Samstag, 28. März 2020

La Vida Loca

[ catchy | lebendig | kommerziell ]

 Man bekommt es auf dieser Seite des Atlantischen Ozeans häufig nicht so richtig mit, weil hier vielleicht die Zielgruppe für so etwas fehlt, aber auf dem gesamten amerikanischen Kontinent erfreut sich die Welt des Latin-Pop gerade einer recht umfassenden Renaissance. Was vor einigen Jahren in Form des Überhits Despacito von Luis Fonsi und Daddy Yankee über den großen Teich schwappte, ist an vielen Orten dort Teil einer erfolgsversprechenden Bewegung. Und obwohl die meisten Audrucksformen davon natürlich im Bereich des ignorierbaren Konsenspop bleiben (und zuletzt auch ein paar echt peinliche musikalische Reaktionen von Leuten wie Drake und Madonna auslösten), hat diese neue Welle nicht nur großes Crossover-Potenzial, sondern auch eine gewisse emanzipatorische Kraft. Gerade Künstler*innen mit Verbindung zur Rap-Szene wie Cardi B und Bad Bunny nutzen ihre neu gewonnene Plattform, um immer wieder politische Statements loszuwerden und abgesehen davon spült die neue Begeisterung für lateinamerikanische Stilvarianten gerade auch einige Leute in die US-Playlisten, die selbst gar nicht aus den Staaten (inklusive Puerto Rico) kommen. Wobei insbesondere die kolumbianische Szene mal wieder einen besonderen Platz einnimmt. Mit Maluma und Kali Uchis gab es in den vergangenen Jahren gleich zwei Acts, die sich als starke Mainstream-Exporte zeigten und im Zuge des Revivals auch alteingesessene Künstler mitzogen, im wesentlichen dabei auch den Reggaeton-Veteranen J Balvin. Der ist in seiner Heimat bereits seit über zehn Jahren eine Institution und hatte auch immer wieder kleinere Erfolge im Ausland, sein Durchbruch kam allerdings erst 2016 so richtig, als sein viertes Album Energia auf Platz Eins der Latin-Charts in den USA landete. Dessen Nachfolger Vibras erhielt zwei Jahre später dort den achtfachen (!) Platinstatus, woraufhin sich der Künstler selbst mit dem Kollaborationsprojekt Oasis gemeinsam mit Bad Bunny, dem anderen Schwergewicht der Szene, adelte. Und weil J Balvin damit ganz offiziell ein Popstar ist und man als solcher immer am Ball bleiben muss, gibt es seit letzter Woche schon wieder die nächste Portion des Kolumbianers. Wobei man sich keine Illusionen machen muss: Was auf diesem Album stattfindet ist astreiner Kommerzpop. Balvin hat in seiner Musik relativ wenig von der düsteren Edgyness seiner trappigen Kollegen (obwohl er hier manchmal ein bisschen von ihnen klaut) und ist auch keine Kali Uchis oder Rosalía, die ihre Latin-Einflüsse immer wieder subversieren. Sein Bezugspunkt ist die klassische Shakira-Ricky Martin-Lusi Fonsi-Variante dieser Musik, nur eben mundgerecht für das Publikum von 2020 aufbereitet. Und ich sage ganz klar, dass das vielleicht nicht für jede*n etwas ist. Im gleichen Atemzug muss ich aber auch sagen, dass Colores genau die Platte sein könnte, die einer neugierigen Laufkundschaft aus Europa das Konzept des modernen Reggaetón näher bringen könnte und zumindest bei mir hat es genau so funktioniert. Verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle. Zum einen hat diese LP dadurch einen Vorteil, dass sie mit unter 30 Minuten Spieldauer eine ziemlich gute und unanstrengende Kostprobe von Balvin ist, mit der niemand direkt überfordert wird. Wenn man also nur mal schauen will, was in der Bewegung gerade so abgeht, ist das hier genau die richtige Dosis. Und für diesen knappen Rahmen bekommt man hier dann auch das Maximum an großartigem Hit-Songwriting. Mit Songs wie Azul, Arcoíris oder Rojo gibt es hier nicht nur einige echte Einzeltrack-Highlights, die für sich total cool sind, Colores leistet sich auch zwischendrin keinerlei Füllmaterial und ist von Anfang bis Ende eine absolute Stimmungsgranate. Dass dabei zwischendurch auch immer ein bisschen mit Hiphop-, Dancehall- und R'n'B-Einflüssen gespielt wird und ein paar echt gute Gastauftritte versammelt werden, macht das ganze zusätzlich aufregend und abwechslungsreich. Sicher ist dabei nicht jeder Track ganz so hochwertig wie der andere, doch ist es bemerkenswert, dass der gute Laune-Faden dieser LP eigentlich nie so richtig abreißt und zumindest immer ein sehr stabiles Niveau gehalten wird. Gerade für ein so kommerzielles Projekt wird hier also ganze Arbeit geleistet, weshalb es so eine gute Einstiegsdroge ist. Weshalb ich Colores eigentlich am ehesten für Leute wie mich empfehle, für die zeitgenössischer Latin Pop noch Neuland ist und die das vielleicht nur daran gemerkt haben, dass sie Despacito damals nicht ganz so furchtbar fanden wie alle anderen. Weil wenn man schon mit sowas anfängt, sollte man wissen was man tut, damit man nicht irgendwann so endet wie Madonna oder Drake.



Hat was von
Shakira
El Dorado

Luis Fonsi
Vida

Persönliche Höhepunkte
Amarillo | Azul | Rojo | Rosa | Arcoíris

Nicht mein Fall
-


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