Dienstag, 31. März 2020

Sweet Home Alabama

 [ harmonisch | melancholisch | amerikanisch ]

Wenn es nach mir ginge und ich mich auch nur ein bisschen beherrschen könnte, dann wäre meine letzte Besprechung einer Platte von Katie Crutchfield mittlerweile schon ungefähr fünf Jahre her und ich würde mich eines Lebens erfreuen, in dem ich vielleicht ein paar Stunden mehr Freizeit gehabt hätte, um über andere Künstler*innen zu schreiben. So wie es aber realistisch aussieht, ist die Songwriterin aus Alabama jemand, von dem ich auf Biegen und Brechen nicht los komme und das, obwohl ich den Großteil ihrer momentan existierenden Diskografie bestenfalls durchschnittlich finde. Seit 2014 gibt es von Crutchfield ein sehr okayes Album nach dem anderen und wo ich am Anfang noch das Potenzial einer Newcomerin sah und mit viel Eigeninteresse dabei war, ist es in der Zwischenzeit eine Mischung aus morbider Neugier und Anfragen von Lesenden gewesen, die mich immer wieder und immer widerwilliger zu ihr zurückspülte. Und weil das so ist, will es natürlich auch das Schicksal, dass just nach meinem Beschluss, Waxahatchee in Zukunft nicht mehr so viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ihr bisher erfolgreichstes Album erscheint. Und ich spreche dabei von krassen Relationen, denn obwohl Crutchfield schon immer ein Liebling der Kritik war und zumindest ihre erste Platte einer dieser Geheimtipps war, die am Ende jede*r kannte, findet das Feedback gegenüber Saint Cloud doch auf einem komplett neuen Level statt, das mich ernsthaft überrascht hat. Seitdem die LP am letzten Freitag erschien, bezeichneten sie mindestens zwei sehr prominente Musikplattformen als bisher bestes Album des Jahres und zahlreiche mehr warfen mit Höchstpunktzahlen um sich. Was mich ob solcher Euphorie dann doch wieder dazu brachte, mir das hier mal anzuhören. Und zu einem gewissen Punkt kann ich zumindest verstehen, warum man das hier mögen könnte. Denn von allem, was Crutchfield bis hierhin veröffentlicht hat, ist Saint Cloud mit Sicherheit das rundeste, harmonischste und eingängigste Gesamtwerk, das für die Songwriterin einen weiteren Stilwandel bedeutet. Nach ihren Stationen im Garagen-Indierock und Kammerpop erfindet sich Waxahatchee hier ein weiteres Mal neu, diesmal als erwachsenes Country- und Americana-Projekt mit starkem Neunziger-Bezug, was einer gewissen Zielgruppe immer gut ankommt. Für die gefällige Kulturradio- und Feuilleton-Crowd, die seit jeher was für Leute wie Norah Jones, Alanis Morisette und Sharon van Etten übrig hatte, trifft der Sound dieser LP wahrscheinlich genau ins Schwarze, denn er bietet eine Form von Indiemusik, die sich intelligent und organisch anfühlt, dabei aber selten klanglich herausfordernd ist und immer schön im sicheren Easy Listening-Spektrum bleibt. Saint Cloud ist kompositorisch klar, hochwertig produziert und in gleicher Weise reif und unschuldig, was bedeutet, dass man hier eigentlich wenig falsch machen kann. Doch gerade an dieser Stelle gehen bei mir die Alarmglocken los. Denn eben jene Eigenschaft, dass diese Platte so erhaben und harmonisch ist, macht sie in meinen Augen an vielen Stellen ein bisschen belanglos. Klar ist das Songwriting gut und dass Crutchfield hier diese vorsichtige Country-Richtung einschlägt, hilft ihr auf jeden Fall, doch sind viele Songs inhaltlich weiterhin sehr abgeflacht und die Performances darauf ziemlich langweilig. Die meisten Stücke wirken irgendwie emotional aufgeladen, in den wenigsten merkt man das aber daran, wie die Künstlerin sie vorträgt und dass sie teilweise so eingängig sind, macht sie zumeist eher oberflächlicher als deeper. Es gibt hier natürlich einige echt gute Tracks und ganz generell ist Saint Cloud in keinster Weise peinlich oder so, nur fehlt an vielen Stellen die Persönlichkeit, die bei solcher Musik wichtig ist. Und das ist gerade auch der Grund, warum Waxahatchee eben nicht so ist wie Sharon van Etten oder Marissa Nadler. Weil die es auf ihren Alben hinbekommen, trotz der gefälligen Wärme ihres erhabenen Americana-Sounds echte Schwermut und Emotionalität zu verarbeiten, was Crutchfield irgendwie nicht so sehr gelingt. Bei ihr gibt es nur den molligen Vibe, und der ist für meine Begriffe noch immer der Todfeind ernst gemachter Countrymusik. Zugegeben, es gibt wenige Platten, auf denen die lauwarme Leere dieser Ästhetik so gut klingt wie hier, aber es geht da auch ein bisschen ums Prinzip. Was unterm Strich bedeutet, dass Saint Cloud ein weiteres Waxahatchee-Album ist, mit dem ich meine Zeit verschwendet habe. Und dabei gibt es sicher Leute, die sehr viel lieber etwas über Partynextdoor gelesen hätten. Tja, dumm gelaufen, Freunde.



Hat was von
Andy Shauf
Neon Skyline

Sharon van Etten
Are We There?

Persönliche Höhepunkte
Can't Do Much | Witches | War | Arkadelphia | Ruby Falls | St. Cloud

Nicht mein Fall
Hell

Montag, 30. März 2020

We Live in A Society

[ dadrockig | besserwisserisch | unreif ]

Die Tatsache, dass es inzwischen schon fast sieben Jahre her ist, dass Pearl Jam zum letzten Mal auf einem vollwertigen Longplayer zu hören waren und ich schon damals auf meinem alten Format einen (zum Wohl der Allgemeinheit) mittlerweile gelöschten Artikel über selbige schrieb, ist in meinen Augen vor allem ein Indiz dafür, wie sehr ich mich als Musikhörer in der Zwischenzeit verändert habe und wie wenig ich mit dem damals 16-jährigen Typen gemein habe, der tatsächlich glaubte, ein Fan dieser Band zu sein. Wobei vieles von meiner damaligen Hingabe eher Pflichtbewusstsein als tatsächliche Passion war. Als selbsternannter Grunge-Enthusiast (was ja jeder vernünftige Teenager an einem gewissen Punkt ist) fühlte ich mich eben nur halb so gut, wenn ich mich auf das Einsteigerlevel von Nirvana und Hole beschränkte, weshalb ich zumindest für eine Weile sehr akribisch versuchte, Pearl Jam (ähnlich wie Soundgarden und Alice in Chains) auf Teufel komm raus als Offenbarung zu verstehen. Was rückblickend leider nicht im Ansatz so erfolgreich war, wie ich hoffte. Klar gibt es in der über zwanzigjährigen Diskografie des Quintetts aus Seattle einige Perlen zu bestaunen und Songs wie Do the Evolution oder Hail, Hail sowie große Teile von Eddie Vedders Soloplatten finde ich nach wie vor klasse, doch Pearl Jam als Gesamtheit sind mit inzwischen eher sehr egal. Was auch der Grund ist, warum es mir im Vorfeld von Gigaton schwer fiel, eine klare Erwartungshaltung zu finden. Auf der einen Seite war ich schon gespannt, hier das Quasi-Comeback einer Gruppe zu hören, die ich als Teenager sehr mochte, zum anderen hatte ich an keinem Punkt der Promophase die Hoffnung, davon positiv überrascht zu werden. In den Jahren seit Lightning Bolt von 2013 sind Pearl Jam für mich zu einem Lehrbuchbeispiel für die Art von Musik geworden, die man aus gutem Grund "Dad Rock" nennt und gerade besagte letzte Platte fand ich sogar schon damals ziemlich furchtbar. Das beste, was Gigaton also machen konnte, war die Füße still zu halten und sich mit seiner Rolle als reibungsfreise Rockplatte für Mittfünfziger zurechtzufinden und dabei irgendwie seine Nische zu finden. Allerdings hatte ich dabei die Rechnung ohne die Band selbst gemacht, denn die haben nach sieben Jahren Schaffenspause so gar keinen Bock auf kaltgestellte Zurückhaltung. Schon vor zwei Jahren zeigten Pearl Jam mit mit der zwischendurch abgeschossenen Non-Album-Single Can't Deny Me, dass sie wieder Feuer unterm Hintern hatten und schlugen darauf sehr deutliche und wütende politische Töne an, was ja prinzipiell eine super Sache ist. Das Problem war nur: Der Song war einer der schlechtesten des gesamten Jahres, auf dem man ein paar alte Männer mit Neil Young-Komplex hörte, die sich darüber aufregten, dass alles ja immer schlimmer wird heutzutage und das ja bestimmt daran liegt, dass alle nur noch am Handy sitzen. Und vieles von dieser Geisteshaltung überträgt sich nun leider auch auf Gigaton. Zwar ist die Platte in ihren Ausführungen weit weniger explizit politisch als Can't Deny Me und malt eher ein größeres Bild, das auch den Klimawandel stark einbezieht (siehe Artwork), die Attitüde ist aber die gleiche. Pearl Jam fühlen sich sehr schlau dabei, einige grobe Allgemeinplätze anzusprechen, die im Subtext den Namen Donald Trump mit sich tragen, die aber kein größeres Statement von sich geben als "Früher hätte sich das ja niemand vorstellen können". Und wo das inhaltlich ja noch irgendwie ahnbar und prinzipiell vertretbar ist, ist es vor allem die lyrische Umsetzung, die es peinlich macht. Eddie Vedder reimt hier häufig viele Wörter aneinander, die auf -ation oder -ision enden, was am Ende nicht intellektuell sondern affig wirkt und verwendet dann großkotzige Titel wie Dance of the Clairvoyants oder Retrograde, um es ernsthaft und edgy klingen zu lassen als wäre er selbst noch 17. Wobei die selbstauferlegte Jugendlichkeit nicht nur ein Problem der Texte ist. Nach einigen Gott sei Dank etwas ruhigeren Alben vor der Bandpause ist Gigaton jetzt die Platte, auf der Pearl Jam wieder eine Rockband sein wollen und passend zum politisch rabiaten Inhalt den grantigen Sound von Vs. und Yield ausgraben. Mit katastrophalen Folgen. Ernstens deshalb, weil sie dadurch komischerweise wie eine schlechte Kopie der Kings of Leon klingen, zum anderen weil genau diese Art von adoleszenter Rockröhrigkeit ähnlich kontraproduktiv ist wie die edgy Lyrics und die Band eher unreif wirken lässt als aufregend. Besonders Vedders Gesang leidet darunter ein weiteres Mal extrem und holpert in vielen Songs awkward vor sich hin, statt echte Hooks zu bauen. Und in viel zu vielen Tracks auf dieser LP stehen sich Pearl Jam damit selbst im Weg. Was bescheuert ist, denn in vielen kleinen Momenten zeigen sie durchaus, dass sie diesen Mist überhaupt nicht nötig haben. Insbesondere der letzte Song hier, River Cross, ist ganz als Closer nochmal ein echter Wendepunkt für Gigaton, weil er nicht nur viele Fehler nicht macht, sondern richtiggehend klasse ist. Mit spärlicher Orgelbegleitung und leichtem Country-Einschlag singt Vedder hier über verpasste Chancen und Erfahrungen des Scheiterns, was nicht weniger als genial ist und zeigt, wie gut diese Band eigentlich sein kann. Nur entscheidet sie sich den überwiegenden Teil des Albums lieber dazu, peinlich rumzupöbeln, substanzlose Sozialkritik zu üben und eine Rockigkeit zurückzuquängeln, die sie irgendwann in den Zwotausendern zu ihrem eigenen Vorteil abgelegt hatten. Das Problem ist hier also nicht, dass Pearl Jam es nicht besser können, sie setzen einfach mal wieder die falschen Prioritäten. Und 2020 bin ich nicht mehr an einem Punkt, an dem ich mir einreden muss, dass das unglaublich intelligent wäre, es ist einfach nur ernüchternd. Wobei ich trotzdem hoffe, dass die Band das irgendwann selber merkt und vielleicht doch nochmal ein gutes Album zustande bringt. Denn dass das Handwerkszeug da ist, zeigen sie ja immer wieder.


Hat was von
Kings of Leon
Aha Shake Heartbreak

Incubus
Light Grenades

Persönliche Höhepunkte
Superblood Wolfmoon | Seven O'Clock | River Cross

Nicht mein Fall
Who Ever Said | Dance of the Clairvoants | Quick Escape | Never Destination


Sonntag, 29. März 2020

Was Attitüde heißt

[ sozialkritisch | aufgeräumt | authentisch ]

Als Musikfan, der sich seit langem für gut gemachten Hiphop interessiert und sich politisch doch recht konsequent der linken Szene zuordnet, ist es manchmal ein bisschen traurig, sich das anzuhören, was sich im so alles Deutschrap unter dem Label "Zeckenrap" verkauft. Ihre Funktion als politische Plattform ist eine der coolsten Sachen, die die Sprechgesangs-Szene leisten kann und gerade in den letzten zehn Jahren wächst diese auch hierzulande gewaltig, doch sind die Ergebnisse meistens ein bisschen, nun ja, uncool. So sehr ich mit den inhaltlichen Aspekten des Outputs von Künstler*innen wie Sookee, Neonschwarz, Kummer oder der Antilopen Gang auch klargehe, so anstrengend und peinlich finde ich sie meistens musikalisch und selbst mit K.I.Z., die diese Art von Sozialkritik gerne sehr um die Ecke denken, habe ich mitunter so meine Probleme. Wobei ich nicht so tun will, als gäbe es keine Ausnahmen. Zugezogen Maskulin sind seit Jahren echte Favoriten von mir, Waving the Guns haben immer mal ein paar echt gute Sachen am Start und seit einer ganzen Weile spukt auch dieser ziemlich talentierte Typ namens Pöbel MC durch den Äther, der mir hier und da mal aufgefallen ist. Hauptsächlich war das bisher in als Gastrapper auf den Songs anderer Acts und einmal live im Vorprogramm von WTG, wobei ich davon kaum etwas mitbekam. Aber der Name war irgendwie in meinem Hinterkopf und er reichte, um mich vor einigen Monaten auf diese neue LP aufmerksam zu machen, vor allem auf dessen beiden großartigen Leadsingles. Das Auskopplungs-Doppel aus dem Titelsong und dem zweiten Track Patchworkwendekids, das im Winter erschien, zeigte Pöbel MC als einen aufgeräumten, klartextenden No Bullshit-Rapper, der sich hier vor allem mit seiner Herkunft (Arbeiterkind aus der Rostocker Vorstadt) und seiner daraus resultierenden Haltung gegenüber snobistischem Blödsinn auseinandersetzt. Und das tolle dabei war am Ende eben nicht, wie politisch und progressiv er dabei ist, sondern das er dabei eine sehr persönliche Perspektive einnimmt. Und im wesenlichen fasst das auch zusammen, warum ich Bildungsbürgerprolls als Album mag. Pöbel MC ist auf diesen zwölf Tracks auf jeden Fall ein kritischer Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse von Polizeigewalt bis Alltagssexismus, nur finden diese Inhalte bei ihm nie im luftleeren Raum statt. Von den vielen Überzeugungen, die er hier äußerst, stellt er keine als unumstößliche Gebote dar, sondern als Resultat von Erfahrungswerten und Teil seines Charakters. Womit er es hier in den besten Momenten schafft, seine Songs gleichzeitig auf einer politischen und einer persönlichen Ebene spannend zu machen. Außerdem bringt es den Vorteil mit sich, dass der Künstler dabei fast immer sehr authentisch und eben nicht von oben herab plakativ wirkt wie viele seiner Kolleg*innen. Mit dem Pöbel MC von diesem Album würde ich sehr gerne ein Bier trinken, aber auch über Meinungskultur diskutieren wollen. Auch gerade deshalb, weil ich aus manchen Stücken hier nicht so ganz schlau werde. Dopamindealer beispielsweise ist ein für meine Begriffe etwas zu zynischer Song über soziale Medien, in dem der Rostocker leider ein bisschen boomerig daherkommt und mit Kommunikationsgenie bin ich zwar Message-technisch einverstanden, von der platten lyrischen Umsetzung aber nicht so begeistert. Viel besser funktionieren da Tracks, in denen auch ein bisschen Persönlichkeit mit einfließt und PMC mit seiner Authetizität punkten kann: Sexsexsex ist eine großartige Fallstudie über Sexualität und Männlichkeit und dabei vor allem durch seine ehrliche Selbstreflexion beachtlich, Kalkül ist schonungslose Systemkritik mit Finger an der eigenen Nase und Keine Rolle setzt die Messages des Rappers sehr gekonnt auf die Metaebene. In gewisser Weise ist Bildungsbürgerprolls damit schon eine Nabelschau, aber eine eher moralische als emotionale. Und damit auch schon wieder hochpolitisch. Musikalisch muss ich sagen, dass die Platte ebenfalls im großen und ganzen gelungen ist. PMC zieht hier zum großen Teile eine sehr simpel gestrickte Traprap-Nummer durch, in der es wenige große Highlights gibt, die aber auch wenig falsch macht. Klar macht das viele Songs klanglich sehr auswechselbar und manchmal hätte ich mir schon etwas mehr Zinnober gewünscht, letztlich macht es aber auch nur deutlich, dass die LP einen starken inhaltlichen Fokus hat und solange der stimmt, wird es zumindest nicht langweilig. Was unterm Strich heißt, dass ich von Bildungsbürgerprolls zumindest überzeugt bin. Anhand der ersten beiden Singles war zwar durchaus etwas mehr zu erwarten und die Platte ist definitiv keine, die man nebenbei hören sollte, doch was sie beeindruckend schafft, ist die künstlerische Persönlichkeit von Pöbel MC auszumalen. Und das ist irgendwie auf eine eigene Art faszinierend, die ich so gar nicht erwartet hatte.



Hat was von
Waving the Guns
Das muss eine Demokratie aushalten können

Kummer
KIOX

Persönliche Höhepunkte
Bildungsbürgerprolls | Kalkül | Keine Rolle | Schlau ohne Grund | Sexsexsex | JBG Remix 2020

Nicht mein Fall
Dopamindealer | Kommunikationsgenie


Samstag, 28. März 2020

La Vida Loca

[ catchy | lebendig | kommerziell ]

 Man bekommt es auf dieser Seite des Atlantischen Ozeans häufig nicht so richtig mit, weil hier vielleicht die Zielgruppe für so etwas fehlt, aber auf dem gesamten amerikanischen Kontinent erfreut sich die Welt des Latin-Pop gerade einer recht umfassenden Renaissance. Was vor einigen Jahren in Form des Überhits Despacito von Luis Fonsi und Daddy Yankee über den großen Teich schwappte, ist an vielen Orten dort Teil einer erfolgsversprechenden Bewegung. Und obwohl die meisten Audrucksformen davon natürlich im Bereich des ignorierbaren Konsenspop bleiben (und zuletzt auch ein paar echt peinliche musikalische Reaktionen von Leuten wie Drake und Madonna auslösten), hat diese neue Welle nicht nur großes Crossover-Potenzial, sondern auch eine gewisse emanzipatorische Kraft. Gerade Künstler*innen mit Verbindung zur Rap-Szene wie Cardi B und Bad Bunny nutzen ihre neu gewonnene Plattform, um immer wieder politische Statements loszuwerden und abgesehen davon spült die neue Begeisterung für lateinamerikanische Stilvarianten gerade auch einige Leute in die US-Playlisten, die selbst gar nicht aus den Staaten (inklusive Puerto Rico) kommen. Wobei insbesondere die kolumbianische Szene mal wieder einen besonderen Platz einnimmt. Mit Maluma und Kali Uchis gab es in den vergangenen Jahren gleich zwei Acts, die sich als starke Mainstream-Exporte zeigten und im Zuge des Revivals auch alteingesessene Künstler mitzogen, im wesentlichen dabei auch den Reggaeton-Veteranen J Balvin. Der ist in seiner Heimat bereits seit über zehn Jahren eine Institution und hatte auch immer wieder kleinere Erfolge im Ausland, sein Durchbruch kam allerdings erst 2016 so richtig, als sein viertes Album Energia auf Platz Eins der Latin-Charts in den USA landete. Dessen Nachfolger Vibras erhielt zwei Jahre später dort den achtfachen (!) Platinstatus, woraufhin sich der Künstler selbst mit dem Kollaborationsprojekt Oasis gemeinsam mit Bad Bunny, dem anderen Schwergewicht der Szene, adelte. Und weil J Balvin damit ganz offiziell ein Popstar ist und man als solcher immer am Ball bleiben muss, gibt es seit letzter Woche schon wieder die nächste Portion des Kolumbianers. Wobei man sich keine Illusionen machen muss: Was auf diesem Album stattfindet ist astreiner Kommerzpop. Balvin hat in seiner Musik relativ wenig von der düsteren Edgyness seiner trappigen Kollegen (obwohl er hier manchmal ein bisschen von ihnen klaut) und ist auch keine Kali Uchis oder Rosalía, die ihre Latin-Einflüsse immer wieder subversieren. Sein Bezugspunkt ist die klassische Shakira-Ricky Martin-Lusi Fonsi-Variante dieser Musik, nur eben mundgerecht für das Publikum von 2020 aufbereitet. Und ich sage ganz klar, dass das vielleicht nicht für jede*n etwas ist. Im gleichen Atemzug muss ich aber auch sagen, dass Colores genau die Platte sein könnte, die einer neugierigen Laufkundschaft aus Europa das Konzept des modernen Reggaetón näher bringen könnte und zumindest bei mir hat es genau so funktioniert. Verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle. Zum einen hat diese LP dadurch einen Vorteil, dass sie mit unter 30 Minuten Spieldauer eine ziemlich gute und unanstrengende Kostprobe von Balvin ist, mit der niemand direkt überfordert wird. Wenn man also nur mal schauen will, was in der Bewegung gerade so abgeht, ist das hier genau die richtige Dosis. Und für diesen knappen Rahmen bekommt man hier dann auch das Maximum an großartigem Hit-Songwriting. Mit Songs wie Azul, Arcoíris oder Rojo gibt es hier nicht nur einige echte Einzeltrack-Highlights, die für sich total cool sind, Colores leistet sich auch zwischendrin keinerlei Füllmaterial und ist von Anfang bis Ende eine absolute Stimmungsgranate. Dass dabei zwischendurch auch immer ein bisschen mit Hiphop-, Dancehall- und R'n'B-Einflüssen gespielt wird und ein paar echt gute Gastauftritte versammelt werden, macht das ganze zusätzlich aufregend und abwechslungsreich. Sicher ist dabei nicht jeder Track ganz so hochwertig wie der andere, doch ist es bemerkenswert, dass der gute Laune-Faden dieser LP eigentlich nie so richtig abreißt und zumindest immer ein sehr stabiles Niveau gehalten wird. Gerade für ein so kommerzielles Projekt wird hier also ganze Arbeit geleistet, weshalb es so eine gute Einstiegsdroge ist. Weshalb ich Colores eigentlich am ehesten für Leute wie mich empfehle, für die zeitgenössischer Latin Pop noch Neuland ist und die das vielleicht nur daran gemerkt haben, dass sie Despacito damals nicht ganz so furchtbar fanden wie alle anderen. Weil wenn man schon mit sowas anfängt, sollte man wissen was man tut, damit man nicht irgendwann so endet wie Madonna oder Drake.



Hat was von
Shakira
El Dorado

Luis Fonsi
Vida

Persönliche Höhepunkte
Amarillo | Azul | Rojo | Rosa | Arcoíris

Nicht mein Fall
-


Freitag, 27. März 2020

Du bist bereit

 
[ edgy | postironisch | wild ]

Es passiert ja selten genug, dass ich in diesem Format mal als Fan eines bestimmten Acts oute, bevor dieser überhaupt ein einziges Album draußen hat und es gibt eigentlich nur zwei Szenarien, in denen sowas passiert. Eines davon ist, wenn ich besagten Act persönlich kenne oder er in meiner Bubble unterwegs ist, das andere und noch wesentlich seltenere ist, wenn ich wirklich schon in frühen Veröffentlichungen ein überbordendes Potenzial sehe oder diese schon mögliche Karrierehöhepunkte sind. Und seit letztem Jahr gehört der Rapper Jace aus Hamburg definitiv zur zweiten Kategorie. Als wirklichen Newcomer kann man ihn zwar mittlerweile nun auch nicht mehr ganz bezeichnen, denn seit 2017 gab es von ihm insgesamt schon fünf selbstveröffentlichte EPs und/oder Mixtapes, doch technisch gesehen ist er damit noch immer in einer Sprungbrett-Phase. Und bis 2019 hatte die irgendwie auch noch ihre Berechtigung: Jace war auf Platten wie Stich und Picknick ein MC, der vor allem gute Punchlines hatte und viel rohes Talent besaß, das aber nur selten in formvollendete Songs umsetzte. Es gab zwar schon effektive Banger wie Pudding oder Treppen, die kamen aber eher vereinzelt vor und waren nicht die Regel. Ein Album wäre bis zu diesem Zeitpunkt in meinen Augen noch nicht die beste Wahl für Jace gewesen. Allerdings ist Wo ist Jacek 2020 die EP, die das ändern soll und auch tut. Ganz einfach aus dem Grund, weil der Hamburger spätestens hier anfängt, den Rahmen eines viertelstündigen Kleinformats zu sprengen und in sieben Songs sieben seiner bisherigen Karrierehöhepunkte vorstellt. Wobei er ein Können entwickelt, dass über das performen effekthaschereischer Bad Bars hinausgeht. Vor allem musikalisch ist dieses Projekt ein Riesenschritt nach vorne, weil es den Faktor der Beats zum ersten Mal nicht nur als klangliches Surplus zu den Lyrics begreift, sondern als künstlerisches Betätigungsfeld, das vielfältig einsetzbar ist. So gibt es hier zum ersten Mal nicht nur staubige Banger, sondern auch etwas poppigere Nummern, R'n'B-Einflüsse und sogar ein paar Anleihen aus der Emotrap-Bewegung, die im Deutschrap ja bisher noch nicht so angekommen ist. In dieser neuen ästhetischen Vielfalt schreibt Jace dann auch erstmals etwas biegsamere Hooks und Melodieparts, was vor allem in den langsameren Tracks überraschend gut kommt. Wobei das alles auch diesmal in den Hintergrund rückt, wenn wir erstmal über die Texte auf dieser Platte reden. Und obwohl dieser Bereich zu den Faktoren auf Wo ist Jacek gehört, die der Hamburger auch bisher schon gut konnte, ist er hier nochmal besonders heiß und so gut wie alle Songs hier Zeugnis eines lyrischen Ausnahmezustands. Ich habe im Vorfeld dieses Artikels ernsthaft überlegt, mir die klassische Besprechung an dieser Stelle einfach zu sparen und hier stattdessen nur die besten Punchlines dieser EP aufzulisten, weil das am Ende der größte Selling Point des ganzen sein dürfte. Womöglich wäre der Post aber dann sogar noch länger geworden, denn fast jede Zeile auf dem Tape wäre diese Erwähnung eigentlich wert. Und das schöne ist ja, dass Wo ist Jacek mehr ist als das. Zwar sind auch Tracks wie Leb Sterb oder Pokedex richtig klasse, in denen einfach nur ein Brett nach dem anderen rausgehämmert wird, die Kunststücke dieser Platte sind aber eher Stücke wie Heartbreaks oder Wendler, in denen das alles in einem gewissen Kontext doppelt so großartig ist. Sachen wie diese zeigen mir, dass der Jace von 2020 nicht mehr der blöde Rotzlöffel ist, der nur auf dicke Lippe aus ist, sondern ein äußerst talentierter Rapper, der ab jetzt keinen Anlauf mehr braucht, um in der nächstgrößeren Liga mitzufahren. Soll im Klartext heißen: Wenn der Junge jetzt ein Album machen wollen würde, meinen Segen hat er. Denn den richtigen Moment abwarten ist gut, ihn verpassen aber nicht so. Und um jemanden wie ihn wäre es schade, wenn er ewig in der Nerd-Ecke herumvegetiert.



Hat was von
LGoony
Space Tape

Princess Nokia
Everything Sucks

Persönliche Höhepunkte
Pokedex | Leb Sterb | Chicos | Karussel | Wendler | Scooter | Heartbreaks

Nicht mein Fall
-

Donnerstag, 26. März 2020

Maßnahmen sind eingeleitet

[ synthetisch | apathisch | düster ]

Man kann Abel Tesfaye ja nun wirklich nicht vorwerfen, dass er sich keine Mühe gegeben hätte. Seit mittlerweile sieben Jahren ist er jetzt schon mit großem Aufwand dabei, den Sound, den er mit the Weeknd zu Anfang der letzten Dekade etabliert hat und der die Ästhetik von (kommerziellem) R'n'B in dieser Zeit wesentlich geprägt hat, wenigstens ein bisschen weiterzuentwickeln. Er hat Songs von Daft Punk und Gesaffelstein produzieren lassen, mit Ed Sheeran und Lana del Rey zusammengearbeitet, ist lyrisch auffälliger geworden und hat sich jüngst sogar von der markendefinierenden Obszönität getrennt, die er ein Jahrzehnt lang seine Frisur nannte. Trotzdem ist es ihm seit seinem zweiten offiziellen Album Kiss Land von 2013 nicht so richtig gelungen, etwas mehr Bewegung und Abwechslung in seine Musik zu bringen, die stilistisch nach wie vor an ein und derselben Stelle verharrt. Und obwohl gerade diese spezielle Herangehensweise an R'n'B, in der Tesfaye sich mit dunklen Farben als zutiefst missverstandenes Arschloch porträtierte, ihn am Anfang so cool machte, ist sie ab einem gewissen Punkt ziemlich ermüdend geworden und inzwischen auch schon in allen erdenklichen Facetten durchgespielt. Mehr oder weniger seit 2015 verkauft sich deshalb fast jedes größere Release von the Weeknd als gewagter Stilbruch, wobei keines das bis jetzt so richtig war. Unter den zweieinhalb letzten Alben hat sich mittlerweile jede*r seiner Fans ein anderes herausgesucht, das in deren Augen seinen Sound am besten umsetzt (bei mir ist das noch immer Beauty Behind the Madness) und hofft irgendwie darauf, dass der echte Neuaufbruch vielleicht doch noch kommt. Und auch seine neueste LP After Hours verbreitete diesbezüglich wieder Hoffnung: Zum einen durchaus wegen Oberflächlichkeiten wie Tesfayes neuem Look und seinem Horrorfilm-Artwork, zum anderen aber auch, weil der Kanadier hier erstmals nicht nur als Sänger, sondern auch als Produzent auftritt und die wesentlichen Fäden damit selbst in die Hand nimmt. Die Möglichkeit, dass er sich in Eigenregie nun den Sound verpassen würde, den ihm zig prominente Promi-Komponist*innen nicht geben konnten, war zumindest im Bereich des Wahrscheinlichen. Und ich sage es mal so: Das, was auf diesem Album letztendlich passiert, ist zumindest eine der besten Versionen des klassischen Weeknd-Sounds, die ich seit langem gehört habe. Zwar schafft es Tesfaye auch hier nicht, sich von den wesentlichen Elementen seiner altbekannten Ästhetik zu lösen (wäre ja auch zu schön gewesen), doch modifiziert er sie hier immerhin so, dass wieder ein paar spannende Song-Ideen dabei rumkommen. Die Strategien sind dabei von Fall zu Fall unterschiedlich. In manchen Tracks wie Faith ist er elektronischer, in anderen wie Alone Again schmeißt er sich tiefer in den Kosmos der Trap-Einflüsse und wieder andere orientieren sich an Achtziger-Synthpop und New Wave. Außerdem werden auf einigen Stücken neue Gesangstechniken ausprobiert beziehungsweise diese mit Effekten nachträglich bearbeitet, was ebenfalls ein bisschen hilft. Maßnahmen wie diese sorgen dann immerhin dafür, dass After Hours einigermaßen flüssig klingt und nicht die nervige Jammerigkeit der letzten beiden Platten an sich hat. Sieht man aber genauer hin, werden viele Probleme hier eher kaschiert als wirklich gelöst. So begeht auch diese LP wieder die Weeknd-typische Dummheit, sich auf ein bis zwei Songs als tanzbare, catchy Single-Auskopplungen zu beschränken und den überwiegenden Rest der Platte als melancholische R'n'B-Balladen zu inszenieren. Außerdem gibt es eben trotz der vielen kleinen Reparaturmaßnahmen Tracks wie Heartless, die komplett in alte Muster verfallen. Und ganz unabhängig davon muss ich leider feststellen, dass After Hours lyrisch eines der schwächeren Alben des Kandiers geworden ist. Das alles bedeutet nicht gleich, dass hier Hopfen und Malz verloren ist, im Gegenteil: Vieles hier geht in die richtige Richtung. Auch diese Platte ist zwar nicht der Stilbruch, den Abel Tesfaye eigentlich gebraucht hätte, doch sie erkennt relatv gut, wo die Probleme im Weeknd-Sound stecken und geht diese proaktiv an. Was letztendlich immerhin in seinem besten Gesamtwerk seit Beauty Behind the Madness resultiert. Und das ist nach so furchtbaren Erlebnissen wie Starboy ja schonmal die halbe Miete. Wenn er jetzt noch die Eier hat und diese Maßnahmen erweitert und sich vielleicht auch außerhalb seiner Komfortzone bewegt, ist der Weg zu einem weiteren richtig guten Album schon gar nicht mehr so weit. Insofern er das nächste Mal in seinen Kokon zurückschnappt, wie das schon so oft passiert ist.



Hat was von
Porches
the House

070 Shake
Modus Vivendi

Persönliche Höhepunkte
Alone Again | Scared to Live | Snowchild | Escape From L.A. | Faith | In Your Eyes | Save Your Tears | Until I Bleed Out

Nicht mein Fall
Heartless


Mittwoch, 25. März 2020

Klassische Eleganz

 [ dynamisch | verspielt | klassisch ]

In ein paar Monaten werden es nun schon vier Jahre, in denen die Welt auf ein neues Album der großartigen kanadischen Jazz-Visionäre Badbadnotgood wartet. Und mehr und mehr sieht es dabei so aus, als wäre die kleine gemeinsame Schaffenspause, die Band nach ihrer letzten LP IV einlegte, kein kurzer Verschnaufer, sondern tatsächlich eine ernstzunehmende Stilllegung des Projekts. Denn je mehr Zeit seitdem vergangen ist, desto mehr haben sich die einzelnen Mitglieder des Quartetts in diverse Nebenprojekte verwachsen und von der gemeinsamen Sache entfernt. Zwischen 2016 und 2019 entstanden insgesamt vier Seiten- und Soloprojekte im Dunstkreis von BBNG (von denen ich Idiot natürlich über kein einziges geschrieben habe), wobei diese musikalisch teilweise sehr wenig mit dem Output der Hauptband gemein hatten. Und natürlich ist das alles gut und richtig und die Kinder sollen schließlich auch mal außerhalb der immer gleichen Gruppe ihren Spaß haben, aber nach so langer Zeit beginne ich doch sehr, die gemeinsamen Unternehmungen der Kanadier zu vermissen. Weshalb es schön ist, dass es jetzt eine Platte wie Visions gibt, auf der gezeigt wird, dass ein erneutes Zusammenkommen der Bandmitglieder auch in anderen Kontexten funktionieren kann als im großen Quartett. Mit Saxofonist Leland Whitty und Pianist Matthew Tavares sind hier immerhin 50 Prozent der letzten aktiven Besetzung von BBNG versammelt (Tavares ist seit 2019 offiziell nicht mehr Teil der Gruppe), was immerhin die wichtigsten Positionen für eine gute Jazzplatte ausfüllt. Und weil es sich bei den beiden zudem um sehr überdurchschnittlich begabte Multiinstrumentalisten handelt, bleibt es dabei auch nicht. Zu hören sind auf Visions neben dem klassischen Trio aus Schlagzeug, Piano und Saxofon auch zahlreiche Streicher, Flöten, Bass, Gitarre und unter Umständen auch einige Synthesizer (bei letzterem bin ich mir nicht zu hundert Prozent sicher). Aber obwohl die elf Songs damit sehr breit gefächert sind und ihre Interpreten zur Riege der progressiven Vorreiter des modernen Jazz gehören, sollte man hier nicht den Fehler machen, ein Album im klanglichen Kosmos von Badbadnotgood zu erwarten. Denn die Kanadier sind zwar auf der einen Seite diese junge wilde Band, die spannende und nerdige neue Perspektiven auf vieles bietet, im Kern sind sie dabei aber immer Bewunderer der Klassiker gewesen und ließen das bisweilen auch auf ihren Platten durchblicken. Visions ist außerhalb des Band-Gefüges nun eine LP, die dieser Verehrung den größtmöglichen Platz einräumt und in vielen Hinsichten eine Verbeugung vor den Genre-Epigonen der Fünfziger und Sechziger ist. Auf den elf Songs hier hört man deutlich die Einflüsse eines John Coltrane, Thelonious Monk, Ahmad Jamal, Miles Davis oder Bill Evans und bekommt umfassend den Eindruck einer vergleichsweise traditionellen und unverfälschten Bebop- und Cool Jazz-Darbietung. Und obwohl sowas für zwei Mitglieder von BBNG wahrscheinlich den Charakter von Übungsstücken hat, steckt doch sehr viel Mühe und Leidenschaft in dieser LP. Allein die großartige Dynamik vieler Titel hier ist ungemein faszinierend und sorgt hier für ein klangliches Erlebnis, das nicht nur schöne Ästhetik und entspannten Vibe verbreitet, sondern tatsächlich spannend ist und jede Menge Spaß macht. Es gibt schmissige Bebop-Knaller wie die beiden Symbols of Transformation-Teile, sinfonische Balladen wie Eyes und Living Water Assembly, die sehr an Bill Evans erinnern und einige sehr experimentelle Jams wie Black Magic, die mit Elementen aus akustischem Folk und moderner Popmusik spielen. Wobei die wenigsten Songs sich auf eine dieser Charaktere beschränken: Fast alle Stücke sind mehrteilig angelegt und winden sich in ausgedehnten Spielzeiten von einem Extrem ins andere. Höhepunkt ist der zentrale Song der LP, Visions of You, in dem Tavares und Whitty in elf Minuten so ziemlich alle Register ihres Könnens ziehen. Und spätestens hier muss man auch über die grandiose technische Komponente von Visions reden. Insbesondere Whitty zeigt sich auf diesem Album wieder und wieder als spielerischer Tausendsassa, der aus jedem seiner Instrumente etwas ganz besonderes herausholt. Seine Gitarrenparts haben haüßig etwas rockiges, seine Flötensoli sind herrlich atmosphärisch und vor allem Saxofon spielt er wie ein junger Gott. Sein Kollege mag ja ebenfall extrem talentiert sein und hier eine mehr als solide Basisarbeit leisten, aber der Star auf dieser Platte heißt eindeutig Leland Whitty. Und er sorgt quasi fast im Alleingang dafür, dass das hier nicht nur eine ganz nette Hommage an die alten Helden des Jazz-Pantheons wird, sondern ein sehr besonderes und tolles Album mit viel Energie und Charakter. Es muss schon etwas an sich haben, wenn es ein eigentlich so tradiertes und wenig innovatives Konzept wie das von Visions für mich auf einer Stufe mit den besten Sachen von BBNG steht, die ja immerhin zu den wesentlichen Erneuerern ihrer Zunft gehören. Und am Ende sind es wenig mehr als Details, die das hier so unglaublich klasse machen. Aber gerade bei zwei Musikern wie diesen ist genau das auch interessant: Hinter die Kulissen der Progressivität zu blicken und zu sehen, woher sie das alles haben und wie sie auf einem Album mal ganz ungezwungen ihren Leidenschaften fröhnen. Und solange das nicht dazu führt, dass sie den innovativen Part der Sache komplett außen vor lassen bin ich dafür auch gerne öfter zu haben.


Hat was von
the Cannonball Adderley Quintet
At the Lighthouse

John Coltrane
Olé Coltrane

Persönliche Höhepunkte
Through the Looking Glass | Woah | Blue | Symbols of Transformation Pt. 1 | Visions of You | Heat of the Moon | Symbols of Transformation Pt. 2 | Living Water Assembly

Nicht mein Fall
-



Dienstag, 24. März 2020

Glover in weiß

 [ intensiv | vielschichtig | ambivalent ]

Ich will ehrlich sein: Ich hatte nach den Ereignissen der letzten Jahre eigentlich nicht damit gerechnet, dass es so zeitnah ein vollwertiges neues Album von Donald Glover geben würde und ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt eines gewollt hätte. Ganz einfach, weil ich nicht gedacht hätte, dass er am Ende so berechenbar sein würde. Aber bevor ich mir gleich mit den ersten beiden Sätzen dieses Artikels den Hass diverser Gambino-Fans zuziehe, möchte ich mich diesbezüglich erklären. Denn dass ich so empfinde, bedeutet wahrscheinlich nicht das, wonach es klingt. Und es hat auch weniger mit meiner persönlichen Einstellung gegenüber Glover zu tun als mit dem Künstler selbst. Einem Künstler, der gerade in den vergangenen Jahren niemand war, der sich durch Vorhersehbarkeit auszeichnete, in mehr als einer Hinsicht. Da ist zunächst mal die Tatsache, dass es sich bei ihm nicht nur um einen begnadeten Musiker, sondern eben auch um einen begnadeten Schauspieler, Comedian, Drehbuchautor und Regisseur handelt, der höchstwahrscheinlich auch noch Nierentransplantationen durchführen und Eiskunstlaufen kann. Was bedeutet, dass er von jedem Moment in seiner Karriere ab auch locker zehn Jahre keine Musik machen könnte und trotzdem extrem erfolgreich und beliebt wäre. Was ein neues Album von ihm zunächst mal nicht notwenig gemacht hätte. Und was zu dieser fehlenden Notwendigkeit noch dazukommt ist der Faktor, dass Glover künstlerisch schon immer äußerst sprunghaft war und sich selbst selten in die kreative Enge fester struktureller Kontexte begab. Weshalb ein Release-Prozedere wie zuletzt 2018, als er lose eine Reihe von Singles und Videos veröffentlichte, ihm eigentlich viel besser steht und seiner exzentrischen Arbeitsweise weniger im Weg ist als der strenge künstlerische Rahmen eines Longplayers. Trotzdem gibt es 3.15.20 jetzt und es ist in den letzten vier Jahren das erste musikalische Gambino-Produkt, das einem Album zumindest sehr nahe kommt. Im klassischen Stil seines Schöpfers war dessen Erscheinen in den letzten Wochen etwas mystisch und erregte viel Aufsehen im Internet (die Platte lief einen Tag als Stream auf einer gesonderten Webseite und verschwand danach wieder), doch seit ungefähr Samstag ist das ganze jetzt eine fertige Sache. Wobei sich vieles trotzdem nicht so rund anfühlt wie bei seinen bisherigen LPs. Schon die Präsentation des neuen Produkts ist mit dem reinweißen Artwork (wenn man das so nennen will) und den meistens lediglich als Startzeiten angegebenen Titeln sehr minimalistisch und auch musikalisch ist man so wenig Profil eigentlich nicht von Gambino gewohnt. Wo Because the Internet als antibiografische Drehbuch-Platte und Awaken My Love als retrofuturistische Funk-Odyssee deutliche Konzepte aufzeigten, ist 3.15.20 diesmal irgendwie sehr ambivalent und nicht so richtig zu greifen. Ein Rap-Album ist es auf jeden Fall schon mal nicht, soviel als Gegenbegriff. Abgesehen davon sieht es jedoch schwierig aus. Donald Glover ist hier an vielen Punkten experimentell und bewusst weird, nicht jedoch völlig aus der Ordnung gekommen. Große Hooks gibt es wenige, erkennbare Melodien und Muster aber schon. Viele Songs sind irgendwie emotional, lyrisch gibt es aber meist nicht viel zu holen. Es gibt eine Art Album-Flow, trotzdem hat die LP keinen klaren kompositorischen Kern. Und das Fehlen von inhaltlichem Kontext lässt mich vieles hier zwar gut finden, wirklich großartig wird es aber nicht, weil ich nicht weiß, was es so richtig bedeutet. Für jemanden wie mich, der gerne ein bisschen Trivia und künstlerische Absicht in seinen Platten mag, ein ziemliches Dilemma. Doch zum Glück gibt es eine Art musikhistorische Analogie, die hier zumindest einiges hier ganz gut aufgreift: Die Legende vom weißen Album. Und ich weiß, das ich auf den ersten Blick vielleicht etwas hochgegriffen. Aber in meinen Augen ist dieser Vergleich nicht total abwegig, schließlich gibt es zum berühmten selbstbetitelten neunten Longplayer der Beatles einige strukturelle Parallelen: Beide Platten sind stilistisch sehr vielfältig und experimentieren an diversen Stellen quer durch die Botanik, nehmen damit aber vor allem Abstand von musikalischen Konzepten und übergreifenden Ideen. Eine wie die andere ist dabei ein Sammelbecken für haufenweise Nuancen eines künstlerischen Spektrums und auch die Art, wie eng verschiedene Ausprägungen beieinanderstehen, teilen sich Gambino und die Fab Four. Was mich angeht, sorgt das allerdings auch in beiden Fällen für ein ausbaufähiges Ergebnis. Ich will kein Miesepeter sein, 3.15.20 ist in seiner Gesamtheit auf keinen Fall ein enttäuschendes Album und es kriegt zumindest das Kunststück hin, die vielen klanglichen Herzen in Glovers Brust gleichzeitig zum Schlagen zu bringen. Und viele Momente hier sind auch echt genial, wie das an Frank Ocean erinnernde 24.19, die Afrobeat-Einflüsse in 35.31, das fast noisige 32.22 oder das kleine bisschen Erlösung, das Feels Like Summer kurz vor Schluss ins Spiel bringt. Gerade in der ersten Hälfte der LP ist aber vieles noch etwas lasch performt, das dreiminütige Intro ist ziemlich ermüdend, 24.19 klingt stellenweise sehr wie der alte Meme-Klassiker Redbone vom Vorgänger und über weite Teile ist auch die Produktion hier nicht ganz so der Hammer. Was im Vergleich zu Awaken My Love zwar nur ein kleiner Rückschritt ist, es ist aber einer. Sicher ist 3.15.20 in vielen Hinsichten auch ein sehr intensives Album, das so kurz nach Release definitiv noch etwas atmen muss und ich habe auf jeden Fall nicht das Gefühl, darüber bereits eine endgültige Meinung gefasst zu haben. Insbesondere da es ja vielleicht doch sein könnte, dass der Künstler sich noch irgendwann zu den Hintergründen dieser Platte äußert. Das heißt im Laufe der Zeit könnte sich das hier noch zum nächsten großen Konsenswerk von Glover entwickeln, es könnte aber auch als irgendwie unvollständiges Experimentalprojekt zwischen seinen ganzen anderen Arbeitsbereichen versanden. Ich für meinen Teil bin aber zumindest zuversichtlich, dass man über diese LP noch sprechen wird. Und das bedeutet immerhin, dass die Musik von Childish Gambino auch 2020 noch äußerst interessant ist.



Hat was von
Prince
Purple Rain

Brockhampton
Ginger

Persönliche Höhepunkte
Algorythm | 19.10 | 24.19 | 32.22 | 35.31 | 39.28 | 42.26 (Feels Like Summer) | 47.48 | 53.49

Nicht mein Fall
-


Montag, 23. März 2020

Danish Girl

 [ folkloristisch | pathetisch | fragwürdig ]

Die erste Sache, die auf dem dritten Album von Myrkur ganz unmissverständlich klar sein sollte, ist dass man das mit dem Black Metal-Anteil darauf mittlerweile so gut wie endgültig streichen kann. Die Amalie Bruun von 2015, die sich mit schwarzem Kleid, Weltuntergangsmiene und krachiger Kreischerei als vollwertige Szene-Künstlerin neu zu definieren gedachte und damit vor allem viel Hass von dämlichen Purist*innen erntete, gibt es spätestens hier erstmal nicht mehr. Nachdem sich bereits ihre letzte EP von Myrkur als Metalband distanzierte und stärker auf den Folk- und Pagan-Aspekt ihres Outputs konzentrierten, ist diese Metamorphose auf Folkesange nun komplett vollzogen. Schon der Titel des neuen Albums (direkt übersetzt "Volkslieder") lässt das irgendwie vermuten und dass die Dänin sich hierfür noch intensiver mit traditionellem Material beschäftigt hat und sich immer weiter mit schaurig aussehendem antiken Musikinstrumentarium eindeckt, bestätigen den Verdacht. Doch ist das eigentlich neue an dieser LP viel mehr die Abwesenheit verschiedener Klangfaktoren, die zum Erlebnis Myrkur bis dato dazugehörten, vor allem eben kaskadische Riffs und Schreigesang. Und egal wie gut Amalie Bruun als paganistische Volksmusik-Archäologin auch sein mag, diese Sachen werden mir fehlen. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen. Auch wenn das, was auf Folkesange passiert, nur sehr bedingt als Stilbruch gewertet werden kann. Schon auf ihrem Debüt gab es damals starke Folk-Einflüsse, die ihre zweite Platte Mareridt noch ausbaute, vor allem waren es aber Releases wie das Live-Album Mausoleum von 2016 oder ihre regelmäßig veröffentlichten Social Media-Stories, in denen sie auf mittelalterlichen Foltergeräten Volkslieder spielt, die ihre künstlerische Mission als Bewahrerin von traditionellem Liedgut immer wieder erkennen ließen. Dass sie dieser Leidenschaft einen vollwertigen Longplayer widmet, war also nur eine Frage der Zeit. Und Folkesange ist nun das und mehr. Denn zusätzlich zu einer ganzen Reihe von tatsächlichen Bearbeitungen nordischer Weisen gibt es hier auch weiterhin ein paar selbstgeschriebene Titel wie Leaves of Yggdrasil und Ella sowie eine Interpretation des schottischen Volklieds House Carpenter in bester Joan Baez-Manier. Die Vielfalt, die Bruun dabei in die Platte einbaut, ist sowohl Fluch als auch Segen. Zum großen Vorteil der LP werden viele Songs hier nicht auf ihre puristische Wurzelbehandlung beschränkt und erfahren mitunter ein sehr großzügiges poppiges Makeover mit ochestralem Backing und Hochglanz-Produktion. Das ist aber dann definitiv auch nicht für jede*n was und nicht selten bewegt sich Myrkur auch ins gefährliche Pagan-Kitsch-Enya-und-Evanescence-Territorium, das sie in meinen Augen zwar meisterhaft beherrscht, das ihre Songs aber auch etwas schmierig und pathetisch macht. Auch finde ich gerade einige stilistische Ausreißer wie Ella oder House Carpenter sehr unpassend, andere wie der fantastische Closer Vinter gehören aber zu den besten Songs, die Amalie Bruun je geschrieben hat. Viele klangliche Entscheidnungen funktionieren also in beide Richtungen, was die Platte am Ende sehr durchwachsen macht. Und obwohl das eigentlich heißt, dass ich vieles hier tendenziell eher positiv bewerte, gibt es einen weiteren Faktor an Folkesange, der meinen Optimismus von anfang an trübt und der leider auch nur indirekt mit der eigentlichen Musik zu tun hat: Myrkurs potenziell problematischer Umgang mit völkischen und nordischen Motiven, den ich hier schlichtweg nicht mehr so richtig ignorieren kann und will. Als früherer Fan der Dänin, der ihre Aktivitäten seit inzwischen fünf Jahren mehr oder weniger intensiv verfolgt, gab es schon in der Vergangenheit Punkte, an denen Amalie Bruun einen sehr, nun ja...auffälligen Bezug zu solchen Themen hatte. Neben Aussagen in Interviews, die durchaus als islamfeindlich interpretiert werden könnten (und die sie selbst eher halbherzig dementiert hat), waren es allerdings eher Kleinigkeiten. Bruuns Ruf als Waffen-Enthusiastin, die pathetische Inszenierung ihrer Mutterschaft und natürlich immer wieder die künstlerische Hinwendung zu Black Metal und nordischem Folk. Tendenzen, die durch Sachen wie das Covermotiv der neuen LP oder ihre folkloristische Ausrichtung nicht gerade zerstreut werden. Ich will Bruun ob dessen nicht gleich anklagen, denn ich habe kein definitives Wissen über ihre tatsächlichen Ansichten und weiß Gott gibt es im europäischen Metal eine ganze Reihe von Künstler*innen, die nordischen Paganismus und Nazi-Symbolik sehr klar voneinander unterscheiden können und diese Trennung auch deutlich machen. Ich sage nur, dass sich gewisse Dinge in Verbindung mit Myrkur in letzter Zeit häufen, die auffällig sind. Und ich habe einfach keinen Bock mehr, das kommentarlos stehen zu lassen, besonders wenn es mir so ins Gesicht schreit wie bei diesem Album. Das ist jetzt natürlich kein schönes Schlusswort, aber ich hatte das Gefühl, es musste mal gesagt werden. Vor allem auch deshalb, weil Amalie Bruun immer noch eine meiner aktuellen Lieblingskünstlerinnen ist und ich eigentlich möchte, dass das so bleibt.



Hat was von
Ulver
Kveldssanger

Building Instrument
Kem Son Kan A Leve

Persönliche Höhepunkte
Ella | Svea | Harpens Kraft | Vinter

Nicht mein Fall
Fager Som En Ros | House Carpenter


Sonntag, 22. März 2020

Roots

 [ rhythmisch | hypnotisch | spirituell ]

Ich habe in den vergangenen Jahren in diesem Format schon ab und zu mal über das ebenso seltsame wie tolle Phänomen geschrieben, dass sich seit einiger Zeit ausgrechnet Jazz-Fusion zu einer der spannendsten und innovativsten Musikrichtungen der ausgehenden Zehnerjahre entwickelt hat und wie die Art von Musik, die seit einer Weile von Leuten wie Badbadnotgood, Christian Scott, Esperanza Spalding und der kompletten Brainfeeder-Bubble um Thundercat und Flying Lotus gemacht wird, gerade ziemlich viele Strömungen zeitgenössischer Popmusik beeinflusst. Wo ich in dieser Hinsicht aber bisher ein wenig blind war, ist der Umstand, dass ich sich meine Euphorie hauptsächlich auf amerikanische Künstler*innen beschränkte, die keineswegs die einzigen sind, die neue Ausdrucksformen experimenteller Jazzmusik suchen und finden. Seit ungefähr 2016 ist vor allem auch Großbritannien ein Ausgangspunkt starker kreativer Bewegungen geworden, die viel Aufmerksamkeit aus der Szene auf sich ziehen, wobei die meisten dieser Strömungen untrennbar mit dem Namen Shabaka Hutchings verbunden sind. Als Mitglied und Leader der Bands Sons of Kemet und the Comet is Coming ist der Londoner so etwas wie das Mastermind einer jungen Inkarnation von Jazz-Künstler*innen, deren künstlerischer Bezugspunkt die Fusion mit den musikalischen Traditionen Afrikas sind und die daraus einen einigermaßen frischen Stilmix schöpfen. Im Gegensatz zum filigranen, technisch komplexen Prog-Soul-Entwurf der Amis (die sich ja thematisch auch sehr stark mit afroamerikanischer Kultur auseinandersetzen) ist Hutchings' Ansatz wesentlich rustikaler, rhythmischer und bratziger und erinnert in seiner Dichte fast an eine kratzigere Variante von Bigband-Swing und Dixie. Als eine Art Standardwerk dafür bildet sich gerade die letzte Sons of Kemet-LP Your Queen is A Reptile heraus, die inhaltlich nicht nur große Figuren der afrikanischen Geschichte aufarbeitet, sondern auch Shabakas Sound-Entwurf erst so richtig in Form gießt. Eine klangliche Ästhetik, die er seitdem immer wieder mit verschiedenen Bands in Szene setzt. Die südafrikanische Gruppe the Ancestors ist dabei bereits seit 2015 mit an Bord und eine der wichtigsten Bezugspunkte des Londoners. Außerhalb der Londoner Szene findet er in ihrer Arbeit einen direkten Draht zu den musikalischen Entwicklungen innerhalb des afrikanischen Kontinents und nimmt deren Impulse für seine Musik auf. Dabei behandelte schon ihr erstes gemeinsames Album Wisdom of Elders vor vier Jahren die politischen Folgen der Apartheid und den Geschichten von Unterdrückung und Kolonialismus. We Are Sent Here By History ist dazu nun so etwas wie das musikalische Sequel, das neue Aspekte des gleichen Themengebiets beleuchten will. Dabei geht es diesmal vor allem um die Leidensgeschichten der afrikanischen Diaspora und dem Jahrhunderte alten Traum von der Rückkehr in deren Heimatländer. Im wesentlichen nimmt die Platte dabei die Haltung einer Art Prophezeihung ein, die sehr spirituell vom Ende der schlechten Zeiten spricht und in klassischer Rastafari-Manier den Exodus nach Afrika als Weg der Erlösung predigt. Ich als weißer Europäer kann dieses Thema natürlich nur von außen beurteilen, aber vieles an dieser LP wirkt einigermaßen prophetisch, was auch durch die sehr hypnotische und pulsierende Musik unterstützt wird. Im Gegensatz zu seinen Alben mit Sons of Kemet und the Comet is Coming setzt Shabaka Hutchings auf We Are Sent Here By History nicht so sehr auf breite Bläsersätze und hookige Melodien, sondern vor allem auf perkussive Rhythmen. So gut wie die komplette Spielzeit hier (und wir reden hier immerhin von guten 65 Minuten) wird von einem turbulenten Groove unterspült, der tief in diversen afrikanischen Folk-Gattungen verwurzelt ist und hier das dominierende musikalische Motiv darstellt. Über dieses Bett aus Rhythmen improvisieren die Ancestors und Hutchings danach eine pulsierenede Mischung aus Free Jazz und modernem Bebop, die insgesamt sehr dynamisch daherkommt. Viele Stücke geben sich dabei viel Raum und entwickeln sich innerhalb von fünf Minuten oder mehr in diverse Richtungen. Immer wieder werden darüber auch ein paar lyrische Fetzen performt, die eine Mischung aus Spoken Word-Gedicht und religiöser Ansprache sind. Und obwohl sie zumeist eher wenig Inhalt vermitteln und in meinen Augen der größte ästhetische Schwachpunkt der LP sind, sind sie doch irgendwie auch kompositorisch notwendig und erinnern an Stil-Epigonen wie Gil Scott-Heron oder die großartige letzte LP von Matana Roberts. Sie lassen We Are Sent Here By History zu dem thematisch potenten Album werden, das es ist und machen die Sache rund. Das ist im Endeffekt auch das coolste an dieser Platte, denn dadurch ergeben viele musikalische Entscheidungen für mich Sinn und machen ein Erlebnis, das auch so schon ziemlich genial ist, zu einem mit Botschaft und Mission. Was bedeutet, dass das hier nicht nur ein ästhetisch sehr gelungenes Album ist, sondern auch der Kontext in jeder Hinsicht fasziniert. Für Shabaka Hutchings ist das im Prinzip nichts neues, aber so gut wie hier war er damit in meinen Augen noch nie. Was ihn spätestens jetzt zu einem Künstler macht, den ich wesentlich aufmerksamer beobachten sollte.



Hat was von
Sons of Kemet
Your Queen is A Reptile

Matana Roberts
Coin Coin Chapter Four: Memphis

Persönliche Höhepunkte
You've Been Called | Go My Heart, Go the Heaven | Behold, the Deceiver | Run, the Darkness Will Pass | the Coming of the Strange Ones | We Will Work (On Redefining Manhood) | Teach Me How to Be Vulnerable

Nicht mein Fall
-


Samstag, 21. März 2020

Komm mal klar

 [ trappig | kollektivistisch | spaßig ]

Ich habe mich ehrlich bis zum Schluss gefragt, ob das jetzt wirklich noch sein muss. Und ich meine damit nicht das Album selbst, das ist definitiv völlig unnötig. Ich meine damit eher die Tatsache, dass ich mich wirklich nochmal hier hinsetze und eine ausführliche Besprechung dazu schreibe. Dass ich mir die inzwischen zweite ellenlange Riesenplatte von Lil Uzi Vert innerhalb von zwei Wochen gleich mehrfach zu Gemüte führe und mir anschließend sorgfältig überlege, was ich darüber zu sagen habe, obwohl ich eigentlich schon nach dem ersten Durchlauf wusste, dass es so viel sicherlich nicht darüber zu sagen gibt. Ein Schnellduchlauf auf Twitter hätte es also diesmal theoretisch getan, aber ich muss halt immer aufs ganze gehen. Außerdem langweilt die Quarantäne, deshalb gibt es jetzt trotzdem diesen Post. Und zuerst gilt es dabei, diese Platte im Kontext der Lil Uzi-Diskografie irgendwie einzuordnen. Dabei könnte man es sich einfach machen und sagen, dass LUV vs. the World 2 einfach die Bonustracks seines offiziellen neuen Albums Eternal Atake sind, was allerdings ziemlich verkürzt wäre. Angesichts des Titels und des Artworks liegt tatsächlich eher die Verbindung zum 2016 veröffentlichten Mixtape des gleichen Namens nahe (also des ersten Teils davon), das in der Szene immerhin so etwas wie der Durchbruch für den Rapper war und demzufolge ein klassischer Kandidat für einen Nachfolger ist. Und was technisch gesehen zumindest dafür spricht, das hier als komplett separates Release zu behandeln, das völlig unabhängig von Eternal Atake funktioniert. Das witzige dabei: Obwohl LUV vs. the World 2 von Herstellerseite und vom Künstler selbst nach Veröffentlichung den Stempel einer untergeordneten Surplus-Veröffentlichung verpasst bekam, ist es musikalisch doch in jeder Hinsicht das bessere der beiden Alben. Nicht unbedingt ein genialer linker Haken, mit dem der kreative Totalausfall von letzter Woche komplett rehabilitiert wäre, aber immerhin eine LP, die ein bisschen mehr Abwechslung, Inhalt und künstlerische Initiative ins Spiel bringt als die Katastrophe, die sich Uzis Comeback schimpfte. Was im wesentlichen eigentlich bedeutet, dass hier etwa eine Stunde sehr konservative, aber wenigstens lebendige Trapmusik aufgenommen wurde, die irgendwie Spaß macht. Woran das so richtig liegt, kann ich aber auch nur damit benennen, dass hier einfach die gleichen Sachen besser gemacht wurden als auf Eternal Atake. Das instrumentale Backing ist knackiger, der Künstler selbst ein ganzes Stück weniger monoton und nervig, es gibt ein paar echt akzeptable Hooks und endlich auch mal gescheite Features. Vor allem letzteres ist dabei ein echter Pluspunkt dieser LP. Durch die teilweise ziemlich coolen Beiträge von Leuten wie Future, Young Thug, Gunna, 21 Savage oder Chief Keef auf fast jedem Track entsteht hier irgendwie ein Gefühl von Kollektivität, in dem sogar der furchtbare Nav mal interessant klingt. Lediglich die beiden Gastparts von Young Nudy (noch dazu in zwei aufeinanderfolgenden Tracks) sind ziemlicher Kram und werfen ein paar böse Flashbacks an die ekelhaften Mysogynie-Lines auf Eternal Atake auf. Wie gesagt, ausbaufähig ist diese Platte auf jeden Fall immer noch. Was sie aber gut macht, ist eine gewisse Lockerheit wiederherzustellen, die Lil Uzi tatsächlich schon lange mal wieder nötig hatte. Nicht erst sein Comeback hatte das Problem, dass es von sich selbst viel zu viel wollte, auch auf älteren Platten wie LUV is Rage 2 deutete sich das schon an. Mit dem chilligen Gang-Kollabo-Mixtape-Charakter, der hier plötzlich wieder da ist, kommt ein bisschen angenehme Normalität in die Musik dieses Typen und das Setting ist ein viel besseres. Es sind ja schließlich auch zwei verschiedene Sachen, ob man über schnödes Balenci-Balenci-Balenci auf einem angekündigten Opus Magnum oder einem angehängten Bonus-Tape rappt. LUV vs. the World 2 zeigt mir, dass Uzi es durchaus drauf hat, wenn er sich auf seine Stärken konzentriert und keinen kompletten Egotrip schiebt, was auf jeden Fall die gute Nachricht seiner letzten 14 Tage ist. Die Frage bleibt aber trotzdem: Warum denn nicht gleich so?



Hat was von
Lil Wayne
Funeral

Young Thug
So Much Fun

Persönliche Höhepunkte
Myron | Lotus | Bean (Kobe) | Yessirskiii | Trap This Way (This Way) | Leaders

Nicht mein Fall
Moon Relate | Money Spread


Freitag, 20. März 2020

Die Schönheit der Chance

 [ indietronisch | vielseitig | chaotisch ]

Im Jahr 2020 muss es jemand wie Kieran Hebden in der Electronica-Szene eigentlich niemandem mehr beweisen. Mit inzwischen über zwei Dekaden an musikalischer Erfahrung und seinem Status als Erfinder des Folktronica ist er rückblickend eine der großen Koriphäen des Hipster-Elektro der Zwotausender und ein klassischer Kritikerliebling. Und es ist daher auch ziemlich klar, dass sein künstlerisches Zenit bereits vor Jahren überschritten wurde. Legendäre Platten wie Rounds oder There is Love in You macht der Produzent aus London seit langem nicht mehr und zumindest während der letzten Dekade war sein Output in meinen Augen doch eher durchwachsen. Mit Beautiful Rewind oder New Energy gab es zwar durchaus einige ziemlich gute Projekte von ihm, andere wie Morning/Evening lösten aber auch viele Fragezeichen bei mir aus und obwohl ich seiner Musik, die ich ja erst nach 2010 so richtig kennenlernte, dadurch prinzipiell zugeneigt wurde, ist sie doch nicht mehr im Ansatz so großartig wie sein Ruf als brillianter Indiedarling. Und gerade eine LP wie Sixteen Oceans zeigt an dieser Stelle auch mal wieder, wie sehr sich das kompositorische Konzept des Briten inzwischen abgenutzt hat. Dabei sah es zuletzt ja eigentlich ziemlich gut aus für ihn. Nach einigen sehr ruhigen Jahren und ein paar sehr unbefriedigenden kleinformatigen Releases zur Mitte der letzten Dekade war es 2017 New Energy, das endlich wieder wie ein richtiges Album klang und Hebden aus seiner gefühlten Krise herauskatapultierte. Und zumindest für einen Moment schien es, als wäre Four Tet in einer neuen Bestform angekommen. Wie aber die Erfahrungen vor dieser LP bereits zeigten, hat auch danach nichts in seiner Welt so wirklich Bestand und der Brite stellt drei Jahre später eine seiner wohl bisher schwächsten Platten vor. Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein Widerspruch erscheinen mag, denn stilistisch ist Sixteen Oceans seinem Vorgänger sehr ähnlich. Auch hier sucht Hebden eine ausgewogene Balance zwischen Atmosphärik und Rhythmik, ist etwas technoider unterwegs als früher und dekoriert das alles natürlich mit jeder Menge organischen Samples. Der Unterschied ist diesmal jedoch, dass seine Arrangements nur selten jene Tiefe und Tragweite haben, die New Energy so cool machten. Wo der Vorgänger seine Stärke vor allem in ausführlich komponierten und klanglich vielseitigen Langstücken fand, gibt es hier viele zwei- bis dreiminütige Tracks, die lediglich Blitzlichter einer musikalischen Idee darstellen und dabei sehr häufig wechseln. Zumeist gibt es dabei pro Song nur ein richtiges Motiv, das sich häufig kaum entwickelt und daher nie so wirklich zur Geltung kommt. Viele Nummern hätten dabei eventuell auch das Potenzial, sehr viel besser zu sein, geben sich aber zu wenig Zeit und Raum, um das auszubauen, was sie anfangen. Selbst der längste Titel Love Salad kommt in seinen siebeneinhalb Minuten nicht so richtig aus dem Leim und versackt irgendwo zwischen ödem Geblubber und einer sehr dilletantischen Ausführung von Indietronic. Und oft wirkt das so, als hätte Hebden hier einfach keine Idee, was er so richtig machen will. Es gibt Tracks wie Insect Near Piha Beach oder Baby, die sehr elektronisch und fast clubbig sind, dann wieder ambiente Stücke wie 4T Recordings oder ISTM und am Ende sogar eingeschleuste Field Recording-Experimente und Synth-Daddeleien wie Bubbles at Overlook 25th March 2019 oder Harpsichord. Viele Grundideen sind dabei nicht mal übel, man hat aber erstens nicht das Gefühl, dass sie mit großer Sorgfalt aufbereitet wurden und zweitens das Problem, dass sie alle auf diesem Album zusammengepfercht wurden und sich so gegenseitig ausdividieren. Und so ist das Dilemma hier am Ende gar nicht, dass viele Songs vom Konzept schlecht wären, sondern eher dass sehr wenig davon bei mir hängenbleibt. New Energy hatte diese großen, bedeutungsschwangeren Cuts wie Planet oder Two Thousand Seventeen, an die ich mich heute noch erinnere, das meiste hier hingegen habe ich vergessen, sobald der nächste Track läuft. Und obwohl das im Ambient-Pop nicht immer heißt, dass er deshalb gleich mies ist, empfinde ich es doch als großen Rückschritt. Sixteen Oceans ist in meinen Augen damit vor allem ein Indiz für die qualitative Wechselhaftigkeit, die Hebden in seiner Musik mittlerweile an den Tag legt und dass man bei ihm nicht mehr weiß, was man eigentlich erwarten soll. Wenn man es positiv betrachtet, bedeutet das zumindest, dass es bei ihm auch weiterhin spannend bleibt. Auch wenn es gerade nicht so sehr danach klingt.



Hat was von
Ozy
Distant Present

Aphex Twin
Selected Ambient Works Pt. 2

Persönliche Höhepunkte
Baby | Insect Near Piha Beach | Bubbles at Overlook 25th March 2019 | 4T Recordings

Nicht mein Fall
Harpsichord | ISTM