Sonntag, 22. März 2020

Roots

 [ rhythmisch | hypnotisch | spirituell ]

Ich habe in den vergangenen Jahren in diesem Format schon ab und zu mal über das ebenso seltsame wie tolle Phänomen geschrieben, dass sich seit einiger Zeit ausgrechnet Jazz-Fusion zu einer der spannendsten und innovativsten Musikrichtungen der ausgehenden Zehnerjahre entwickelt hat und wie die Art von Musik, die seit einer Weile von Leuten wie Badbadnotgood, Christian Scott, Esperanza Spalding und der kompletten Brainfeeder-Bubble um Thundercat und Flying Lotus gemacht wird, gerade ziemlich viele Strömungen zeitgenössischer Popmusik beeinflusst. Wo ich in dieser Hinsicht aber bisher ein wenig blind war, ist der Umstand, dass ich sich meine Euphorie hauptsächlich auf amerikanische Künstler*innen beschränkte, die keineswegs die einzigen sind, die neue Ausdrucksformen experimenteller Jazzmusik suchen und finden. Seit ungefähr 2016 ist vor allem auch Großbritannien ein Ausgangspunkt starker kreativer Bewegungen geworden, die viel Aufmerksamkeit aus der Szene auf sich ziehen, wobei die meisten dieser Strömungen untrennbar mit dem Namen Shabaka Hutchings verbunden sind. Als Mitglied und Leader der Bands Sons of Kemet und the Comet is Coming ist der Londoner so etwas wie das Mastermind einer jungen Inkarnation von Jazz-Künstler*innen, deren künstlerischer Bezugspunkt die Fusion mit den musikalischen Traditionen Afrikas sind und die daraus einen einigermaßen frischen Stilmix schöpfen. Im Gegensatz zum filigranen, technisch komplexen Prog-Soul-Entwurf der Amis (die sich ja thematisch auch sehr stark mit afroamerikanischer Kultur auseinandersetzen) ist Hutchings' Ansatz wesentlich rustikaler, rhythmischer und bratziger und erinnert in seiner Dichte fast an eine kratzigere Variante von Bigband-Swing und Dixie. Als eine Art Standardwerk dafür bildet sich gerade die letzte Sons of Kemet-LP Your Queen is A Reptile heraus, die inhaltlich nicht nur große Figuren der afrikanischen Geschichte aufarbeitet, sondern auch Shabakas Sound-Entwurf erst so richtig in Form gießt. Eine klangliche Ästhetik, die er seitdem immer wieder mit verschiedenen Bands in Szene setzt. Die südafrikanische Gruppe the Ancestors ist dabei bereits seit 2015 mit an Bord und eine der wichtigsten Bezugspunkte des Londoners. Außerhalb der Londoner Szene findet er in ihrer Arbeit einen direkten Draht zu den musikalischen Entwicklungen innerhalb des afrikanischen Kontinents und nimmt deren Impulse für seine Musik auf. Dabei behandelte schon ihr erstes gemeinsames Album Wisdom of Elders vor vier Jahren die politischen Folgen der Apartheid und den Geschichten von Unterdrückung und Kolonialismus. We Are Sent Here By History ist dazu nun so etwas wie das musikalische Sequel, das neue Aspekte des gleichen Themengebiets beleuchten will. Dabei geht es diesmal vor allem um die Leidensgeschichten der afrikanischen Diaspora und dem Jahrhunderte alten Traum von der Rückkehr in deren Heimatländer. Im wesentlichen nimmt die Platte dabei die Haltung einer Art Prophezeihung ein, die sehr spirituell vom Ende der schlechten Zeiten spricht und in klassischer Rastafari-Manier den Exodus nach Afrika als Weg der Erlösung predigt. Ich als weißer Europäer kann dieses Thema natürlich nur von außen beurteilen, aber vieles an dieser LP wirkt einigermaßen prophetisch, was auch durch die sehr hypnotische und pulsierende Musik unterstützt wird. Im Gegensatz zu seinen Alben mit Sons of Kemet und the Comet is Coming setzt Shabaka Hutchings auf We Are Sent Here By History nicht so sehr auf breite Bläsersätze und hookige Melodien, sondern vor allem auf perkussive Rhythmen. So gut wie die komplette Spielzeit hier (und wir reden hier immerhin von guten 65 Minuten) wird von einem turbulenten Groove unterspült, der tief in diversen afrikanischen Folk-Gattungen verwurzelt ist und hier das dominierende musikalische Motiv darstellt. Über dieses Bett aus Rhythmen improvisieren die Ancestors und Hutchings danach eine pulsierenede Mischung aus Free Jazz und modernem Bebop, die insgesamt sehr dynamisch daherkommt. Viele Stücke geben sich dabei viel Raum und entwickeln sich innerhalb von fünf Minuten oder mehr in diverse Richtungen. Immer wieder werden darüber auch ein paar lyrische Fetzen performt, die eine Mischung aus Spoken Word-Gedicht und religiöser Ansprache sind. Und obwohl sie zumeist eher wenig Inhalt vermitteln und in meinen Augen der größte ästhetische Schwachpunkt der LP sind, sind sie doch irgendwie auch kompositorisch notwendig und erinnern an Stil-Epigonen wie Gil Scott-Heron oder die großartige letzte LP von Matana Roberts. Sie lassen We Are Sent Here By History zu dem thematisch potenten Album werden, das es ist und machen die Sache rund. Das ist im Endeffekt auch das coolste an dieser Platte, denn dadurch ergeben viele musikalische Entscheidungen für mich Sinn und machen ein Erlebnis, das auch so schon ziemlich genial ist, zu einem mit Botschaft und Mission. Was bedeutet, dass das hier nicht nur ein ästhetisch sehr gelungenes Album ist, sondern auch der Kontext in jeder Hinsicht fasziniert. Für Shabaka Hutchings ist das im Prinzip nichts neues, aber so gut wie hier war er damit in meinen Augen noch nie. Was ihn spätestens jetzt zu einem Künstler macht, den ich wesentlich aufmerksamer beobachten sollte.



Hat was von
Sons of Kemet
Your Queen is A Reptile

Matana Roberts
Coin Coin Chapter Four: Memphis

Persönliche Höhepunkte
You've Been Called | Go My Heart, Go the Heaven | Behold, the Deceiver | Run, the Darkness Will Pass | the Coming of the Strange Ones | We Will Work (On Redefining Manhood) | Teach Me How to Be Vulnerable

Nicht mein Fall
-


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen