Donnerstag, 5. März 2020

Baby Don't Cry

[ verdröhnt | trippig | langatmig ]

Es ist einigermaßen erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit in den letzten Jahren in der Hiphop-Bubble die Metamorphose mancher Künstler*innen von Newcomern zu etablierten Mainstream-Acts verläuft. Dass Leute wie 21 Savage, Playboi Carti oder Lil Uzi Vert, die gefühlt vor Monaten noch unbeschriebene Blätter waren, mittlerweile den kreativen Kern der Szene bilden, ist in meinen Augen ein seltsamer Trend und dass in deren Hintergrund schon wieder die nächsten Kandidat*innen stehen, die ihren Platz binnen einer Saison höchstwahrscheinlich einnehmen werden, sorgt für eine extreme Schnelllebigkeit, in der ich manchmal kaum hinterherkomme. So zum Beispiel bei jemandem wie Lil Baby, der im Moment als einer der gewichtigsten jungen Rapper im Game gilt. Nicht mal zwei Jahre ist dessen erstes Album alt und noch vor wenigen Monaten war er einer der heißen Kandidaten auf einen der begehrten Positionen in der Freshmen-Aufstellung des XXL-Magazins. Dass er darin schlussendlich nicht auftauchte, änderte nichts daran, dass seine zweite richtige LP My Turn inzwischen wie ein elementares Rap-Release dieser Saison behandelt wird und Lil Baby faktisch gesehen ein Star ist. Was in den letzten zwei Tagen vor allem in zahllosen fiesen Verrissen dieser Platte resultierte und den Künstler selbst als leichtes Ziel zeigte, an dem Leute stellvertretend ihre Genervtheit mit kommerziell modifizierten Traprap-Schnellschüssen auslassen konnten. Und klar ist 2020 so eine Reaktion absolut ahnbar und ich möchte niemandem seine Meinung über dieses Album absprechen, trotzdem ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar, warum unbedingt Lil Baby jetzt für diesen Shitstorm herhalten muss. Denn wenn man mich fragt, ist My Turn eine der positiveren stromlinienförmigen Szene-Platten des neuen Jahres. Oder zumindest nicht ansatzweise so schlimm wie so mancher Totalausfall, der innerhalb der letzten drei bis fünf Jahre passierte. Sicher ist dieser Typ kein plötzlich vom Himmel gefallenes Talent und die Vorwürfe, er würde Young Thug kopieren sind durchaus gerechtfertigt, aber welcher andere Rapper seiner Generation tut das gerade nicht? Lil Baby ist wenigstens noch einer der Künstler*innen, die diesen Kopismus hier in einen ansprechenden Vibe verpacken und sich ein paar gute Beats dazu produzieren lassen. Auch der Kritikpunkt der Länge dieses Albums (mit 60 Minuten sogar noch moderat) ist einer, den man an so gut wie jedes größere Major-Release seiner Kolleg*innen machen kann und auch wenn My Turn alles andere als großartig ist, immerhin steckt das gute Material hier irgendwo drin. So gut wie alles an der ersten Hälfte diese LP ist in meinen Augen ganz ordentlich gemachter Traprap und Lil Baby einigermaßen charismatisch. Tracks wie Heatin Up, Grace oder Woah finde ich sogar richtig klasse. Zwar gibt es hier auch wenige audrückliche Banger und das was dieser Typ als seinen Flow bezeichnet ist meistens ziemlich chaotisches gecroone, trotzdem schafft es das Album, den alles entscheidenden Faktor des Vibes aufzubauen und diesen auch über den Großteil der Spielzeit aufrecht zu erhalten. Mit Catch the Sun oder Grace sind sogar einige spannende stilistische Auswüchse dabei, die fast eine melancholische Aura erzeugen. Die Länge ist am Ende natürlich ein Problem, allerdings kein so schlimmes wie bei vielen artverwandten Platten, und wo andere Künstler*innen in solchen Veröffentlichungen zum Teil nur Müll fabrizieren, würde es hier reichen, die Tracklist an einigen Stellen zu trimmen, um ein durchaus befriedigendes Ergebnis zu erhalten. Es ist bei Rapmusik wie dieser mitunter ein schmaler Grat zwischen grooviger Trippyness und gähnender Langeweile und nur wenige schaffen das Kunststück, über die üblicherweise langen Spielzeiten ihrer LPs auf der spannenden Seite der Dinge zu bleiben. Lil Baby kriegt das hier hin und allein das reicht mir, um von My Turn generell einen positiven Eindruck zu behalten. Dass darüber hinaus noch nicht alles stimmt ist in meinen Augen dann nicht so dramatisch. Am Ende des Tages ist das ja schließlich immer noch das gerade Mal zweite Album dieses Typen. Und die Basics hat er erstmal gecheckt. Was danach kommt, braucht dann wahrscheinlich noch ein bisschen Geduld. Zu schade, dass sowas in Trap-Kreisen nach wie vor ein Fremdwort ist.



Klingt ein bisschen wie
Future & Young Thug
Super Slimey

Drake
Scorpion

Persönliche Höhepunkte
Get Ugly | Heatin Up | Grace | Woah | Sum 2 Prove | We Should | Catch the Sun | Consistent | Gang Signs | Solid

Nicht mein Fall
How | Same Thing


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