Dienstag, 27. Dezember 2022

Saisonrückblick 2022 : Finale : Die 30 besten Alben


 

 

Als es im Dezember des letzten Jahres daran kam, diese finale Liste des Jahres zu verfassen, eröffnete ich diese mit dem sorgenvollen Gedanken, ob ich nicht vielleicht langsam die Leidenschaft an neuer Musik verlieren würde und ich an dem, was ich hier seit über eine Dekade so intensiv betreibe, nicht einfach übersättigt hatte. Eine ernste Überlegung, die in mir zu diesem Zeitpunkt große Zweifel sähte und mich sicherlich auch mit einem miesen Gefühl aus der letzten Saison scheiden ließ. Die gute Nachricht war aber: 2022 war noch keine paar Wochen alt, als ich merkte, dass diese Musikmüdigkeit wohl doch nur eine vorrübergehende Erscheinung war und es einfach nur ein bisschen frischen Wind brauchte, um mich wieder für neues zu motivieren. Frischen Wind, der in den 12 darauf folgenden Monaten glücklicherweise wieder von allen Seiten wehte. Nach dem etwas fahl in meiner Erinnerung zurückgebliebenen 2021 war das jetzige Jahr zum Glück ein deutlicher Schritt nach vorne, das mit Anzug im Tempo und zahlreichen Überraschungen meine Neugier anregte, viele Vorurteile zunichte machten und - was sicherlich am wichtigsten ist - meine Liebe für das Schreiben darüber wieder neu entfachte. Wobei der Weg bis hierhin, zu meinen dreißig liebsten Alben der Saison, ein langer und abwechslungsreicher war. Viele Platten, die ich dieses Jahr erstmal bloß okay fand, haben hier zum Teil hohe Platzierungen eingenommen und viele andere, die ich am Anfang großartig fand, packen mich inzwischen nicht mehr ganz so sehr. Auch gab es zwar viele echte Highlights in der Breite, von denen fast jede Woche ein neues erschien, allerdings sehr wenige wirklich bahnbrechende Projekte, die das Potenzial zu echten Lieblingsplatten haben. Wenn ich 2022 also für mich resümiere, dann vor allem als eine Saison mit großer ästhetischer Vielfalt, die sich letztlich auch nicht unwesentlich in dieser Liste wiederfindet. Von finsterstem Industrial über afrikanischen Techno, Chartstürmer-Trap und Pöbelpunk bishin zu esoterischem New Age-Ambient ist dabei alles dabei, mit einem Raster an Künstler*innen, das in seiner Herkunft so divers ist wie in seiner Stilistik. Und wenn ich ehrlich bin, dann ist mir eine größere Menge an tollen neuen Entdeckungen sogar lieber als drei Volle-Punktzahl-Platten in einem Jahr, denn sie sind es sicherlich am meisten, die meine Leidenschaft für diese Tätigkeit hier befeuern. Hier sind die 30 besten davon:


1. Diese Liste ist zu 100 Prozent subjektiv und reflektiert nicht mehr und nicht weniger als meine eigene Auffassung. Wenn etwas hier nicht auftaucht, kenne ich es entweder nicht oder ich fand es nicht so nennenswert, dass es hier auftaucht.

2. Diese Liste ist nicht endgültig. Es kann vorkommen, dass ich meine Meinung zu Einträgen hier ändere oder hinterfrage.





30
Zola Jesus - ArkhonZOLA JESUS
Arkhon
Sacred Bones













Darkwave Schon seit etlichen Jahren ist Zola Jesus mit ihrem Output sowas wie der beste Kompromiss aus Lingua Ignota und Lykke Li, deren großer musikalischer Wurf nun auch schon lange überfällig ist. Arkhon ist dieser nun endlich geworden und präsentiert auf sehr überzeugende Weise alle Kompetenzen, die ich an ihr schon immer mochte: Auf der einen Seite mit düsteren Industrial-Brettern wie Lost allen Hörenden den Stuhl über den Kopf ziehen, auf der anderen mit eisigen Klavierballaden wie Desire die Wunde kühlen. Dass sie bei alledem mit beeindruckender Konsequenz die Fahne des modernen Gothic-Pop hochhält und keinen einzigen schwachen Song schreibt ist dabei genauso beeindruckend wie die auf den Punkt abgestimmte Produktion, die auf sehr clevere Weise auch immer wieder Elemente aus Indiepop einbezieht. Denn so ist Arkhon auf seinen ganz eigenen Wegen eine Platte voller Hits, von denen jeder klingt wie die Version von Sia, die in den frühen Neunzigern von einem Poltergeist heimgesucht wurde, statt mit David Guetta zu hängen. Die optimale Konsensplatte für zünftige Grufties und alle, die es werden wollen!

Das beste daran: Der perfekte Kontrast, den Sewn und Desire im Mittelteil direkt hintereinander setzen.

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29
Backxwash - His Happiness Shall Come First Even Though We Are SufferingBACKXWASH
His Happiness Shall Come First Even Though We Are Suffering
Ugly Hag








 
 
 
Industrial Hiphop Ich bin froh darüber, dass ich mit der Musik von Ashanti Mutinta am Ende doch die Geduld hatte, sich über mehrere Releases langsam entwickeln zu lassen, statt sie nach ihrem Durchbruch direkt als überbewertet stehen zu lassen. Denn obwohl ich über ihrer früheren Sachen noch immer mehr oder weniger genauso empfinde, hat sich daraus doch spätestens hier eben jene musikalische Offenbarung entwickelt, die sich dort schon andeutete. Mit dem Unterschied, dass sie mittlerweile nochmal drei Ecken cooler geworden ist. Denn was das Konzept Backxwash 2022 bedeutet, ist eben nicht nur krachig-verwunschener industrieller Hiphop mit religiösen Untertönen, sondern ein vielschichtiges Mosaik an Stilen, in dessen Zentrum eine äußerst talentierte Songwriterin als Dompteurin steht, die zufällig auch noch fantastisch rappen kann. Wobei dieses Album auch erstmals mehr ist als die Summe dieser Teile, sondern ein konzeptuell verwobenes und in jeder Faser extrem kreatives Ausnahmeprojekt, dass Mutintas musikalische Identität nicht nur festsetzt, sondern weiterentwickelt. Auf eine Weise, die mich auch mittelfristig neugierig macht.

Das beste daran: Das supertheatralische Lacrimosa-Sample in Vibanda.

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28
Cancer Bats - Psychic JailbreakCANCER BATS
Psychic Jailbreak
Bat Skull













Hardcore Es ist ja eine Sache, dass ich mich hier darüber freuen kann, 2022 eine Band wie die Cancer Bats in diese Liste zu schreiben, die für mich als Teenager zu den Türöffnern in Richtung Hardcore gehörten. Es ist aber nochmal eine völlig andere, dass Psychic Jailbreak in dieser Funktion das mit Abstand jugendlichste und rotzlöffligste Album ist, das die Kanadier in ihrer gesamten bisherigen Karriere gemacht haben. Zwar muss sich jemand, der mit knapp 40 plötzlich anfängt, Songs übers Kiffen und Skaten zu schreiben, schon irgendwie den Vorwurf gefallen lassen, auf eine mittelschwere Midlife-Crisis zuzusteuern, doch habe ich damit absolut kein Problem, solange das Ergebnis so unterhaltsam und energiegeladen klingt wie auf dieser LP. Umso mehr deshalb, weil es zuletzt tatsächlich so aussah, als würden die Bats nach Jahren der Ballerei doch noch zahm und possierlich werden. Psychic Jailbreak holt sie mit einem saftigen Paukenschlag zurück in die Moshpit und lässt sie dort auch die nächsten 36 Minuten nicht mehr raus. Was richtig ist, denn da gehören sie meiner Meinung nach ja immer noch hin. Ihr bestes Album seit gut und gerne sieben Jahren steht dafür eindrucksvoll Pate.

Das beste daran: "Like a lonely bong missing his buds"

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27
Kenny Beats - LOUIEKENNY BEATS
Louie
XL













Instrumentaler Hiphop Ich bin auch diesem Format schon seit längerem dabei, über die künstlerische Sinnhaftigkeit und Bedeutung instrumetaler Beattapes zu fachsimpeln und war dabei viele Jahre lang leider mit viel Mittelmäßigkeit konfrontiert, die mich bisweilen die Hoffnung verlieren ließ. Jetzt ein solches Projekt unter meinen 30 Lieblingsplatte der Saison zu haben, ist also allein schon deshalb ein kleiner Triumph. Schöner ist es am Ende nur noch deshalb, weil es eben von Kenny Beats kommt, einem der fleißigsten und vielfäligsten Produzenten der letzten Dekade, der hier endlich auch mal den Schritt nach vorne wagt und als Solokünstler seinen Platz sucht. Mit dem positiven Effekt, dass er dabei nicht nur sein bestes Album bisher macht, sondern ganz nebenbei auch noch einen beeindruckenden Stilwandel von rotzigem Trap zu smooth-souligem Boom Bap vollzieht, der ihm zumindest in meinen Augen auch für eine Kandidatur in die J-Dilla-Nujabes-Liga instrumentaler Hiphop-Producer bereit macht. In der Hoffnung, dass das hier nicht seine letzte LP dieser Sorte war.

Das beste daran: Wie schon andernorts festgestellt das immens ohrwurmige Eternal im Mittelteil.

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26
ANN ANNIE
By Morning
Die-Ai-Wei















Ambient Als ich die Künstlerin Ann Annie im Frühjahr 2018 das erste Mal für mich entdeckte, handelte es sich bei ihr um eine unscheinbare Instagram-Tüftlerin, die kurze Videos von sich und ihren Experimenten auf einem modularen Sythesizer postete und damit schon irgendwie Potenzial zeigte, aber nicht zwingend als Albumkünstlerin interessant war. 2022 begegne ich ihrer Musik nun zum zweiten Mal und muss gestehen, dass sich das geändert hat. Sehr sogar. Vier Jahre und drei Alben später braucht die Kalifornierin auf By Morning keine 25 Minuten, um den Sog eines vollwertigen Longplayers zu erzeugen und eine klangliche Vielfalt zu beinhalten, die von einem unwahrscheinlichen Wachstum zeugt. Klanglich sind die zehn Stücke dieser Platte dabei ziemlich beeindruckend und stilistisch so vielfältig wie wenige Ambient-Werkstücke, die ich sonst kenne. In ihre Rolle als LP-Künstlerin schein Ann Annie also mittlerweile mehr als gewachsen sein und macht mich sehr neugierig, wie es von hier aus weitergeht.

Das beste daran: Wie sich das Intro von Late Afternoon langsam selbst in die richtige Harmonie einpendelt.

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25
Boris - WBORIS
W
Sacred Bones













Experimental Rock Ich dachte ja eigentlich immer, dass Boris mir am besten in der rockig-verdoomten Noiseband-Variante gefallen, die sie auf den meisten ihrer Platten zeigen, während ihr Oeuvre im Bereich Shoegaze und Postrock, das seit jeher parallel existiert, für mich lange weniger spannend war. Ihr (jetzt schon nicht mehr ganz so) neues Album W hat mich diesbezüglich aber Ende Januar eines besseren belehrt. Denn stand jetzt ist das hier mit einigem Abstand meine bisherige Lieblings-LP der JapanerInnen und als solche sicherlich eine ihrer am meisten atmosphärischen und abstrakten. Schon bei der Benennung einer eindeutigen Stilistik wird es hier schwierig, weil fast alle Songs völlig nebulös dahinwabern und viele gebräuchliche Genres nur in Nuancen anschneiden. Und dass sehr wenig gesungen wird und die Produktion sehr unstet ist, hilft da auch nicht viel. Entgegen aller Instinkte fasziniert mich aber gerade diese Diffusität auf W immer wieder und sorgt für eine der spannendsten, weil undefinierbarsten, Albumerfahrungen dieser Saison. Was auch überfällig ist, denn vorher hatte ich Boris aus unerklärlichen Gründen noch nie in einer solchen Liste.

Das beste daran: Wie Old Projector ganz vorsichtig den Türspalt zum Stoner Rock aufstößt.

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24
リーガルリリー [Regal Lily] - Cとし生けるものREGAL LILY
Cとし生けるもの
Ki-Oon | Sony













Indierock Es wäre der einfache Weg, Regal Lily und ihr neuestes Album einfach damit zu beschreiben wie unfassbar niedlich ist es und wie sehr es einige der gängigsten J-Rock-Klischees erfüllt, die es in jedem Moment zu einer sehr stimmigen Erfahrung machen. Weil das hier aber eine ernstzunehmende Band ist, die ich auf keinen Fall auf ihr Dasein als exotischer Fetisch-Act für japanophile Weebs reduzieren will, rede ich lieber über andere Dinge. Zum Beispiel darüber, wie sehr diese LP in vielen Momenten auch effetiv rockig ist und welche grandiose Energie das Trio aus Tokyo durchweg performativ abruft. Oder darüber, wie eingängig hier quasi jede Hook ist, obwohl zumindest ich kein Wort von den dafür verfassten Texten verstehe. Oder was Takahashi Honoka für eine fantastische Leadsängerin ist, die in jeder Zeile hindertzehn Prozent gibt. Was diese Platte aber letztendlich besonders macht, ist die Summe dieser Faktoren und die Art und Weise, wie sie zusammenwirken. Und zu denen gehört es dann am Ende eben auch dazu, dass Regal Lily verdammt niedlich sind. So ehrlich muss man sein.

Das beste daran: Die kleine Hommage an die Smashing Pumpkins, die man in Planet Trash raushören kann.

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23
grim104 - Imperium GRIM104
IMPERIUM
Recycled Earth
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Hiphop Technisch gesehen ist Imperium gerade mal das Debütalbum des Moritz Anton Wilken, was aber jeder Person, die seinen Output seit einer Weile verfolgt, rechtmäßigerweise als Blödsinn erscheinen muss. Nicht nur deswegen, weil dieser Typ als Grim104 schon mit Zugezogen Maskulin seine Furchen im Andlitz des Deutschrap hinterlassen hat, sondern auch weil er inzwischen auf einen einigermaßen stattlichen Katalog als Solokünstler zurückblickt, der hier wahrscheinlich sein bisher wichtigstes Kapitel geschrieben bekommt. Das vorliegende Album ist eines, das sich mehr denn je mit dem Menschen hinter der Kunstfigur auseinandersetzt, intellektuellen Feingeist gegen schonungslose Nabelschau eintauscht und dabei auch bewusst das Risiko eingeht, ein bisschen selbstmitleidig zu wirken. Dass einer der besten deutschen Rapper der letzten Dekade das aber verkaufen kann, versteht sich am Ende genauso von selbst wie die Tatsache, dass er das in gerade mal neun Songs und 30 Minuten schafft. Und obwohl Imperium damit definitiv nicht seine beste Arbeit ist (sein letztes Mini-Album Das Grauen, das Grauen stand hier 2019 auf dem Siegertreppchen), ist er doch weiterhin ganz klar einer meiner Lieblingskünstler. Der hier gerade auch nochmal ein ganzes Stück komplexer geworden ist.

Das beste daran: Die vielen aufwändig selbstgemalten Panels im Video zu Komm und sieh.

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22
BILDERBUCH
Gelb ist das Feld
Maschin













 
Pop Gelb ist das Feld war für mich definitiv einer der größeren Grower des Jahres, der viel Überzeugungsarbeit leisten musste, um letztendlich hier zu stehen. Und wer meinen Artikel vom Frühjahr liest, wird sehen, wie viel Zweifel ich anfangs noch mit diese Platte hatte. Wenige Monate später haben diese sich allerdings auf ähnliche Weise zerstreut wie der lästige Druck des Zeitgeistes in der Musik von Bilderbuch, was mich nach aktuellem Stand nun doch zu der Auffassung bringt, dass sie Österreicher hier ihr bisher bestes Album gemacht haben. Die Methodik dabei: Entschleunigung. Mehr noch als auf den letzten beiden Platten, die für sie ja endgültig die Abkehr vom Popstartum bedeuteten, ist Gelb ist das Feld eine LP mit rosaroter Brille und Weichzeichner im Blick, das mit allen Mitteln das innere Zen sucht. In der Produktion mit weniger kantigen Sounds und fließenderen Motiven, im Songwriting mit mehr Gitarren und smootheren Synths, in den Lyrics mit einem Maurice Ernst, der übers Leben auf dem Land und die einfachen Dinge der Welt singt. Und obwohl das dann mitunter schon etwas hippiesk erscheint und im kompletten Kontrast zu der Ästhetik steht, die Bilderbuch noch Mitte der letzten Dekade hatten, klingen sie hier doch mehr denn je wie eine Band, die musikalisch angekommen ist. Eine Sache, die ich ihnen zutiefst gönne.

Das beste daran: Wie lange sich der Opener Bergauf Zeit nimmt, um wirklich loszulegen.

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21
Lady Aicha & Pisko Crane's Original Fulu Miziki of Kinshasa - N'Djila Wa MudujimuLADY AICHA & PISKO CRANE'S ORIGINAL FULU MIZIKI OF KINSHASA
N'Djila WA Mudujimu
Nyege Nyege









 
 
Afrobeat Als jemand, der es in den letzten drei Jahren mit viel gutem Willen und Geduld geschafft hat, eine Leidenschaft für die vielschichten Phänomene des afrikanischen Techno-Untergrunds um das Label Nyege Nyege zu entwickeln, hätte ich mir so ein Album schon wesentlich früher gewünscht. Eines, das die wesentlichen Parameter des typischen Sounds der Bewegung zu vermitteln weiß, dabei aber nicht gleich die Art von avantgardistischer Noise-Konzeptkunst voranstellt, die viele Platten aus dieser Ecke so unzugänglich macht. Nicht, dass ich das nicht auch auf eine Art mögen würde und in der jüngeren Vergangenheit sind solcherlei Projekte auch schon echte Favoriten von mir gewesen, doch ist das hier mit seinen eher traditionellen Kompositionen (zumindest im Verhältnis betrachtet) und den starken Afrobeat-Bezügen die wirkungsvolle Einstiegsdroge zum Nyege Nyege-Fandom, die ich nie so richtig hatte. Wobei ich mir von einer LP wie dieser letztlich vor allem verspreche, dass die noch mehr Leuten die Musik dieser Szene näher bringt, die wirklich gerade eine der innovativsten und spannendsten Sachen im Bereich der elektronischen Musik ist.

Das beste daran: Dass Nyege Nyege jetzt endlich auch mal in den Top 30 vertreten ist. War definitiv überfällig.

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20
Klaus Schulze - Deus Arrakis KLAUS SCHULZE
Deus Arrakis
SPV Recordings













Ambient Es brauchte 2022 leider mal wieder den Tod einer der großen musikalischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, um mich für seine Musik zu interessieren und dass Deus Arrakis das erste Album ist, das ich von diesem Pionier des Elektropop höre, ist eigentlich eine echte Schmach. Trotzdem freue ich mich auch ein bisschen, dass es eben gerade diese Platte ist, mit der ich seinem Output nun begegne, da sie als die letzte LP seines Katalogs auch wirklich eine sehr besondere ist. Als hätte der Berliner es schon im Vorfeld geahnt, handelt die letzte Musik, die er zu Lebzeiten schreibt und aufnimmt, vom antiken Verständnis des Jenseits und der Wechselwirkung von Leben und Tod, das er hier in Form seiner wie üblich weitläufig-kosmischen Klangflächen darstellt. Und obwohl das ganze dabei ohne ein einziges gesungenes Wort stattfindet und inhaltlich viel zur Interpretation offen lässt, fühlt es sich im Nachhinein doch schon ein bisschen an wie eine Nachricht, die Schulze aus ebenjenem Nachleben nochmal an uns weitergibt. Über den Inhalt des ganzen kann anschließend jede*r selbst fachsimpeln.

Das beste daran: Wenn im Seth-Teil der Platte zum ersten Mal die Violine einsetzt.

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19
Bonobo - FragmentsBONOBO
Fragments
Ninja Tune













Downtempo Die Musik von Bonobo mag aus der Perspektive von 2022 die Coolness eines dekorativen Wandtattoos und die Edgyness eines weißen Billy-Regals ausstrahlen und lange habe ich aufgrund solcher Eindrücke auch strikt geweigert, mir einzugestehen, dass ich sie eigentlich ganz nett finde. Nachdem seine letzten, sehr poppigen Platten mir das aber immer sehr einfach machten, war Fragments mit seinem meditativ-elektronischen Sound und dem souligen Feingeist zwischen den Spuren im Januar dieser Saison dann doch wieder ein Projekt, an dem derlei Kritik anstandslos abperlte und eine Schönheit offenbarte, der ich mich einfach hingeben musste. In Form eines Albums, das auf beeindruckende Weise Vielfalt und Kohärenz vereint, Pop-Crossover genauso gut kann wie breitflächigen Elektro und auf dem jedes Feature perfekt ins Bild passt. Und nachdem ich letztes Jahr in dieser Liste eh schon Platten von Bicep und Yeahman stehen hatte, die auf sehr ähnliche Weisen funktionierten, erscheint das hier als bester Kompromiss aus beiden Welten einfach nur logisch. Und die frühen Zwotausendzwanziger immer mehr als eine gute Zeit für die Renaissance des Downtempo.

Das beste daran: Das großartig meditative Jamilia Woods-Feature in Tides.

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18
Gunna - DS4EVERGUNNA
DS4Ever
YSL | 300 Entertainment












 
Trap Als DS4Ever im Januar 2022 erschien, war Gunna noch das vielumworbene Starchild des YSL-Kollektivs und neben Young Thug höchstwahrscheinlich der wichtigste Rapper des Labels, der als dessen große Zukunft galt. 12 Monate später distanziert er sich öffentlich von selbigen und sagt gegen seinen ehemaligen Chef als Kronzeuge vor Gericht aus. Dass die hier vorliegende Platte schon aus jetziger Perspektive Teil einer vergangenen Zeit ist, ist also quasi ein Fakt und macht den Umstand ein bisschen komisch, sie jetzt hier aufzuführen. Was sich seit Anfang dieser Saison aber nicht geändert hat ist, wie großartig ich sie in allen Facetten finde und was sie für ein großer Schritt füt Gunna als Musiker ist. Lange als laufende Punchline des modernen Traprap behandelt zeigt der MC als Atlanta sich hier als patenter Albumkünstler mit einem Gespür für Hits, das dieses Jahr an vielen Punkten seinesgleichen suchte und über viel hämische Kritik erhaben war. Und obwohl es dabei auch durchaus problematische Parts gibt und Gunnas Zukunft als Rapper gerade sehr in den Sternen steht, bin ich rein musikalisch doch ernsthaft der Meinung, dass er sich gerade zur richtigen Zeit von YSL emanzipiert hat. Denn gute Platten machen kann er von jetzt an auch ohne die.

Das beste daran: Das geniale Keith Sweat-Sample als Basis von livin wild.

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17
Danger Mouse & Black Thought - Cheat CodesDANGER MOUSE & BLACK THOUGHT
Cheat Codes
BMG










 
 
 
Hiphop Der Grund, warum ich mit Cheat Codes ursprünglich nicht so wirklich konnte und durchaus einige Schwierigkeiten hatte, mich damit einzugrooven, ist witzigerweise der gleiche, warum ich jetzt doch noch als eines der besten Hiphop-Alben der Saison ansehe: Es ist nämlich genau die Art von Platte, die man von einer Kollaboration dieser beiden Künstler erwartet hätte. Nicht mehr und nicht weniger. Und wo das am Anfang vielleicht ein bisschen enttäuschend war, weil die LP eben wenige Überraschungen parat hält und gefühlt ein bisschen Dienst nach Vorschrift macht, ist es mittlerweile eben auch ihr größter Selling Point, weil sie daduch ein totaler Selbstläufer ist. Die Beats von Danger Mouse sind genau die richtige Mischung aus eingängigem Soul und grantigem Gangsterfilm, Black Thoughts Fähigkeiten als Texter und Performer ein seit den späten Achtzigern gestähltes Handwerk, das hier professionell glänzt und absolut jedes Feature auf dem Album eine sichere Kiste, die ohne großes Nachdenken funktioniert. Faszinierend ist das ganze dann aber trotz aller Routine und allein das Aufeinandertreffen dieser beiden Legenden ein Anlass, der schon seiner schieren Existenz wegen gefeiert gehört. Denn auf diese Platte werden wir in den Katalogen der beiden ab jetzt mit sicherheit immer wieder wohlwollend zurückblicken.

Das beste daran: Die großartige iPhone-Line von A$ap Rocky in Strangers. Warum auch immer.

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16
billy woods x Messiah Musik - Church BILLY WOODS & MESSIAH MUSIK
Church
Backwoodz Studios













Hiphop Bei 1000kilosonar ist ja jedes Jahr ein bisschen Billy Woods-Jahr und fast in jeder Saison seit mittlerweile einer halben Dekade taucht der Rapper aus Washington D.C. nun schon in der ein oder anderen Form in dieser Liste auf. 2022 war das aber nochmal ganz besonders der Fall und meine Leidenschaft für seine Musik nicht nur deshalb intensiver, weil er in diesem Ranking gleich mit zwei Platten auftaucht, sondern auch aufgrund der Wege, die er damit geht. Woods hat es in den letzten 12 Monaten nämlich vor allem geschafft, die besten Eigenschaften seiner Ästhetik nochmal eine ganze Ecke stärker zu fokussieren und eine Art abstraker Rapmusik zu entwickeln, die zwar noch unzugänglicher ist als jemals zuvor, seine Fans dafür aber mit einzigartig verquerer und nerdiger Lyrik, verkracht-kunstigen Instrumentals und einer musikalischen Tiefenschärfe zu belohnen, die aktuell kein zweiter Künstler in seinem Bereich auf diese Weise erschafft. Und dass er auf dieser LP auch noch seinen alten Sparringpartner Messiah Musik dazuholt, um ihn neben sich ins Rampenlicht zu stellen, ist in meinen Augen nochmal extra cool.
 
Da beste daran: Die geniale Metaphorik über Kultur und Kriminalität, die Woods gemeinsam mit Akai Solo und Fielded in Classical Music aufmacht.
 
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15
Revocation - NetherheavenREVOCATION
Netherheaven
Metal Blade













Death Metal Zum ersten Mal seit Beginn meiner Laufbahn als Musiknerd gibt es auf diesem Format dieses Jahr eine Top 30 ganz ohne Black Metal, was auf gewisse Weise schon eine traurige Nachricht ist. Dass es trotzdem ein tolles Jahr für Metal an sich war und man ob des Fehlens der üblichen Quotenplatte auch nicht weit schauen muss, zeigt ein Album wie Netherheaven von Revocation. Denn obwohl es proforma eher ein Werkstück aus dem Bereich des technischen Death Metal ist und als solches natürlich auch ganz wunderbar, ist die neueste LP des Bostoner Kollektivs ästhetisch doch mitunter sehr nah an den stilistischen Parametern der schwarzen Kunst, zumindest aber genauso brutal und nihilistisch in ihrer Ausführung. So ziemlich für alle Fans der extremeren Formen von Krachmusik sollte sich hier eigentlich etwas zum dran festhalten finden, seien es die frickeligen Gitarrensoli für die Gniedelnerds, die ballernden Bässe für die Moshpit-Fraktion oder die völlig entmenschlichten Vocals von David Davidson für die Death-Purist*innen. Wenn Revocation diese Saison also eines schaffen könnten, dann das Kunststück, alle Metalheads unter ihrem Namen zu vereinen. Mich haben sie auf jeden Fall schon lange.

Das beste daran: Die chorischen Gruppen-Vocals am Ende von Strange & Eternal.

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14
WALTHER LUFT'S KONFLIKT
2
Die-Ai-Wei













 
Post Metal Es mag proforma nur die Resterampe der Songs sein, die es 2019 nicht aufs selbstbetitelte Debüt schafften und teilweise aus Ideen bestehen, die schon seit fünf oder mehr Jahren auf Platten der Band existieren, doch Walther Luft's Konflikt tun es schon wieder: Ein Album voller großartiger, tiefdüsterer Post Metal-Dauerbretter mit ehrwürdiger DIY-Attitüde, vor der ich ernsthaft meinen Hut ziehen muss. Mehr noch: 2 ist mit seinem etwas cleaneren klanglichen Ansatz nochmal ein ordentlicher Fortschritt für die Brand-Erbisdorfer, der mehr denn je die Texte der Gruppe in den Fokus rückt und vielleicht auch ein bisschen ihre Leidenschaft für rotzigen Punk herauskehrt. Natürlich nicht ohne trotzdem ein paar herrliche Langform-Jams mit zehn oder mehr Minuten abzuspulen, für die es sich hier genauso lohnt und die viele Momente hier zu einer grandiosen Ergänzung des Debüts machen. Wobei ich mich vor allem freue, in einem solchen Format eine Band aus meiner Heimat zu besprechen, die hier ja auch nicht zum ersten Mal auftaucht. Das letzte Mal ist es hoffentlich auch nicht.

Das beste daran: Mit Dämmerung mal wieder der letzte Song der Platte.

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13
Sudan Archives - Natural Brown Prom QueenSUDAN ARCHIVES
Natural Brown Prom Queen
Stones Throw
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
R'n'B Nachdem ich die Karriere von Brittney Parks aka Sudan Archives nun schon etliche Jahre mit wachsendem Interesse verfolgt habe, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis eines ihrer Alben mal in so einer Liste auftauchen würde. Dass es jetzt aber ausgerechnet dieses ist, hat mich dann doch ziemlich überrascht. Denn wenn man es oberflächlich sieht, opfert Natural Brown Prom Queen den spannenden und originellen Sound ihrer frühen Platten hier gegen einen sehr ausgetretenen und anbiedernden, den auf ähnliche Weise schon viele Andere gemacht haben. Was sie hier aber trotzdem so herausragend und originell macht ist, dass sie in vielen Belangen einfach die bessere (und vor allem kreativere) Musikerin ist und man das hier auch an vielen Stellen merkt. Wie sonst würde sie es hier hinbekommen, so viele gefährlich eingängige R'n'B-Bops zu kreieren, die in ihren Nuancen aber trotzdem herrlich nerdig und verschnickt sind? Wie sonst könnte diese LP so viele verschiedene Vibes einbeziehen, am Ende aber trotzdem wie aus einem Guss klingen? Und wie sonst könnte sie hier zur Kelela werden, ohne deren größte Fehler zu wiederholen und ein Album zu machen, mit dem sie ihren Charakter nicht nur bewahrt, sondern erneuert? Dass Sudan Archives 2022 hier steht, liegt also nicht an ihrer klanglichen Anpassung, sondern am unvermeindlichen Eindruck, dass Parks hier ihr erstes Meisterwerk geschaffen hat. Hoffentlich nur das erste von vielen.

Das beste daran: "I just wanna have my tiddies out"

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12
Lambchop - The BibleLAMBCHOP
THE Bible
City Slang
 
 
 
 









Avantgarde Es war für mich schon eine ziemliche Sensation, als Lambchop im Herbst der letzten Saison nach Jahren des großen Potenzials und der umgesetzten Mittelmäßigkeit mit Showtunes doch nochmal ein Album machten, das wirklich großartig war und es hätte mir eigentlich schon gereicht, wenn es dabei geblieben wäre. Doch ist es dabei nicht geblieben, denn mit the Bible ballert das Kollektiv aus Nashville hier gerade mal ein gutes Jahr später eine weitere geniale Platte raus, die sich in vielerlei Hinsicht als stilistisches Sequel seines Vorgängers lesen lässt. Der gleiche verrückt-kunstige Ansatz, der auf denkbar schräge und entrückte Weise Bon Iver und Scott Walker channelt, die gleichen Freiform-Lyrics mit den abstrusesten Inhaltlichen Versatzstücken und der Attitüde eines Nobelgaleristen, der gerade 4Chan für sich entdeckt hat. Wobei the Bible in vielerlei Hinsicht sogar nochmal die dreistere Nummer ist, die sich in ihrer Komposition einen noch schelmischeren Humor traut und zwischendurch auch mal richtig edgy werden kann. Womit sie nicht nur zeigt, was diese neue Inkarnation von Lambchop musikalisch drauf hat, sondern sie vor allem kreativ und jung hält. Was mich an diesem Punkt zunehmend hoffen lässt, dass diese Art von Songwriting bei ihnen noch ein bisschen weiter fruchtet und das hier nicht die letzte Arbeit dieser Art bleibt. Denn vom jetzigen Punkt aus ist für diese Band praktisch alles möglich.

Das beste daran: Wie Kurt Wagner in That's Music in all seinem altehrwürdigen Timbre die legendäre Bananen-Line von Gwen Stefani zitiert.

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11
Kae Tempest - The Line Is a CurveKAE TEMPEST
The Line is A Curve
American













Hiphop Ich frage mich in Bezug auf dieses Album manchmal, ob es nur deshalb so ist wie es ist, weil Kae Tempest mit der strukturellen Aufmachung der letzten Platten einfach an eine Grenze gestoßen war. Eine Grenze, an der über die Psychologie der Apokalypse und das Elend der Welt genug gesagt war und der weitere Weg nur der einer völligen Kehrtwende war, der eher ins eigene Innere führt. Oder ob es eher damit zu tun hat, dass Tempests Outing als Transperson hier auch eine notwendige Transformation der stilistischen Mittel mit sich bringt, weil das sein muss, wenn man sich musikalisch damit beschäftigen will? So oder so, the Line is A Curve ist in gewissen Punkten ein mittelgroßer Stilbruch im Katalog des britischen Spoken Word-Phänomens, der zumindest langjährigen Fans auffallen sollte. Sei das in Form der eher synthetischen, fast postpunktigen Instrumentals, in Form der sehr viel biografischeren lyrischen Themen der Songs oder in Form von zahlreichen Features, denen sich diese LP erstmals bedient. Das tolle dabei: Weniger faszinierend und eindrücklich ist diese neue Ausrichtung definitiv nicht, sie bereichert das Oeuvre von Tempest sogar ungemein und zeigt einen Weg in die Zukunft, auf den ich in diesem Moment wahnsinnig neugierig bin.

Das beste daran: Wie erstaunlich gut die Formel Kae Tempest + Elektropop + Kevin Abstract in More Pressure funktioniert.

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10
Ka - Woeful Studies Ka - Languish Arts

KA
Languish Arts | Woeful Studies
Die-Ai-Wei

Hiphop Vielleicht könnte man es ein bisschen als geschummelt ansehen, hier gleich zwei Alben für eine Position dieser Liste anzuführen und es liegt mir ansonsten auch fern, solcherlei Schummelnummern abzuziehen. Doch sehe ich Languish Arts und Woeful Studies am Ende des Tages dann doch eher als eine Art Doppelalbum in zwei Episoden, die sich eben nicht nur den Releasetag und die ästhetische Aufmachung teilen, sondern auch Sachen wie die lyrische Thematik, die klangliche Ästhetik und die übergreifenden Motive, die sie auf einer sehr viel tieferen Ebene verbinden. Womit hier das eine wie das andere Album Teil eines sehr viel größeren Kunststücks ist, mit dem Ka dieses Jahr durchweg fasziniert hat. Zum einen natürlich auf inhaltlicher Seite, wo sich der New Yorker ein weiteres Mal als außergewöhnlicher Storyteller und Meister moderner Hiphop-Parabeln zeigt, zum anderen aber auch musikalisch, indem er hier in meinen Augen ein echtes Referenzwerk für das aktuell ja schwer angesagte Drumless-Movement erschafft, das er einst selbst miterfunden hat. Unterm Strich beweist er sich hier für mich also zum wiederholten Mal als einer der wertvollsten Rapper, die zurzeit Musik machen und erschafft hier nach einigen Jahren der Flaute wieder ein echtes Highlight.

Das beste daran: Dass ich jetzt endlich aufhören kann, alle wegen Honor Killed the Samurai zu nerven.

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09
Fjørt - NichtsFJØRT
Nichts
Grand Hotel van Cleef













Posthardcore Auf den letzten beiden Platten von Fjørt empfand ich ja immer diejenigen Songs als die besten, in denen die Aachener mal aus ihrer nokturnalen Nabelschau auftauchten und plötzlich ein paar sehr patente sozialkritische Botschaften zu vermitteln hatten, weshalb es für mich natürlich ein Gewinn ist, dass es jetzt ein ganzes Album nur davon gibt. Vor allem deswegen, weil man nun die Möglichkeit hat (die hier auch ausgiebig genutzt wird), thematisch auch mal ein bisschen zu diversifizieren und tiefer zu gehen als auf die Ebene schlauer, aber einfacher Parolen. Das Ergebnis: Hardcore für die Kids der letzten Generation, der zwischen Klimawandel, Zukunftsangst, Depression und westlichen Privilegien alle Hoffnung fahren lässt, das aber wenigstens mit ganzer Leidenschaft tut und nur konsequent darin ist, sich strukturell immer weiter dem Hiphop anzunähern. Definitiv ein großer Schritt für das Selbstverständnis dieser Band und ganz nebenbei wahrscheinlich das Album in dieser Saison, das die gesellschaftliche Stimmung in selbiger am treffendsten abbildet.

Das beste daran: Wie feivel klingt wie eine Version von Casper, die die Domäne des Hardcore noch nicht gänzlich hinter sich gelassen hat.

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08
Wau Wau Collectif - MariageWAU WAU COLLECTIF
Mariage
Sahel Sounds













Wolof Auch im Jahr 2022 steht der Name Sahel Sounds für die Art von Platten, die es sich zur Aufgabe machen, unbekannte und teilweise auch etwas eigenwillige Nischen afrikanischer Popmusik auszuleuchten und damit vielleicht nicht dem romantisierten Standard solcher Projekte zu entsprechen, aber ein sehr viel breiteres Spektrum abzubilden. Wobei das seit einigen Jahren bestehenden senegalesisch-schwedische Wau Wau Collectif mittlerweile zu den schärfsten Werkzeugen in ihrem Schuppen zählen dürfte. Denn was auf deren Alben passiert, ist selten aus einem Guss und stilistisch artverwandt, dafür aber ein Sammelsorium wahnsinnig spannender Ideen und Konzepte, die sich alle einen Platz teilen. Auf Mariage, dem zweiten Longplayer des Projekts, sind das dann zum Beispiel Einflüsse aus Hiphop, Reggae und Spoken Word, aber auch traditionelle Kinderreime und jazzige Motive, die hier ein einzigartiges Geflecht an Songs ergeben, das sich anfühlt wie eine musikalische Rasterstudie nordafrikanischer Popmusik, in der jede*r mal ran darf und das Ergebnis von der Beteiligung aller lebt. Vielleicht eine Philosophie, nach der viel mehr solcher Platten funktionieren sollten.

Das beste daran: Wie in Le Repaire Spirituel eine Art Wolof-Version von Nick Cave entsteht.

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07
Descent - Order of Chaos DESCENT
Order of Chaos
Brilliant Emperor | Redefining Darkness | Caligari

 











Death Metal Ich habe ja gerade bei Metalplatten der härteren Gangart oft ein bisschen das Problem, dass ich sie am Anfang ihrer fetten und grantigen Produktion wegen mag, die dann aber schnell den Biss verliert, sobald ich sie erst ein paar Mal gehört habe. Order of Chaos ist so eine Platte nicht, sondern zeigt in meinen Augen vor allem, wie dieses Konzept richtig umgesetzt funktionieren kann. Im Januar des Jahres erschienen, komme ich zu dieser LP immer noch hauptsächlich aufgrund ihres monumentalen Bangersounds zurück und finde jedes Mal wieder jedes Riff, jede Bassline und jeden schneidenden Gesangspart von Descent zum fürchten. In gerade Mal 29 Minuten baut die Band aus Brisbane damit so viel rotzige Bombast-Energie auf wie andere Acts im doppelten der Zeit nicht und muss dabei keine kompositorischen Hakenschläge unternehmen, um auch in Sachen Songwriting der absolute Oberhammer zu sein. Weshalb für mich das beste Album im Bereich Metal (nämlich dieses hier) dieses Jahr eines ist, das gar nicht so viel besonders macht, sondern einfach vieles richtig.

Das beste daran: Das kolossale Anfangsriff von Dragged.

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06
Kurt Vile - (watch my moves) KURT VILE
(watch my moves)
Verve













Singer-Songwriter Die Topleistung, die Kurt Vile auf (watch my moves) abliefert, ist eine sehr offensichtliche, die wenig großen Nachdenkens bedarf: Seinen fluffig-verkifften Slackerrock in insgesamt 73 Minuten Spieldauer nicht langweilig werden zu lassen. Und obwohl es nicht in der Natur dieses Künstlers liegt, übers Ziel hinauszuschießen, bleibt es in diesem Fall auch nicht dabei und der Songwriter macht aus einer LP, die zu Geduldsprobe zu werden drohte, eines der wohligsten und coolsten Alben des Jahres, die mir 2022 mit jedem Monat besser gefallen haben. Vieles davon hat mit seiner Arbeit als Lyriker zu tun, als der er immer mehr brilliert, aber auch daran, wie mutig er hier mit instrumentaler Vielfalt geworden ist. Und obwohl das alles irgendwie Sachen sind, die sich in den Jahren zuvor suksessive entwickelt haben und hier nicht plötzlich klasse sind, ist (watch my moves) doch eine LP, auf der sich erstmals ein stimmiges Gesamtbild davon ergibt, was für ein besonderer Musiker der Kurt Vile von 2022 ist. Wobei das beste daran sein dürfte, dass ja niemand sagt, dass er als solcher nicht noch besser werden kann.

Das beste daran: Wie er sich in Goin on a Plane Today diebisch freut, als Support für Neil Young zu spielen.

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05
Imarhan - AboogiIMARHAN
Aboogi
City Slang













Tishoumaren Aboogi war im Januar diesen Jahres das Album, das Imarhan in meinen Augen von einer spannenden Entdeckung, die in der jüngeren Vergangenheit eine Handvoll guter Platten gemacht hatte, zu einer echten Lieblingsband machte, deren Musik mir mehr und mehr auf einer persönlichen Ebene wichtig wird. Denn nicht nur ist diese Gruppe für mich seit ihrem Debüt 2016 zu einer der ersten Adressen geworden, wenn es um gut gemachten Tishoumaren mit vorsichtigen Bluesrock-Tendenzen geht, mit LP Nummer drei zeigt sich bei den Algeriern auch eine ernstzunehmende künstlerische Entwicklung, die hier in ihrer mit Abstand besten Arbeit bisher resultiert. Nicht mehr so rockig wie vorher und im instrumentalen eher akustisch gehalten, findet Aboogi große Momente im stillen und meditativen Songwriting, das mitunter fast ein bisschen wie hippieske Lagerfeuermusik klingt. Und wenn das ganze dann auch noch durchweg so fantastisch produziert und aufgenommen ist wie hier und man meint, tatsächlich gemeinsam mit den Musikern unterm Sternenhimmel der Südsahara zu sitzen, ist das im Sinne eines immersiven Projektes schon echt beeindruckend. Schön zu sehen, dass diese Band dahingehend weiter wächst.

Das beste daran: Immer wenn in Songs wie Asof oder Achinkad als entscheidener Akzent doch noch mal elektrisch unterstützt wird.

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04
THE SMILE
A Light for Attracting Attention
XL











 
 
 
 
Kunstrock Ich bleibe bei meiner Aussage vom Frühjahr: A Light for Attracting Attention ist das beste Radiohead-Album, auf dessen Cover ein anderer Name draufsteht, das sich aber mehr mit dieser Band teilt als bloß zwei Mitglieder. Und ich würde an diesem Punkt ergänzen, dass es damit musikalisch sogar stärker ist als so manche LP der echten Radiohead. Man könnte jetzt darüber fachsimpeln, wieso das so ist und wieso die Songs hier nicht einfach auf der nächsten Platte von denen stattfinden, aber ich finde das so eigentlich ganz cool. Denn mit so viel Distanz zwischen den Releases der Hauptband von Jonny Greenwood und Thom Yorke freue ich mich über jedes Projekt, das mir die Wartezeiten verkürzt und bin natürlich extra begeistert über eines wie dieses, das dabei auch noch mühelos jeden Ton trifft. Alles andere wäre in meinen Augen Quatsch, weil es die Schönheit der ganzen Sache zerdenken würde. Und das machen wir ja ohnehin schon viel zu viel, wenn es um Radiohead geht.
 
Das beste daran: Absolut alles an You'll Never Work in Television Again. Definitiv der Übersong dieser LP.
 
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03
Slime - ZweiSLIME
Zwei
Die-Ai-Wei













Punkrock Es gibt sie dann eben doch immer wieder, diese Momente, wenn das alte und längst totgeglaubte Gespenst Punkrock nochmal zum Schlag ausholt und man zutiefst verblüfft feststellt, dass eben doch noch nicht alles gesagt ist. Wenn eine Band wie Slime, die seit über 40 Jahren zu den Veteranen der Szene gehört und das Erbe selbiger eigentlich nur noch zu verwalten schien, 2022 ohne mit der Wimper zu zucken das beste Album ihrer Karriere macht und mit einem neuen Sänger ihre bisherige Höchstform findet. Oder wenn Tex Brasket, ebendieser Sänger, seine jahrelang als wohnungslos lebender Straßenkünstler gesammelten Werke auf diesem Album zu einem echten Manifest kanalisiert, das weithin nachhallt und an die Stellen geht, an denen es wehtut. Dass Zwei dabei eine fantastisch geschriebene und performte LP ist, die das Medium Punk auch klanglich nochmal mit einer ordentlichen Portion Energie und Nachdruck segnet, ist da fast schon eine nette Nebensache. Definitiv eine der größten und schönsten Überraschungen, die diese Saison musikalisch passierte.

Das beste daran: Die gepfefferte Wutrede gegen die systemischen Ursachen der Obdachlosigkeit, die Brasket in Taschenlampe verfasst.

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02
billy woods - Aethiopes BILLY WOODS
Aethiopes
Backwoodz Studios













Hiphop Bei aller Liebe für Church und sämtliche andere Projekte, die Billy Woods in dieser Saison auf der Habenseite hatte, muss ich doch eindeutig sagen, dass nichts davon an die Großartigkeit herankam, die von diesem Album hier ausging und auch von Anfang an klar war, dass das hier eine seiner besten Platten überhaupt sein würde. Ganz einfach deshalb, weil Aethiopes in so gut wie allen musikalischen Disziplinen auf absolutem Ausnahmenivau performt. Angefangen vom lyrischen Konzept über Kolonialismus und Diaspora über die durchweg stimmigen und ansprechenden Beats bishin zu einzelnen Samples und Schnappschüssen folgt alles hier einem genialen Masterplan, dessen Ergebnis eines der durchdachtesten und cleversten Hiphop-Album der letzten paar Jahre ist und Billy Woods für mich nochmal auf einer ganz anderen Ebene faszinierend macht. Und obwohl für mich stand jetzt nicht mal sein bestes Projekt ist (das Prädikat geht für mich immer noch an die grandiose Moor Mother-Kollaboration Brass von 2020), zeigt es doch weiterhin, dass dieser Typ gerade die Musik seines Lebens macht. Hoffentlich auch noch ein bisschen weiter.

Das beste daran: Die fetzigen Dub-Einspielungen, die Versailles und Protoevangelium verbinden.

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01
OG KEEMO
Mann beisst Hund
Chimperator


















 
Hiphop Still und heimlich habe ich den numerischen Score von Mann beisst Hund im Spätherbst noch von elf auf zehn Punkte heruntergesetzt, weil ich von meinem überschwänglichen Hurra, mit dem im Januar alles anfing, doch noch ein paar dezente Abstriche machen musste. Das Resultat bleibt aber mehr oder weniger das gleiche, denn seit der ersten Januarwoche dieser Saison steht OG Keemos zweite LP hier an der Spitze meiner Liste, von der kein anderes Album es in 12 Monaten auch nur annähernd schaffte, ihm am Stuhl zu sägen. Und der Grund dafür ist einfach: Keine Platte hatte mich 2022 emotional und musikalisch so fest im Griff wie diese und zeigte so ein immenses Talent für ein Handwerk und eine Story, wie es OG Keemo und Funkvater Frank hier tun. Nur logisch, dass sie sich damit meilenweit vom restlichen Feld des sogenannten Deutschrap absetzten und als Vergleiche zum Teil eher Filme herbeigezogen wurden als andere Popmusik. Mann beisst Hund ist ein wahnsinnig cineastisches und autobiografisches Album, über das man lieber in Form seiner Episoden und Charaktere redet als über seine Songs, die aber dann trotzdem alle klasse sind und sowohl für ein paar der großartigsten Banger des Jahres als auch tief greifende und finstere Storymomente verantwortlich waren. Wenn das hier also meine Platte der Saison ist, dann weil sie 2022 nicht aufhörte, mich zu beschäftigen und mir immer wieder etwas großartiges zum entdecken gab. Und das ist dann vielleicht vorhersehbar, liegt aber auch in der Natur der Sache. Denn allzu selten passiert es, dass ein Album seine Großartigkeit so unmittelbar ausstrahlt wie diese hier.

Das beste daran: Denn Quasi-Disstrack gegen sich selbst, den Keemo in Töle schreibt.