte definitiv nicht ganz das schockierende Betroffenheits-Moment, das A Crow Looked at Me im letzten Jahr hatte und wurde deshalb von vielen ein bisschen ignoriert. Bedauerlicherweise, denn wenn ich ehrlich bin, mag ich es ein bisschen lieber als seinen Vorgänger. Beziehungsweise ist es das optimale Sequel, das Phil Elverums Verlustverarbeitungs-Narrativ eine neue Perspektive verleiht. Wo die letzte Platte 2017 die schwere Trauerarbeit leistete und die emotionale Leere des Songwriters eindrücklich kommunizierte, ist Now Only nun die Platte, auf der das Leben weitergeht. Sie ist voll mit Erinnerungen an Geneviève Castrée, die Ehefrau, die er auf A Crow Looked at Me verlor, handelt von der Beziehung der beiden und beginnt, langsam loszulassen. Es ist ergreifend zu hören, wie Elverum hier seinen Humor wiederfindet, wie er ihr gemeinsames Leben beschreibt und es in Abschnitten noch einmal zurück verfolgt. Die sechs Songs sind dabei weniger ein Porträt seiner Empfindungen, sondern eher eine Hommage an die Frau, die er liebte. Und damit auf seine Art ebenso eindrücklich wie der Vorgänger.

Das beste daran: Wie sich Elverum in Distortion über Jack Kerouac aufregt. Einer der schönsten humorvollen Momente dieser LP.

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<03>

MITSKI 
Be the Cowboy 
Dead Oceans

Vor zwei Jahren prophezeihte ich, dass es bestimmt nicht mehr lange dauern würde, bis die Welt erkennt, dass Mitski Miyawaki schon lange eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation ist, die die Welt zwar auch nicht besser versteht als wir, aber wenigstens ihre Verwirrung darüber großartig zu kommunizieren versteht. Und wo ihre Vorgänger diese Gabe noch etwas ungelenk vermittelten, findet die New Yorkerin auf ihrer vierten LP endlich auch die musikalische Sprache, um ihr Publikum kollektiv zu desillusionieren. Mit vollem Erfolg: Be the Cowboy ging 2018 bei der Presse duch alle Decken und machte Mitski zum forcierten Shooting-Star der Indie-Szene, was irgendwie seltsam, vor allem aber hoch verdient ist. Denn wenige Platten haben dieses Jahr inhaltlich einen so großen Eindruck hinterlassen wie diese. Die Texte hier sind nicht selten auf subtile Art brutal, die Performance passend dazu herrlich ungeschönt und trotzdem passioniert, und die Musik dazu zwar irgendwie poppig, aber auf eine kalte und fiese Weise. Mitski braucht kein großes Besteck, um dahin zu gehen, wo es weh tut und schafft eine Atmosphäre, die ganz und gar ihre eigene ist. Was Be the Cowboy zu einem äußerst denkwürdigen Album mit karrieredefinierendem Potenzial macht. Im Optimalfall geht es bei ihr aber auch erst so richtig los.

Das beste daran: Dass sich Two Slow Dancers am Ende nochmal richtig viel Zeit nimmt, um den Finger in die offene Wunde zu legen.

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EFRIM MANUEL MENUCK
Pissing Stars
Constellation

Dieser zweiter Platz für Efrim Manuel Menuck ist nicht zuletzt auch für mich selbst eine ziemliche Überraschung gewesen. Klar mag ich seine Musik schon lange, doch dass das nicht nur für seine Platten mit Godspeed und Thee Silver Mt. Zion gilt, sondern auch für seine zähen, schwerfälligen Soloplatten, hatte ich nicht unbedingt erwartet. Und gerade Pissing Stars ist in dieser Hinsicht alles andere als zimperlich: 46 Minuten tonnenschwere Drones, durchgehend langsam und behäbig, dazu ab und an ein bisschen blasser Gesang von Menuck - Easy Listening klingt anders. Doch mit all seiner Grantigkeit, der depressiven Masse und den gelegentlichen Momenten, in denen der Kanadier diese hier auch bricht, gibt es auf dieser LP keine Sekunde, die ich nicht faszinierend finde. Es scheint, als könne dieser Typ einfach nicht anders, als selbst auf einer scheinbar so simplen Platte wie dieser absolut monumentale Musik zu machen, die mich in Ehrfurcht erstarren lässt. Und dass er sich dabei immer mal wieder neu erfindet, macht die Sache noch ein bisschen besser. Vielleicht muss man ein Fan seiner Musik sein, um Pissing Stars wirklich die Freude zu entlocken, die ich daran habe, doch gleichzeitig ist es erfrischend, wie wenig das hier mit Godspeed zu tun hat. Denn wo die seit einiger Zeit gerne etwas eingeschlafen wirken, macht er auf eigene Faust jetzt ein Haufen verrücktes Zeug, das zeigt, dass er noch lange nicht am Ende angekommen ist. Auch wenn man dafür etwas mehr Geduld mitbringen muss.
 Das beste daran: Wenn Menuck mit A Lamb in the Land of Payday Loans seinen bisher größten Popsong enthüllt.
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<01>

JULIA HOLTER
Aviary
Domino Recordings Co.
2018 war das Jahr, in dem es mit Julia Holter durchging. Das Jahr, in dem sie als Komponistin nicht mehr diejenige sein wollte, die Musik einfach nur macht, sondern die, die sie erforscht. Die Kreativität nicht länger als Mittel zum Zweck nutzt, sondern diese als eigentlichen Prozess beleuchten will. Die Musik nicht als unbewegliches Produkt begreift, sondern jede Faser ihrer Entstehung erfassen will. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Ein kaputtgespieltes Orchester und zwei dutzend Stimmbänder später ward Aviary geboren, ein Album mit 90 Minuten voller Songs, die Komposition nicht primär als Kunst, sondern viel eher als experimentelle Wissenschaft betrachten. Ein Album, auf dem fast jeder Ton das Ergebnis einer tiefen spielerischen Auseinandersetzung mit dem Medium Musik ist, ein Album, das nicht weniger probiert, als die Natur des Songwritings an sich auszuhebeln, aus nicht mehr als reiner Neugier. Sich das Ergebnis hier zu Gemüte zu führen, ist folglich kein Zuckerschlecken: Es kann anstrengend sein, es kann furchtbar nerven, es ist langwierig und am Ende ist man vielleicht sogar enttäuscht vom Resultat. Meine persönliche Erfahrung mit Aviary war jedoch nicht weniger als eine kleine Offenbarung: Julia Holter bricht hier ihre eigenen Grenzen auf, präsentiert die Extreme ihres musikalischen Könnens, nutzt die seltsamsten Instrumente auf ganz unkonventionelle Weisen und bildet schlussendlich etwas ab, das in seiner Imperfektion und Unfertigkeit absolut grandios ist. Diese LP ist kein Kunstwerk, sie ist ein Forschungsresultat, deren schlussendlich verifizierte These lautet: Musik ist schon eine verdammt coole Sache.

Das beste daran: Wenn in I Shall Love 1 das ganze Orchester ordentlich Gummi gibt.





Sonntag, 23. Dezember 2018

2018: Die 20 besten Songs


> TONY MOLINA
> Nothing I Can Say
> Aus dem Album Kill the Lights









Niemand war 2018 besser darin, über eine Reihe von niedlichen Singer-Songwriter*in-Nummern einen haufen Zuckersirup zu gießen und diese dann als Mini-Hits zu verkaufen, als Tony Molina. Seine neue Platte Kill the Lights ist zum Bersten voll mit kuscheligen Sixties-Momenten und die Tatsache, dass er sich selten mehr als eine Minute gibt, um einen Ohrwurm zu schreiben, macht seine Tracks zumeist noch effizienter. Das beste Beispiel dafür ist sicherlich Nothing I Can Say, der Opener der neuen LP, der verträumt-melancholisch irgendwo zwischen Simon & Garfunkel, Brian Wilson und den Kinks umhertingelt, aber plötzlich gar nicht mehr so harmlos ist, wenn man die Melodie tagelang nicht aus dem Kopf bekommt. Ein Popsong wie eine Insulinspritze: Schnell und gezielt, aber mit viel Zucker.

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> TOCOTRONIC
> Ich lebe in einem wilden Wirbel
> Aus dem Album Die Unendlichkeit









Wie das so ist bei einer Tocotronic-Platte ist auch Die Unendlichkeit nicht gerade knapp bestückt mit tollen, inspirierenden Bewusstseins-Hymnen, was bedeutet, an dieser Stelle könnten locker auch Electric Guitar, 1993 oder der Titeltrack stehen. Da hier jedoch gilt, dass pro Künstler*in ein Song reichen muss, ist Ich lebe in einem wilden Wirbel sicher der beste Kompromiss. Er hat das treibende, actionreiche Songwriting, das diese Platte so unglaublich gut kann, steht an genau der richtigen Stelle auf dem Album und ist mit nicht Mal drei Minuten auch alles andere als ein Slowburner. Dazu kommen eines der eingängigsten Gitarrensoli des Jahres, die herrlich akzentuierten Rhythmusschleifen und nicht zuletzt Dirk von Lowtzows euphorische Lyrics. Einer der seltenen Tracks der Hamburger, der wirklich unweigerlich nach vorne geht und damit schon so etwas wie das versteckte Highlight der neuen LP.

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>TWIN SHADOW feat. HAIM
> Saturdays
> Aus dem Album Caer









Für einen R'n'B-Künstler hatte George Lewis schon immer einen ungewöhnlichen Hang zu Achtziger-Arenarock der Marke Bruce Springsteen, der auf seinen Platten stets ein bisschen durchschimmerte, doch mit Saturdays hat er diesem Faible nun endgültig ein Denkmal gesetzt. Gleichermaßen ein krachiger Rocksong wie eine elegante Synthpop-Nummer findet er hier ein unglaublich ansteckendes Amalgam aus Retro-Bezug und Aktualität, das vor allem der vielleicht fetteste Single-Hit-Brocken des Jahres geworden ist. Eine extrem starke Hook, dick produzierte Drums, eine großartige Strophe von Haim und tausendundein Gitarrenfill, in das man sich am liebsten reinlegen würde. Definitiv der eine große Aha-Moment des neuen Twin Shadow-Albums und einer meiner persönlichen Dauerbrenner 2018.

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>THE SMASHING PUMPKINS
> Solara
> Aus dem Album Shiny and Oh So Bright Vol. 1: No Past, No Future, No Sun







Ja, ich weiß: Solara ist nur geil, weil es so nach den Pumpkins der Neunziger klingt und eigentlich ziemlich billig das kopiert, was diese Band genau so schon auf Mellon Collie und Adore machte. Wenn ich diesen Vergleich aber schon ziehe, dann muss ich auch betonen, dass der Track dabei ohne weiteres in einer Reihe mit legendären Stücken wie Cherub Rock, Love oder Bullet With Butterfly Wings genannt werden kann und wenn schon eine Selbstkopie, dann eine wahnsinnig gute geworden ist. Wenige Künstler*innen der damaligen Zeit, die aktuell neue Musik veröffentlicht haben, klangen damit so fett und präsent wie die Pumpkins hier und an Passion für ihre Musik hat diese Formation in den letzten zwei Dekaden kein bisschen verloren. In meinen Augen einer der besten Einzeltracks ihrer gesamten Diskografie. Change My Mind.

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>CYPRESS HILL
> Band of Gypsies
> Aus dem Album Elephants On Acid









Auch Cypress Hill waren 2018 eine Band, die mit ihrem neuen Material vor allem an frühere Erfolge anknüpfte, und obwohl Band of Gypsies als Leadsingle der neuen LP viele Attribute alter Hits hat, ist es hier doch weit mehr als reine Reproduktion. Die Kalifornier klingen weiterhin fett und lieben nach wie vor ihre Rauschgift-Lyrics und großkotzige Samples mit ordentlich Strahlkraft. Im Gegensatz zu vielen Neunziger- und Zweitausender-Sachen von ihnen geht ihnen diesmal aber jene Albernheit völlig ab, die mir einige frühere Hits immer madig machte. Dieser Track ist sehr getragen, hat eine gewisse erhabene Aura, büßt dafür aber kein Stück der Hitzigkeit, Attitüde und Credibility ein, die für eine Band wie Cypress Hill überlebenswichtig ist. Und ist nebenbei vor allem mal wieder ein echt stabiler Banger.

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>POLIS
> Gedanken
> bisher unveröffentlicht









Noch immer muss man sich mit einem Live-Clip auf YouTube begnügen, um die erste zarte Blüte des kommenden Polis-Albums überhaupt hören zu können, doch auch dieser erlaubt keinen Zweifel daran: Gedanken ist ein unfassbar starker Song. Aus dem gleichen Garn wie ihr grandioser Vorgänger Sein gemacht, entfaltet sich hier erneut ein mehrteiliges Hippie-Prog-Opus, in dem alles absolut filigran zusammenklebt. Von den winzigen Bass-Einschüben zu Beginn über das fast wie ein Refrain anmutende Gitarrensolo und die chorischen Gesangsparts bishin zum bombastischen Finale, bei dem die ganze Band zusammenkommt. Und das krasse: In etwas mehr als fünf Minuten ist das alles abgefrühstückt. Definitiv ein erstes großes Highlight jener LP der Plauener, die hoffentlich 2019 endlich auch zu haben ist.

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> IDLES
> Danny Nedelko
>Aus dem Album Joy As An Act of Resistance









Es gab in den letzten Jahren sehr viele, auch sehr gute Beispiele für düstere und wütende Songs gegen Xenophopie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und das ist ja alles auch sehr wichtig und so. Aber es braucht erst Idles und diesen Song hier, um zu begreifen, dass Toleranz und kulturelle Vielfalt eigentlich Sachen sind, über die man auch proaktive und spaßige Musik schreiben kann. Danny Nedelko, benannt nach einem Kumpel der Band, ist ein Track, der in Zeiten der politischen Abschottung (gerade im Idles-Heimatland Großbritannien) den Multikulturalismus feiert und ganz klar darauf abzielt, nicht reaktionär gegen Nationalismus zu pushen, sondern die Sache von der menschlichen Seite anzupacken. Eine Vorgehensweise, die vielleicht nicht so punk ist wie die Kontra-Argumentationsschiene, aber viel geiler klingt und hier zu einer echten Hymne wird.

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> ROSTAM
> In A River
> veröffentlicht als Single









Obwohl Rostam Batmanglij schon immer der heimliche kreative Kopf bei Vampire Weekend war, stellte es selbst für ihn eine Herausforderung dar, dem klanglichen Kosmos dieser Band in seinem Solomaterial noch etwas wirklich originelles hinzuzufügen. Sein letztes Album ist noch immer der beste Beweis dafür. Mit In A River jedoch gelingt es ihm nicht nur, sich von seiner ehemaligen Stilistik zu emanzipieren, er schreibt auch noch seinen mit Abstand besten Song bisher. Er klingt dabei zwar eher wie Eddie Vedder als wie Peter Gabriel und die deutlichen Einflüsse aus Americana und Country sind sicherlich gewöhnungsbedürftig, ziemlich genial ist das Ergebnis am Ende trotzdem. Der Track vermengt Folk, Electronica und R'n'B auf einzigartige Weise und schafft jenes Gefühl von Grenzenlosigkeit, die Songs wie dieser im Optimalfall haben. Ein kreativer Boost für Rostam als Solokünstler, der ein weiteres Mal die Frage stellt, was Vampire Weekend ohne diesen Typen eigentlich anfangen sollen.

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> BEIRUT
> Gallipoli
> veröffentlicht als Single









Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass Zach Condon sich mit diesem Song in keinster Weise neu erfindet, sondern in vielerlei Hinsicht eher wieder die alte Leier spielt, die er 2011 auf the Rip Tide schon perfektioniert hatte. Im Klartext heißt das aber auch, dass Gallipoli ihn seit langem mal wieder in kompositorischer und klanglicher Bestform zeigt. So wie hier mag ich Beirut am liebsten: Die soften elektronischen Einschübe, die dick aufgetragenen Balkan-Bläsersätze und Condons feierlichen, getragenen Gesang als Sahnehaube obendrauf. Mit diesen Parametern funktioniert seine Musik auch 2018 noch so gut wie vor zehn Jahren und hat nichts von ihrer Kraft und Emotionalität verloren. Ein Highlight der Saison, weil ein zeitloses Dokument für das Können dieses Künstlers.

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> JULIA HOLTER
> I Shall Love 1
> Aus dem Album Aviary









Für viele Fans war der Zwillings-Track I Shall Love 2 dieses Jahr der Song, der den kreativen Geist von Julia Holter am besten transportierte und an dieser Ansicht ist sicherlich auch was dran. Wenn es darum geht, welches Stück am Ende ihr bestes in dieser Saison ist, kann es für mich persönlich aber nur dieser sein. Als bombastischer Auflösungs-Moment der zweiten Hälfte von Aviary präsentiert er das volle Spektrum an orchestraler Kraft und kompositorischer Klasse auf ein grandioses Motiv reduziert, das sich Mantra-artig über die flirrende Sinnsuche erhebt, die Holters neues Album in jeder Faser ist. In gewisser Weise ist das hier der Moment, in dem die anderthalb Stunden Musik auf dieser LP zu einer Explosion finden, auf die alles bisher geschehene hinausläuft. Ganz nebenbei funktioniert I Shall Love 1 aber auch als einer der wenigen Songs auf Aviary losgelöst vom Konzept der Platte. Kurzum also eine absolute Bombe von einem Titel und das Highlight auf einem der besten Gesamtwerke dieser Saison.

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 > BALTHAZAR
> Fever
> veröffentlicht als Single









Hätten wir 2011 und die Mainstream-Laufkundschaft würde sich noch für verwegene Indiepop-Knüller interessieren, Fever wäre schon lange der Hit des Jahres. Was Balthazar aus Gent hier gelungen ist, ist einer dieser chilligen, unterschwellig wild-romantischen und verdammt eingängigen Tracks, die vielleicht nicht mehr ganz im Trend liegen, aber deshalb kein bisschen weniger Energie besitzen. Ein Song, der lange unter der Oberfläche vor sich hinbrodelt und von dem man erst nicht so richtig weiß, was man von ihm halten soll, bis diese unglaubliche Hook über einen losbricht und einfach über alle Zweifel erhaben ist. Ab dann kann man sich auch über die vielen hübschen Details freuen, die die Belgier hier eingebaut haben: Die sanfte Percussion, die flirrenden Streicher in der zweiten Strophe und eine der besten Basslines des gesamten Jahres 2018. Ein Stück mit vielen Facetten, das sowohl als bequemer Popsong taugt als auch als filigrane songwriterische Studie. Und definitiv eine Nummer, die 2019 noch viel größer werden muss. Weil sie es einfach mal verdient hat.

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> EFRIM MANUEL MENUCK
> A Lamb in the Land of Payday Loans
> Aus dem Album Pissing Stars









In über 20 Jahren musikalischer Aktivität war Efrim Menuck für jede Menge tolle und besondere Stücke verantwortlich, nicht wenige davon zähle ich zu persönlichen Favoriten. Etwas wie A Lamb in the Land of Payday Loans ist mir dabei jedoch nicht mal ansatzweise untergekommen. Auf einer Platte voller ambienter und finsterer Drone-Schwergewichte platziert der Pabst des Postrock hier eine Nummer, die für seine Verhältnisse als astreiner Popsong durchgeht. Basierend auf einer Gitarrenharmonie, die unwillkürlich an MGMTs Time to Pretend erinnert, bastelt er hier einen skurril optimistischen, ja fast euphorischen Track, der mehr oder weniger das komplette Gegenteil seiner gesamten bisherigen musikalischen Arbeit ist. Sicher, die verzerrten Amps, die LoFi-Produktion und der ungelenke Gesang sorgen auch hier am Ende für die nötige Portion Disharmonie und eine Castingshow würde Menuck damit auf keinen Fall gewinnen, im Verhältnis zu seinem sonstigen Output aber definitiv ein Ausreißer. Und eine wirklich gelungene Überraschung, wenn man mich fragt.

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> LEON BRIDGES
> Bad Bad News
> Aus dem Album Good Thing









Leon Bridges war dieses Jahr wahnsinnig gut darin, großartiges Songwriting in scheinbar belanglosen, seichten Souljazz-Nummern zu verstecken, die sich erst nach wiederholtem Hören so richtig entfalten konnten. Bad Bad News fällt in diesem Spiel die Rolle des heimlich groovenden, chilligen Swagger-Hits zu, der seine Tanzbarkeit unter haufenweise Schichten edler Jazz-Klischees eingräbt und die Hörenden aus dem Hinterhalt befällt, ähnlich den Figuren im dazugehörigen Video. Wie bei allem 2018 geht es dabei auch irgendwie um Donald Trump, vor allem ist der Song aber ein Zeichen des Triumphes und besingt den Sieg über das unbeugsame Schicksal. Ein Narrativ so alt wie der Soul selbst. Leon Bridges zeigt jedoch, dass auch diese klassische Herangehensweise nicht langweilig ist, wenn die Performance stimmt.

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> A$AP FERG
> Verified
> veröffentlicht als Single









Verified ist einer der wenigen straighten Rap-Banger in dieser Liste, dafür dann aber auch so richtig: Kaum länger als zwei Minuten braucht Seine Lordigkeit A$ap Ferg hier, um einfach nur bedingungslos zu ballern und einen der vielleicht stupidesten, aber auch großartigsten Hiphop-Tracks des Jahres abzuliefern. Tweek Tunes Beat hier ist unglaublich minimalistisch, greift aber an den richtigen Stellen an und bietet die optimale Unterlage für den abgefuckten Flow von Ferg, der hier fast Freestyle-mäßig eine handvoll Bars abliefert, die moderne Rap-Klischees in wenige Worte einkochen. So simpel und verkürzt das ganze am Ende aber auch ist, die Message ist ebenfalls nicht zu verachten: Kurz zusammengefasst: Dein scheiß blauer Haken bei Twitter macht dich noch lange nicht kredibil. Und wenn der Lord das sagt, wird es ja wohl stimmen.

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> MITSKI
> Nobody
> Aus dem Album Be the Cowboy









Spätestens mit ihrem neuen Album Be the Cowboy hat sich Mitski Miyawaki tief in die Herzen der alleinstehenden Großstadt-Millenials dieser Welt gesungen, die Welt zwischen den enttäuschenden Tinder-Matches und der relativen postmodernen Isolation ist das Zuhause ihrer Songs geworden und in gewisser Weise hat sich die New Yorkerin damit 2018 zur Stimme einer Generation gemacht. "I don't want your pity, I just want somebody near me" singt sie darüber in Nobody, dem eindrücklichsten Track der besagten LP und es ist erstaunlich, wie wahrhaftig solche einfachen Zeilen am Ende sein können. Wenn dieser Song einwas ist, dann eine sehr schmerzvolle Message, die sich als unscheinbarer Popsong verkleidet hat und erst dann wirklich zusticht, wenn man genauer hinhört. Was wiederum nicht schwierig ist, denn Mitski besitzt ganz eindeutig eine der charismatischsten Stimmen, die ich dieses Jahr gehört habe und bohrt mit ihrer passionierten Performance den Finger noch ein bisschen mehr in die Wunde. Eine Art von musikalischer Tortur, die sie mittlerweile zur Perfektion betreibt, und Nobody ist ihr bisheriges Meisterstück.

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> WIEGEDOOD
> De Doden Hebben Het Goed III
> Aus dem Album De Doden Hebben Het Goed III








Das musikalische Thema von De Doden Hebben Het Goed ist als Motiv bereits auf den beiden ersten Wiegedood-Platten vorhanden und wurde melodisch immer ein bisschen fortgeführt und ausgebaut. Mit dem dritten Album als Abschluss der LP-Trilogie steht folglich auch die kompositorische Entität dieses Dreifach-Titeltracks am Ende, was die Belgier dazu veranlasst, dem Song hier nochmal so richtig den roten Teppich auszurollen. Mit über zwölf Minuten macht das Ding gut ein Drittel der gesamten Platte aus und kostet davon absolut jede Sekunde aus. Schon das Intro zerrt unglaublich an den Nerven und ab dem Moment, wo Wiegedood die obligatorische Baller-Orgie aurufen, gibt es kein Halten mehr. Mit ihrer letzten Aufwartung macht  die Band hier nochmal das beste aus diesem lang durchgezogenen Song und wenn es ein eindeutiges Highlight auf DDHHGIII gibt, dann dieses großartige, epische Stück Black Metal. Das letzte richtig große Ausrufezeichen am Ende einer beispiellosen Albumserie dieses Trios.

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> LAST DINOSAURS
> Eleven
> Aus dem Album Yumeno Garden









Wenn es dieses Jahr einen Song gab, der den Begriff "Sommerhit" dick und fett auf seiner Stirn stehen hatte, dann definitiv Eleven von den Last Dinosaurs. Zwischen DNCE, Alvvays und Smith Westerns ließen die Australier im Juli eine Atombombe der guten Laune los, deren Druckwelle im Dezember immer noch nicht so richtig an mir vorbeigegangen ist. Die tropischen Gitarrenlines, die Melodiebögen, die unglaublich coole Synthbreak am Ende: Einfach alles hier passt wahnsinnig gut zusammen und liefert in einem Guss einen Track, der gute Vibes förmlich auskotzt. Für den Einstieg in die Charts kommen Last Dinosaurs damit zwar neun Jahre zu spät aber hey, ein toller Song ist ein toller Song, oder? Vor allem, wenn er so unerschrocken positiv daherkommt in einem Jahr, in dem man sich schon gar nicht mehr darüber aufregen will, wie scheiße alles ist.

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> THOM YORKE
> Suspirium
> Aus dem Album Suspiria (Music for the Luca Guadagnino Film)








Melancholische Klavierstücke von Thom Yorke gibt es schon so lange wie es Thom Yorke gibt und klar sind sie immer wieder toll, aber Suspirium ist darunter trotzdem wieder Mal etwas besonderes. Weil niemand sein Instrument so spielt wie dieser Typ. Weil es dieses eigenartige Falsett kein zweites Mal gibt. Weil dieses Stück so viel Schönheit in einer bestechenden Simplizität findet. Und weil es der letzte Beweis ist, den ich brauchte, dass ein Thom Yorke auch ohne Radiohead ein grandioser Künstler sein kann. Der Brite erschafft hier einen magischen Song-Moment, der inmitten des Soundtracks für Luca Guadagninos Suspiria-Remake steht wie eine Blume in der Wüste und auch für sich eine Faszination besitzt, zu der ich immer wieder gern zurückkehre. Für den Maestro selbst wahrscheinlich eine Fingerübung, für mich jedoch ein Meisterwerk, das ich einmal mehr nur bestaunen kann.

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> CHRISTINA AGUILERA
> Twice
> Aus dem Album Liberation









Zugegeben, nicht alles an Christina Aguileras Comeback-Packung Liberation ist zu hundert Prozent gelungen, aber wenn es einen Song auf der Platte gibt, mit dem die Sängerin wirklich Größe zeigt, dann ist es definitiv Twice. Jene Powerballade zwischen Gospel und Soul, die behäbige Themen wie Religion, Enttäuschung und Vergebung aufgreift und dabei nicht zuletzt auch autobiografisch wird, ist in meinen Augen das unbestreitbare Juwel der neuen Platte. Mit nicht mehr als einer Klavierbegleitung und ein paar Backig Vocals packt Aguilera hier die große Emotions-Keule aus und wer ihre Musik kennt, weiß, dass sie dabei vor allem stimmlich tiefe Furchen graben kann. Neu ist hier, dass auch die Komposition des Tracks diese Furchen auskleiden kann und die Frau hier anscheinend wirklich etwas zu sagen hat. Was folgt, sind vier Minuten Leidenschafts-Achterbahn, die auch beim zehnten Mal nicht langweilig werden. Unter Umständen der beste Song, den sie je gemacht hat.

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> MGMT
> Hand It Over
> Aus dem Album Little Dark Age









Es war ganz klar Liebe auf den ersten Blick: Seitdem ich Hand It Over Anfang Januar zum ersten Mal gehört habe, wusste ich, dass MGMT hier einen der besten Tracks 2018 veröffentlicht hatten, und definitiv den bisher größten ihrer gesamten Karriere. Der definitive Übergang der Australier von einer Band, die ironische Mega-Hits schreibt, zu einer, die wirklich als kompositorische Institution wahrgenommen werden kann und Musik fabriziert, die etwas bedeutet. In diesem Fall eine fantastisch getragene Synth-Ballade übers Loslassen, die so verdammt end-gechillt daherkommt, dass man sie einfach bewundern muss. MGMT brauchen hier keine großen Melodiebögen, keine ewigen Soli oder ausgefallenen Instrumente, um zu überzeugen, der Song hat nicht mal einen richtigen Refrain. Trotzdem wirkt das ganze wie das Stück Musik, mit dem die Australier sich selbst überflüssig machen. Denn so wie es aussieht, hat diese Band Popmusik im 21. Jahrhundert durchgespielt. Und Hand It Over ist der letzte große Combo-Schlag, mit dem sie ihr Schicksal besiegeln. Steile These: An diesen Track werden sie nie wieder rankommen.


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