Mittwoch, 31. Juli 2019

Ein gutes Ende





















[ düster | atmosphärisch | poppig ]

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann wäre es für Sigur Rós mittlerweile die beste Maßnahme, sich einfach aufzulösen. Was 2019 noch von den einstigen Revolutionären isländischer Popmusik übrig geblieben ist, ist nicht mehr als die Ruine einer Band, die höchstens noch als bleiches Abbild ihrer selbst taugt.  Nachdem bereits 2012 Pianist Kjartan Sveinsson als wesentlicher Motor der kompositorischen Kraft die Gruppe verließ und 2018 nach Missbrauchsvorwürfen auch noch Orri Páll Dýrason das Handtuch warf, sind Sigur Rós nicht nur personell um die Hälfte dezimiert, sondern auch um einen bedenklichen Skandal reicher, der am Erbe ihrer Musik nagt. Und die beiden verbleibenden Mitglieder Georg Hólm und Jónsi Birgisson tun bereits seit Jahren gut daran, zahlreiche Nebenprojekte aufzubauen. Dass im Zuge des zwanzigjährigen Jubiläums von Ágætis Byrjun in dieser Saison keine neue Tour stattfand und PR-technisch auch wenig von den Musikern selbst zu hören war, sagt einiges über den desolaten Zustand der Formation aus. Sigur Rós sind zum aktuellen Zeitpunkt eine gebrochene Band. Das wirklich frustrierende an der ganzen Sache ist aber, dass ihr Problem dabei zu keinem Zeitpunkt die Musik war. Obwohl es schon seit einer ganzen Weile bergab geht, zeigten die Isländer nie die typischen Symptome kreativ ausgebrannter Erfolgsacts, die nur noch ihren früheren Highlights hinterherrennen. Die zwei Alben, die es in den letzten zehn Jahren von ihnen gab sind in meinen Augen beide richtig stark und zeigen eine überaus energische Band, der es nach wie vor wichtig ist, künstlerisch am Ball zu bleiben. Und wo Valtari von 2012 dies durchaus konservativ angeht, ist ihre zum jetzigen Zeitpunkt (und vielleicht auf ewig) letzte LP Kveikur noch einmal ein großer Aha-Moment ihrer Diskografie, der ihre Musik von einer völlig neuen Seite zeigte. Und das nicht nur im Kontext ihres damaligen Outputs. 2013 war diese Platte besonders, weil es klang wie ein Neuanfang. Viele Fans waren ein zuvor ziemlich angepisst über Valtari, das drei Jahre nach dem ästhetischen Befreiungsschlag Med Sud í Eyrum Vid Spilum Endalaust wieder mit einem sehr entschlackten Ambient-Sound um die Ecke kam. Kveikur war daraufhin der linke Haken, der zeigte, dass Sigur Rós durchaus bereit waren, auch weiter in unbekanntes Territorium vorzudringen. Und in vielerlei Hinsicht war es dabei auch radikaler als alles zuvor. Schon als im damaligen Frühjahr die Leadsingle Brennisteinn erschien, weiteten sich die Pupillen der Angängendenschaft: Die ewigen Leisetreter und Botschafter der nordischen Niedlichkeit enthüllten hier einen lupenreinen Noise-Track, der für die Verhältnisse der Band extrem düster war. Effekt-Gewitter, Geigenbogen-Kaskaden und eine höllische Performance von Dýrason am Schlagzeug machten diesen Song zum Gesprächsthema der musikalischen Debatten und rückten die Isländer wieder ins Interesse der Fans. Man erwartete mit Kveikur nun das finstere Brachial-Album, das Sigur Rós ein grantiges Dark Knight-Lifting verpassen würde. Und hätte sich die Band damit begnügt, ich hätte es ihnen sicher nicht übel genommen. Doch ist diese LP zum Glück noch so viel mehr als das. Klar waren es zu Anfang die brutalen Stücke wie Brennisteinn und der Titeltrack, die vor allem meine Aufmerksamkeit auf sich zogen und die bis heute absolute Favoriten von mir sind. Hinter der krachigen Fassade zeigen Sigur Rós hier aber auch eine ganz neue Sensibilität für Pop und Melodik, mit der sie ebenfalls Abstand zu ihrer bisherigen Diskografie nehmen. Tracks wie Ísjaki, Rafstraumur oder Stormur gehen unglaublich nach vorne und trauen sich eine sehr polierte, fast coldplayige Bombast-Ästhetik, für die die Band bis dahin eigentlich zu cool war. Ein Hauch von Stadionrock weht über Kveikur, und als die Isländer ich vor zwei Jahren tatsächlich mal live sah, waren es auch jene Songs, die am wirkungsvollsten abrissen. Wenn man eines über diese LP sagen kann, dann dass Sigur Rós hier einen ganzen Haufen ihrer distinguierten Neoklassik-Elemente (für die vor allem der frisch ausgestiegene Kjartan Sveinsson verantwortlich war) über Bord werfen, um ein bisschen fetter und losgelöster zu klingen. Vieles hier ist nicht ansatzweise so filigran und würdevoll wie die Stücke auf Takk oder Valtari, aber es ballert dafür mehr. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich das sehr gut finde. Es ist nicht unbedingt besser als die alten Sachen, aber definitiv auf seine ebenbürtig und tatsächlich mal eine willkommene Veränderung für Sigur Rós, die sich im Gegensatz zu Med Sud í Eyrum auch durch den Sound der gesamten LP zieht. Weshalb ich es schade finde, dass Kveikur bei vielen Fans keine besonders lange Halbwertszeit hatte. Als die Platte im Sommer 2013 erschien, bekam sie überwiegend gute Resonanz, für viele zählte aber nur die unmittelbare Schockwirkung, die einzelne Songs hatten und die sich nach zwei, drei Hördurchläufen verflüchtigte. Schon zum Ende des Jahres redete kaum noch jemand darüber und im Kontext der Diskografie von Sigur Rós wird sie eher selten erwähnt. Dabei finde ich persönlich, dass Kveikur definitiv zu den stärksten Platten gehört, die die Isländer bis heute veröffentlicht haben. Was in Anbetracht dessen, dass es von dieser Band fast ausschließlich extrem starke Platten gibt, einiges aussagt. Und es wäre definitiv keine Schmach, würde die Ära Sigur Rós mit einem Paukenschlag wie diesem enden. Auf jeden Fall wäre mir das lieber als ein halbfertiges Alibi-Projekt von Jónsi und Georg, das das Äquivalent einer künstlichen Beatmung dieser Gruppe wäre. Man soll aufhören, wenns am schönsten ist. Wobei dieser Punkt auch schon weit überschritten ist.


Klingt ein bisschen wie:
Other Lives
Rituals

William Ryan Fritch
Leave Me Like You Found Me

Persönliche Höhepunkte: Brennisteinn | Hrafntinna | Ísjaki | Yfirborð | Stormur | Kveikur | Rafstraumur | Bláþráður | Var

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Mittwoch, 24. Juli 2019

Good Vibrations





















[ farbenfroh | psychedelisch | euphorisch ]

2016 war selbst für die beschissenen Verhältnisse, an die wir uns inzwischen gewöhnt haben, ein besonders deprimierendes Jahr. Trump wurde Präsident der USA, diverse vernichtende Terroranschläge und Schießereien fanden überall auf der Welt statt, Syrien und der IS waren scheinbar überall und in der Popkultur starben wichtige Protagonisten wie David Bowie, Maurice White, Phife Dawg, Prince, Leonard Cohen, Sharon Jones, George Michael und Harambe. Die Frustration und Ernüchterung, die sich bis heute durch weite Teile der öffentlichen Debatte zieht (und eigentlich nur verschlimmert hat), war Ende jenes Jahres zum ersten Mal so richtig spürbar und lag plötzlich sehr schwer auf der Welt. Es mag ein flüchtiges Phänomen sein, an das sich in einiger Zeit niemand mehr erinnern wird, doch zum damaligen Zeitpunkt war es ein prägendes Ereignis, das zumindest mir als Lebenserfahrung bleiben wird. Im Gegensatz zu heute spiegelte sich das jedoch noch nicht ganz so sehr in der aktuellen Musik wieder. Sicher, David Bowies letztes Album war ein Monolith der Schwermut und die Knowles-Geschwister sprachen gleich auf zwei seperaten Platten Themen wie Rassismus, Sexismus und generelle Misverhältnisse an, doch hatte man da noch nicht die Alles-Scheiße-Stimmung, die besonders 2017 allgegenwätig war. Und das spiegelt sich nicht zuletzt auch in meinem Lieblingsalbum dieses Jahres wieder. Wildflower von den Avalanches ist im Nachhinein betrachtet eine völlige Antithese zu meiner Erinnerung an diese Saison: Sommerlich, euphorisch, leichtfüßig und voller Lebensfreude, fast wie eine psychedelische Parallelwelt zu der düster werdenen, in der ich in dieser Zeit rumhing. Ein eskapistisches Stück Musik im besten Sinne, weshalb es vielleicht auch gerade sehr gut in diese Periode passt (nähere Ausführungen dazu finden sich hier). So oder so ist es aber eine super Sache, dass es diese LP überhaupt gibt, denn lange sah es nicht wirklich danach aus. Diejenigen, die damals auf das Release von Wildflower warteten, wissen wovon ich rede. Obwohl das die wenigsten sein dürften, denn die Avalanches sind Teil einer Generation, zu der ich (und wie ich vermute meine gesamte Leser*innenschaft) beim besten Willen nicht gehöre. Since I Left You, das Album, das sie einst berühmt machte, erschien im Jahr 2000, als ich maximal den Traumzauberbaum geil fand. Dieses Versäumnis ist aber meine eigene verdammte Schuld, denn besagte LP ist eines der elegantesten Gesamtwerke, das die samplebasierte Musik zur damaligen Zeit kannte. Man braucht nur danach zu googeln um zu wissen, was für ein immenses Fandom diese Platte in den Foren dieser Welt noch immer hat und dass sie in diesen Kreisen inzwischen ein unbestreitbarer Klassiker ist. Was nicht zuletzt vielleicht dadurch bestärkt wurde, dass die Avalanches in den folgenden 15 Jahren so gut wie nichts von sich hören ließen. 2001 gab es eine EP und im Laufe der Zwotausender einige Remixes, aber eben nichts, das wirklich als Nachfolger zu Since I Left You bestanden hätte. Bis die Australier 2016 aus heiterem Himmel eben diesen Nachfolger ankündigten. Was nach dem Release vor allem erstmal Verwirrung stiftete. Wenn Bands nach langem Schweigen eine neue LP veröffentlichen, insbesondere als Fortsetzung eines zum Klassiker gewordenen Fan-Favoriten, geht es für gewöhnlich drunter und drüber. Die einen sind bitter enttäuscht, die anderen sehen das nächste Meisterwerk, wieder andere mahnen zur Ruhe und manche ignorieres es aus Prinzip. Ich persönlich war in diesem Szenario heilfroh, kein persönliches Verhältnis zu Since I Left You zu haben und relativ unvoreingenommen zu sein. Denn wäre dem nicht so gewesen, hätte ich vermutlich an meiner übereuphorischen Reaktion gezweifelt, als ich es das erste Mal hörte. Im Gegensatz zu Acts mit ähnlichen Comeback-Stories wie My Bloody Valentine, the Pop Group oder Refused schafften es the Avalanches mit Wildflower tatsächlich, einen Nachfolger zu produzieren, der ihrem Debüt ebenbürtig war. Ich persönlich vertrete sogar die unpopuläre Auffassung, dass sie es hier ein kleines bisschen besser gemacht haben. Gerade auch weil sie hier nicht komplett so klingen wie früher. Im Gegensatz zum grotesken, weirden und leicht angedüsterten Vibe von Since I Left You ist Wildflower eine einzige Wolke. Ein Plunderphonic-Märchentraum wie aus einer Kinderserie, maximalistisch und hippiesk. Wenn man diese Platte hört, entstehen innerlich Bilder von singenden Oompa-Loompas, Zeichentrick-Regenbögen, trippigen Siebziger-Visuals und der extremen LSD-Phase der Beatles. Und das bezieht sich auf mehr als nur die reine Ästhetik. Beeindruckend ist zum Beispiel, wie nahtlos hier alle Tracks ineinander übergehen und einen gigantischen Teppich aus Sounds bilden, der die ganze Zeit über in sich pulsiert. Die Band arbeitet mit einer ziemlich geilen Laut-Leise-Dynamik, die ein wenig an analoges Radio erinnert, aber auch alle Qualitäten eines guten DJ-Sets hat (abgesehen von der eher ausbaufähigen Tanzbarkeit). Zusätzlich ist die Platte erstklassig produziert und findet stets den Weg durch die endlosen Schichten verschiedener Soundschnipsel, die die Australier hier stapeln. Womit wir beim klanglichen Kern von Wildflower wären: den Samples. Diese setzen sich wie immer vor allem aus obskurem Oldie-Material zusammen, andererseits gibt es mit Queens of the Stone Age, Spirit, Will Smith und Lou Barlow auch ein paar Namen, die man in den Credits nicht vermutet hätte. Der größte Erfolg für die Band selbst dürfte allerdings ein winziges Stückchen des Beatles-Klassikers Come Together sein, das kaum hörbar in the Noisy Eater vergraben wurde. Die Samples, die die Ästhetik letztlich ausmachen, sind aber vor allem aus alten Disco-Titeln, Musicals, Kinderfernseh-Soundtracks und Sechziger-Pop und -Soul. Because I'm Me ähnelt auf verschwurbelte Weise einem Jackson 5-Titel, If I Was A Folkstar hätten in den späten Neunzigern auch Air oder Daft Punk fabrizieren können und der Closer Saturday Night Inside Out hätte Caribou gut gestanden. Die Australier erzeugen hier einen sehr dichten Sound mit nostalgischer Wirkung, der bei genauerem hinhören überaus elektronisch ist und sehr an die Arbeit von Leuten wie Madlib, Dan Nakamura oder Kid Koala erinnert. Trotzdem würde ich sagen, dass Wildflower nicht wie ein Electronica-Album wirkt. Das ist zum Teil auch der Verdienst der vielen Gäste, die ebenfalls großartig ausgewählt wurden. Kevin Parker spielt hier auf einem Song Schlagzeug (er ist ein sträflich unterschätzter Drummer!), Mercury Rev sind auf gleich mehreren zu hören und was Gesangs- und Rapparts angeht, ist vieles hier einfach nur genial. Danny Brown hat einen seiner besten Parts überhaupt in Frankie Sinatra, der dann auch noch von MF Doom aufgenommen wird, Camp Lo in Because I'm Me ist nicht weniger großartig, Father John Misty spielt in Saturday Night Inside Out einen herrlichen Closer ein und Chaz Bundick von Toro Y Moi schleicht sich fast unbemerkt bei If I Was A Folkstar ein. Eines meiner ursprünglichen Highlights war auch Biz Markies Performance in the Noisy Eater, die ich mittlerweile ein kleines bisschen albern finde, die aber den Gesamteindruck trotzdem eher aufbaut als ihn zu ruinieren. Mit all diesen fantastischen Gastperformances wirkt die Platte nicht selten wie das Ergebnis eines Kollaborations-Projekts vom Schlag Gorillaz oder G.O.O.D. Music, das weniger die Arbeit einer festen Band ist, sondern eines Masterminds, das viele verschiedene Künstler*innen kuratiert. Gerade deshalb ist Wildflower mit seinem Vorgänger auch nur mäßig vergleichbar und zeigt die Avalanches in einem ganz anderen Stadium ihres musikalischen Denkens, das viel mehr beinhaltet als das Zusammenfügen von Soundschnipseln. Mit dieser LP sind die Australier auf eine seltsame Weise zur Popband geworden, die in großen Maßstäben denkt. Mit Erfolg, denn unter den vielen düsteren und deprimierten Lieblingsplatten dieser Dekade ist diese hier die knallbunte Blumenwiese, die einfach nur gute Vibes absondert und sich um die bemitleidenswerte Gesamtsituation nicht schert. Das ist der Spirit, von dem wir hier unbedingt mehr brauchen.

Klingt ein bisschen wie:
Manitoba
Up In Flames

the Books
the Way Out

Persönliche Höhepunkte: Because I'm Me | Frankie Sinatra | Subways | Going Home | If I Was A Folkstar | Colours | Zap! | Harmony | Livin' Underwater (Is Somethin' Wild) | the Wozard of Iz | Over the Turnstiles | Sunshine | Light Up | Kaleidoscopic Lovers | Saturday Night Inside Out

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Dienstag, 23. Juli 2019

Flämischer Hattrick





















[ lebensverachtend | kaskadisch | finster ]

Es ist nicht einfach, eine Sache dreimal hintereinander richtig gut zu machen. Es ist ja schon schwer genug, das nur ein einziges Mal zu schaffen. Im Profifußball sind es nur die besten Teams, die in einer richtig guten Saison das magische Dreieck aus Meisterschaft, Pokal und Meisterliga nach Hause holen, in der Filmbranche sind die Drehbücher die erfolgreichsten, die einen Witz an drei Stellen gut erzählen und in der bildenden Kunst war das Tryptichon einst eine klassische Königsdisziplin. Und gerade Kulturgüter, die ein solches Triple in irgendeiner Form ausgeführt haben, sind auf eine mythische Weise immer etwas besonderes, von den Pyramiden von Gizeh bishin zur Original-Trilogie von Star Wars. Was natürlich heißt, dass sich auch in der Popmusik - natürlich rein zufällig - ständig dieses Muster wiederfindet. Bowies Berlin-Alben, Brockhamptons Saturation-Saga oder Neutral Milk Hotels King of Carrot Flowers-Songs sind nur einige Beispiele. Und ich persönlich halte eigentlich wenig von solchem Hokuspokus, weil das ganze in den meisten Fällen schlichtweg Einbildung und Wunschdenken ist. Dennoch gab es in den letzten fünf Jahren eine Band, die das Kunststück vollbracht hat. Drei thematisch zusammenhängende Longplayer hintereinander, von denen jeder für sich ein Meisterwerk ist und die gemeinsam das vielleicht großartigste Stück Black Metal sind, die ich in dieser Zeit gehört habe. Die Rede ist natürlich von Wiegedood und ihrer atemberaubenden Trilogie De Doden Hebben Het Goed. Stand 2019 ist die gesamte Diskografie dieser Gruppe - bestehend aus besagten drei Platten - in meinen Augen absolut makellos und die Belgier einer der Acts, die im gesamten Metal-Kosmos gerade die beste Musik abliefern. Zwölf Songs in etwas weniger als zwei Stunden, die allesamt Filetstücke in diversen Spielarten des Black Metal sind und inhaltlich zu den düstersten Sachen gehören, die ich in den letzen zehn Jahren gehört habe. Da wundert es nicht, dass Wiegedood in diesem Bereich schon vor ihrer Gründung einiges an Erfahrung hatten. Entwachsen ist das Trio der flämischen Postmetal-Szene, insbesondere dem Dunstkreis der Church of Ra, einer der wichtigsten stilistischen Mikrokosmen der letzten zwanzig Jahre, in dem so prägende Bands wie Amenra und Oathbreaker ihr Zuhause haben. Mit ihrer Affinität zum Nihilismus und zu überpersönlichem Projekt-Crossover passen sie auf jeden Fall auch perfekt in dieses Umfeld. Innerhalb der Bubble sind sie aber Teil einer gewissen Art von New School, die auch nicht darum verlegen ist, klanglich das große HiFi-Besteck rauszuholen und den eisernen DIY-Spirit der älteren Vertreter nicht ganz so bierernst zu nehmen. Spätestens mit DDHHGIII, das 2018 bei Century Media erschien, konnte man bei Wiegedood ein bisschen den Drang wittern, aus dem Dasein als Fanfavoriten auch ein bisschen Kapital zu schlagen (was ihnen im übrigen niemand übel nimmt). Was man auf jeden Fall sagen kann ist, dass die Belgier von den Resten des Blackgaze-Hypes noch ein paar ziemlich gute Platten machten. Als Teil Eins 2015 mit sehr atmosphärischem, glasklar produziertem Brachial-Sound in den Ring stieg, meinte man noch, hier eine weitere Inkarnation der in dieser Zeit zu tausenden aufkommenden ABM-Bands zu hören (wenngleich auch eine der damals besten). Und obwohl Wiegedood an ihrem klanglichen Konzept bis zu Teil Drei wenig veränderten, haben sie sich doch als durchaus wandelbar gezeigt. DDHHGII probierte sich 2017 mit einem sehr ruppigen Sound aus, der etwas untergrundiger daherkam als das Debüt, andererseits auch schräge Dinge ausprobierte und der Welt demonstrierte, wie unglaublich metal ein Didgeridoo sein kann. Die dritte LP vom letzten Jahr war dann wiederum eine sehr vielseitige, die zwischen dem hardcorigen Prowl und dem epochalen Titeltrack eine unglaubliche Spannweite beackerte und trotz des etwas hastigen Songwritings den perfekten Abschluss der Trilogie bildete. Und in diesem letzten Punkt findet sich in meinen Augen das wesentliche der Wiegedood-Diskografie bis hierhin. Trotz der Unterschiede, die alle drei Platten aufweisen, funktionieren sie immer noch am besten zusammen. Auf eine sehr abstrakte und finstere Weise sind sie quasi das musikalische Gegenstück der Before-Trilogie von Richard Linklater: Jeder Teil ändert seinen Stil ein kleines bisschen und setzt das Narrativ unter neuen Bedingungen fort, das Futter des Produkts ist aber überall das gleiche und nur als Dreierpack ergibt das ganze am Ende wirklich Sinn. Wiegedood selbst wissen das am besten. Im letzten Jahr spielten sie eine ganze Tour, auf der sie die komplette Saga von DDHHG performten, diesen August erscheint eines dieser Konzerte darüber hinaus als Live-LP. Vermutlich ist das ganze am Ende zwar auch nur eine panische Maßnahme von Century Media, noch ein paar Groschen aus der (nunmehr höchstwahrscheinlich abgeschlossenen) Trilogie zu pressen, doch sie zeigt, was Wiegedood damit angerichtet haben: DDHHG ist ein gewaltiger Brocken Musik, der in der Welt des Metal seine Spuren hinterlassen hat und ein kleines Nebenprojekt aus Belgien zum großen Verkaufsschlager der Szene gemacht hat. Vor allem ist es aber ein Brocken, der qualitativ in diesem Ausmaß nicht so schnell zu erreichen ist, vielleicht nicht mal von Wiegedood selbst. Und ein Teil von mir meint deshalb auch, dass es an diesem Punkt Zeit wäre, die Band zu beerdigen. Wobei der Großteil von mir trotzdem noch überzeugt ist, dass wir in diesem Fall noch einiges verpassen würden.

Klingt ein bisschen wie:
Batushka
Panihida

Deafheaven
New Bermuda

Persönliche Höhepunkte: Svanesang | Kwaad Bloed | De Doden Hebben Het Goed | Onder Gaan | Ontzieling | Cataract | De Doden Hebben Het Goed II | Smeekbede | Prowl | De Doden Hebben Het Goed III | Parool

Montag, 22. Juli 2019

Goldenes Handwerk



[ organisch | psychedelisch | hippiesk | retro ]

Unter allen Gattungen der Rockmusik war Psychrock in den letzten zehn Jahren garantiert diejenige, die am meisten Fett ansetzte. Wenn man wollte, konnte man von 2010 bis jetzt so gut wie jeden Monat eine nostalgische Hippie-Space-Acid-Protometal-Band finden, die gerade irgendein heißes Album auf den Markt schleuderte. Von den wirklich einschlägigen wie King Gizzard & the Lizard Wizard oder Tame Impala über sehr gute wie Goat und Odd Couple bishin zu vernachlässigbaren Trittbrettfahrenden wie Blues Pills, Kadavar und gefühlt jeder skandinavischen Rockband zwischen 2011 und 2014 gibt es dabei eine extrem breit gefächerte Palette, die auch stilistisch sehr weit reicht. Um in diesem verkifften Rauschen einen wirklichen Unterschied zu machen, musste man als Schaffende*r schon mehr mitbringen als bloß den richtigen Nerd-Faktor und einen prominent platzierten Orange-Verstärker. Die wenigen Gruppen, über die man auch 2019 noch redet, sind in den meisten Fällen dann auch solche, die das Konzept Psychrock auf ihre Weise neu definierten und es damit ins 21. Jahrhundert übersetzten. Colour Haze aus München gehören als eine der wenigen großen Bands nicht dazu. Und zunächst mal gilt auch festzustellen, dass es sich bei ihnen keinesfalls um eine der besagten jungen Hype-Acts handelt. Mit über 25 Jahren erfolgreicher Karriere gehören die Bayern mit Leuten wie Motorpsycho und Monster Magnet zu den altvorderen Schlachtschiffen des Retro-Acidrock, an denen solche Trendwellen inzwischen nur noch abprallen. Dennoch brauchten sie bis 2012, um die eine Platte zu veröffentlichen, die ihrem Genie auch wirklich gerecht wird. Unter den vierzehn (!) Alben und EPs, die über die Jahre erschienen, gibt es zwar jede Menge Fan-Favoriten (Los Sounds de Krauts von 2003 und das selbstbetitelte von 2004 dürften darunter die größten Heiligtümer sein), doch wenn man mich fragt, ist keines davon so sehr Opus Magnum wie She Said. Über 80 Minuten großartiger Gitarrenrock, von denen absolut jeder Ton sitzt, der in jeder Zelle unfassbar groovt und der sich auch nicht immer auf das klassische Jam-Genudel der meisten Psychrock-Acts beschränkt. Dabei sind Colour Haze hier eigentlich alles andere als eine innovative Band. Mit ihren scheinbar endlosen instrumentalen Mäandern, dem blumig-verkifften Songwriting und einem exzessiv kultivierten Analogfetisch sind die Münchner so kredibil wie sehr wenige Acts in Europa und Originalität ist für ihre Musik kein Kriterium. Was sie aber so großartig macht ist ihre Organik und wie wunderbar alles bei ihnen ineinander fließt. Und auf keinem Album werden diese Parameter so zur Perfektion getrieben wie auf She Said. Der Sound dieser LP ist für mich das Optimum, das am Ende aller teuren Effektgeräte, Vintage-Amps, Vierkanalmischpulte und 180-Gramm-Vinylpressungen im Idealfall steht - quasi der Nektar von Gitarrenrock aus kontrolliert biologischem Anbau. Das Ergebnis aufwändiger Arbeit, die viele sich nicht machen, weil es ja heutzutage so viel effizienter geht. Wenn sich aber mal jemand die Mühe macht, so zu arbeiten, kommt mit viel Geduld und Spucke eine Platte wie diese dabei raus. Mit perfekt abgestimmten Höhen und Tiefen, mit genau richtig schrappeliger Distortion, mit herrlich dickem Bass und perfekt pappigem Schlagzeug. In besonderen Momenten auch mit kleinen Extras wie den Trompeten in Transformation oder den Backing-Vocals in Slowdown. Der gesamte Klang dieses Albums ist so unglaublich genial, dass es manchmal frustrierend ist, danach wieder anderen Bands zuzuhören. She Said hier ist das Maximum, das eine Produktion in meinen Augen leisten kann und gehört für mich inzwischen ohne jede Übertreibung zu den klanglichen Höhepunkten der Rockgeschichte. Besser als große Teile der originalen Psychrock-Acts aus den Siebzigern (was teilweise auch nicht wirkich schwer ist) und unglücklicherweise sogar besser als sie selbst. Wenn man man davon ausgeht, dass sich der Sound von Colour Haze seit den Neunzigern zu diesem Punkt hin entwickelt hat, könnte man ja meinen, dass danach alles viel einfacher für die Bayern geworden wäre. Leider ist dieser Zustand von ihnen jedoch nicht nur unerreicht geblieben, sie haben sich seitdem sogar zurückentwickelt. Wo To the Highest Gods We Know von 2015 noch eine sehr gute klangliche Variation der She Said-Ästhetik war, optimierte In Her Garden 2017 das Konzept mehr oder weniger kaputt und entblößte plötzlich die nervig-gniedelige Seite von Colour Haze. Daran sieht man, dass es manchmal Nuancen sind, die einen Geniestreich von einer muffigen Jam-Nudelei unterscheiden und dass man ersteres nicht einfach so wiederholt. She Said war der kurze Moment, in dem die Münchner nach den Sternen griffen und eine LP erschufen, die den gesamten Psychedelic Rock in anderthalb Stunden zu buckeln scheint. Später musste man feststellen, dass sie sich genau daran verheben und teilweise sogar ziemlich doof klingen können. Wunder passieren eben, aber meistens nur einmal. Wir können froh sein, dass es Colour Haze damals erwischt hat.

Klingt ein bisschen wie:
Motorpsycho
Here Be Monsters

Neu!
Neu!

Persönliche Höhepunkte: She Said | This | Transformation | Breath | Slowdown | Stand In... | Rite | Grace

Donnerstag, 18. Juli 2019

Brennender Samt





















[ politisch | provokativ | asozial ]

Testo und Grim104 aka Zugezogen Maskulin sind ein Duo, das in die deutschsprachige Rap-Landschaft noch immer nicht so richtig passen will. Eigentlich viel zu intellektuell für die Szene, aber stets mit dem Auftreten angetüdelter Dorffest-Prolls, dazu irgendwo gefangen zwischen radikalisiertem Zeckenrap und Festival-Mainstream und in ihrer musikalischen Ausrichtung sowohl Teil der inhaltlich affinen Zwotausender-Sparte als auch des postfaktischen Lalala-Cloudrap. Ein Paradox von einer Band, das seit ungefähr einem Jahrzehnt durch die Playlisten der Republik torkelt und an seinen Widersprüchen eigentlich schon lange hätte zugrunde gehen sollen. Stattdessen haben Zugezogen Maskulin daraus die Energie gewonnen, das mit Abstand beste Deutschrap-Album der Zehner aufzunehmen. Eine LP, die gerade als Aufguss besagter Dissonanzen so gut funktioniert und mit ihren Songs einen Spagat vollführt, den seitdem niemand mehr auf diese Weise geschafft hat. Vor allem aber eine, die nicht aufhört, großartig zu sein, selbst nach fünf Jahren Massivbeschallung. Aber was genau machen Zugezogen Maskulin hier so viel besser als alle anderen? Zunächst mal: Sie sind nicht alle anderen. Als Künstler sind Testo und Grim sozusagen Paradebeispiele für Hiphop-Underdogs. Beide fernab vom Puls der Szene aufgewachsen, der eine ein belesener Düsterpoet mit Horrorcore-Einschlag, der andere ein lyrisch sperriger Ost-Antifa mit heimlicher Liebe zu Autotune und R'n'B. Für sich alleine sind die beiden extreme Weirdos, gemeinsam kochen sie hier jedoch ihre ganz eigene Utopie eines Deutschrap-Mainstream-Sounds auf, die nicht nur inhaltlich ordentlich klatscht. Auf ihrem Debüt Kauft nicht bei Zugezogenen 2013 geschah das noch eher zaghaft, zwei Jahre später jedoch geben ZM die volle Breitseite. Gemeinsam mit Silkersoft, der hier den Großteil der Beats produziert, wagt Alles brennt den ambitionierten Versuch eines Poprap-Albums. Party-Trap, fette Hooks, Autotune, gleichzeitig aber bis ins Detail perfektionierte Texte, die so gut wie alles können. Politische Ansage (Agenturensohn), ironische und selbstironische Meta-Muckerei (Ayahuasca), provokative Troll-Momente (Endlich wieder Krieg) und sogar reflektiertes Storytelling (Grauweißer Rauch). Die beiden MCs sind dabei so gut wie überall die lyrischen Poldi und Schweini, die optimal aufeinander aufbauen und beide hundertzehn Prozent investieren. Das gesamte Album ist voll mit Lieblingsparts und das wunderbare ist, das diese nicht nur als starke Hits funktionieren. Gerade im letzten Teil der LP schafft das Produktionsteam ein paar Übergangsmomente (wie den zwischen Guccibauch und Oi!), die man im Hiphop selten so ausgefuchst erlebt und die Dynamik der Tracklist ist mindestens genauso klasse. Wenn ich sage, Alles brennt ist das beste Deutschrap-Album der Dekade, dann vor allem, weil es eines der sehr wenigen ist, das auch wirklich als Album funktioniert. All diese Dinge sind vielleicht großer Zufall und vielleicht grandioses künstlerisches Kalkül, aber was von beidem letztendlich stimmt, ist auch egal: Auf Alles brennt gibt es keine Schwachstellen. Keine zweitklassige Line, kein lausiger Beat, keine peinliche Hook. Sogar extrem wüste Experimente wie das Drum & Bass-Outro von Oi! oder Grims in furchtbarem spanischem Akzent vorgetragene Strophe in Monte Cruz können diese makellose Platte nicht ruinieren. Von Kritiker*innen kam seinerzeit häufig die Kritik, ZM wären einfach nur der Trap-Ableger von K.I.Z., aber selbst diese (objektiv berechtigte) Nörgelei kann ich für meinen Seelenfrieden entkräften. Zugezogen Maskulin sind - zumindest auf diesem Album hier - die weit besseren K.I.Z. Statt ein paar gewollt skandalösen Zeilen und billigen Schlager-Hooks haben Testo und Grim hier ein echtes Gesamtkunstwerk gemacht, das trotzdem noch mit dem gleichen Hitpotenzial daherkommt und darüber hinaus wesentlich besser gealtert ist. Für mich ganz persönlich ist Alles brennt ein prägendes Stück Musik, das ich in meinem musikalischen Kosmos durchaus als modernen Klassiker bezeichnen würde. Dass es das für die meisten Menschen nicht ist, liegt wahrscheinlich daran, dass es für den echten Mainstream eben doch zu linksintellektuell-horrorclownmäßig rüberkam. Das ist schade, denn so ein Album macht keine Band zweimal. So ein Album macht vielleicht kein Deutschrap zweimal. Deshalb wäre es unglaublich schade, wenn diese LP zur Fußnote seiner Geschichte degradiert würde.

Klingt ein bisschen wie:
K.I.Z.
Ganz oben

SXTN
Asozialisierungsprogramm

Persönliche Höhepunkte: Alles brennt | Ayahuasca | Plattenbau O.S.T. | Grauweißer Rauch | Endlich wieder Krieg | Guccibauch | Oi! | Agenturensohn | Schiffbruch

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Sonntag, 14. Juli 2019

You're Special






























[ mystisch | akustisch | simpel | magisch ]

Die Geschichte der Popmusik ist durchsetzt mit Künstler*innen, die die Parameter dessen, was kreativ und technisch möglich ist, immer wieder aufgebrochen haben. Die sich mit neuen Methoden auseinandersetzten, experimentierten, Risiken eingingen oder auch einfach nur rotzfrech waren. Diesen Leuten gehören die Plätze in den Geschichtsbüchern und auf jeden Fall mit Recht. Doch gibt es auch eine ganz andere Gattung, die ihrerseits gerne den Ruf als größte Musiker*innen aller Zeiten genießt und sich seit Anbeginn des Pop nicht vertreiben lässt: Leute, die es mit nicht mehr als einer Gitarre (wahlweise einem Klavier oder ähnlichem) schaffen, gigantische Songs zu schreiben. Die Robert Johnsons, Bob Dylans, Joni Mitchells, John Frusciantes, Justin Vernons und Elliott Smithses dieser Erde, die seit Menschengedenken auch durch die innovativste Studiotechnik und die schrägsten Szene-Bewegungen nicht totzukriegen sind und auch in den nächsten hundert Jahren nicht scheiße werden. Die New Yorker Songwriterin Adrianne Lenker ist seit letztem Oktober eine von ihnen. Die hauptberuflich als Sängerin von Big Thief arbeitende Endzwanzigerin hat zwar noch keine so umfangreiche Diskografie und die Platte, über die ich hier sprechen werde, ist gerade Mal acht Monate alt, doch ich wusste ehrlich gesagt schon beim ersten Hören sehr genau, womit ich es hier zu tun habe. Die 33 Minuten von Abysskiss sind Magie, und zwar ohne jede Trickserei. Und mit jedem Mal, das dieses Album seit seinem Erscheinen bei mir lief (und das war nicht selten) hat sich diese Gewissheit zementiert. Adrianne Lenker macht große Kunst, oder kann es zumindest, wenn sie will. Es brauchte zumindest erst diese LP, um ihr ganzes Potenzial zu entfalten. Bereits vorher, auf den bis dahin zwei Platten mit Big Thief sowie einigen Solosachen, schimmerte das große Talent durch, das diese Frau für elfenhafte, intime Gitarrensongs hatte, doch kam es nie ganz zur Geltung. Lenker hatte den nötigen Charaker und die kompositorischen Chops, doch noch nicht das Durchsetzungsvermögen und die Melodien. Auf Abysskiss entwickelt sie das alles aus dem Stand und zeigt ihre musikalische Persönlichkeit in voller Schönheit. Für so minimalistischen Akustikpop, wie sie ihn spielt, ist diese das A und O. Zum ersten Mal in ihrer Karriere hat man hier so etwas wie einen Wiedererkennungswert, der ihre Songs deutlich abgrenzt. Sicher, ansatzweise erinnert mich vieles auf diesem Album auch an Kolleginnen wie Emíliana Torrini oder Jessica Pratt, beides Songwriterinnen mit ähnlichem Sound, doch ich kann einen Lenker inzwischen deutlich von anderen Stilen unterscheiden. Die zierlichen Lautmalereien, die naive und doch klare Vokalisation, die folkigen Ansätze im sonst sehr Loop-haften Gitarrenspiel: das alles sind nuancierte Eigenarten der New Yorkerin, die diese zehn Tracks unglaublich speziell machen. Was hier als großes Plus noch hinzukommt, ist die unglaublich detaillierte Produktion von niemand geringerem als Luke Temple (ebenfalls ein Songwriter, für den ich in Zukunft noch große Hoffnungen habe), der hier viel Schönheit aus eben jenen Nuancen herausholt. Viele Leute hätten Lenkers Aufnahmen als intimes Rohmaterial stehenlassen, das durch seine ungeschönte Emotionalität überzeugt, Temple hingegen macht daraus ein Kopfhörer-Album. Nicht nur klingt jede Note hier unglaublich klar und sorgsam aufgenommen, an vielen Stellen verstecken die beiden auch musikalische Easter Eggs, die man erst mit richtigem Equipment und Format wirklich hören kann. Elemente wie der Drumcomputer in Symbol oder die zweite Gitarre in Blue and Red Horses sind Sachen, für die sich die meisten Künstler*innen überhaupt nicht die Mühe geben würden, doch wenn man sie hier einmal hört, machen sie den Gesamteindruck um ein Vielfaches schöner. Bis heute entdecke ich an verschiedenen Stellen Details, die ich vorher noch nicht gehört hatte und jedes Mal runden diese die Songs noch ein bisschen weiter ab. Es wäre allerdings auch nicht groß anders gewesen, hätte ich diese audiophilen Extras nie entdeckt und Abysskiss konsequent auf Handylautsprechern gehört. Diese Platte ist so oder so genial. Sie ist ein Kleinod akustischer Folkmusik und für Adrianne Lenker ab jetzt eine Messlatte, die sie vielleicht nicht so schnell wieder erreicht. Einige der hier erstmals veröffentlichten Titel landeten im April diesen Jahres als neue Aufnahmen auch auf der aktuellen LP von Big Thief, waren dort aber nicht ansatzweise so gut wie hier. Das zeigte mir einmal mehr, dass Adrianne Lenker diese Musik nicht einfach so auf Abruf macht, sondern Abysskiss ein ziemlicher Sechser im Lotto ist. Ein besonderes Album in jeder Hinsicht, das für mich etwas bedeutet. Weshalb es auch keine Frage ist, dass ich es nach nur acht Monaten als "Schönheit der Dekade" anführe. Obwohl es hoffentlich nicht die letzte bleibt.

Klingt ein bisschen wie:
Jessica Pratt
Quiet Signs

Emíliana Torrini
the Fishermans Wife

Persönliche Höhepunkte: Terminal Paradise | From | Womb | Cradle | Symbol | Abyss Kiss | What Can You Say | 10 Miles

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Donnerstag, 11. Juli 2019

the Beast I Worship





















[ animalisch | avantgardistisch | entmenschlicht ]

Niemand ahnte schlimmes, als am 8. März 2011 eine experimentelle Hiphop-Gruppe aus Sacramento eine knapp halbstündige EP als kostenlosen Download auf ihrer Webseite veröffentlichte. Das Trio Death Grips, das zum damaligen Zeitpunkt gerade Mal vier Monate existierte, war ein Konglomerat aus altgedienten regionalen Szenemusikern, die außerhalb des Untergrunds kaum bekannt waren. Als ganz krasser Insider für avantgardistischen Noiserock kannte man vielleicht noch Zach Hill, der früher Drummer bei Hella war und unter anderem mit Boredoms, Marnie Stern und Omar Rodriguez-López zusammengearbeitet hatte, praktisch sprach aber alles dafür, dass auch dieses, wie viele seiner Projekte eine reine Szene-Angelegenheit für exklusive Weirdos bleiben würde. Was bedeutet hätte, dass vielleicht ein komplettes Jahrzehnt künstlerisch vollkommen anders verlaufen wäre, denn wie wir inzwischen wissen, sind Death Grips eine der Bands, die die letzte Dekade mit Sicherheit am wesentlichsten geprägt haben. Nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit ihrem Marketing, ihrem öffentlichen Auftreten, ihrer visuellen Ästhetik und ihrer gesamten Attitüde. Was die Kalifornier für die Meme-Kultur, für neue PR-Ansätze und internetbasierte DIY-Bewegungen getan haben, ist ein massiver Verdienst, der sich im Untergrund wie im Mainstream schon seit einigen Jahren abzeichnet. Death Grips sind lebende Legenden und echte Avantgardisten, das kann ihnen zum jetzigen Zeitpunkt niemand mehr absprechen. Und im Gegensatz zu vielen visionären Acts kann man das bei ihnen auch von der ersten Stunde an hören. Exmilitary, das quasi-offizielle Debüt der Kalifornier, ist trotz seiner noch etwas undefiniertes Ästhetik bereits voll mit den typischen Parametern, die die Band langfristig zu so einer Hausnummer gemacht hat: Der hektische, rappelnde und pumpende Sound, die elektronischen Baller-Riffs von Flatlander, die ruppige Punkrock-Attitüde, die geisteskranken Vocals von Frontmann MC Ride und die finsteren, misanthropischen Texte. Dinge, die einen glauben lassen, Death Grips wären von einem anderen Planeten und würden von allen popkulturellen Einflüssen völlig losgelöst funktionieren. Das ist natürlich nicht ganz richtig. Wer aufmerksam zuhört, bekommt hier Einflüsse von anderen experimentellen Rap-Kollektiven wie Dälek mit oder findet Ähnlichkeiten zum Industrial und IDM der frühen Neunziger. Auch die Samples auf diesem Album verraten einiges über die vielschichtigen Bezugspunkte der Gruppe. Von Charles Manson über Link Wray, Black Flag und Jane's Addiction bishin zu Air sind hier ein paar ziemlich seltsame Referenzen verarbeitet, die Death Grips schon hier weit außerhalb irgendwelcher Genre-Kontexte verorten. Und wie sie diese Dinge am Ende verarbeiten ist so unglaublich schräg, dass am Ende tatsächlich eines der innovativsten Alben der damaligen Zeit herauskommt. Man muss sich das mal vor Augen führen: 2011 war für die meisten Hiphop-Fans eine Platte wie My Beautiful Dark Twisted Fantasies das höchste Maß an Kreativität und die Indiekids waren noch im Retro-Loop der Zwotausender gefangen. Platten wie dieser hier ist es zu verdanken, dass solche Denkweisen aufgebrochen wurden und es auf einmal eine ganz neue Offenheit und Verspieltheit gab. Eng damit verbunden ist auch die auffällige Internetpräsenz von Death Grips. Allein der Sprung, den die Aufmerksamkeit für die Band von ihrer ersten EP zu Exmilitary machte, ist enorm, und dass ein so kurzlebiges Projekt wie dieses direkt danach bei einem Majorlabel unterschreibt, sieht man auch nicht alle Tage. Schuld daran ist die Marketing-Struktur der Band, die ebenso rotzig wie brilliant ist. Bis zu the Money Store (der ersten LP beim neuen Label Epic) waren alle Platten von Death Grips als kostenlose Downloads zu haben und User wurden ermutigt, sich in Form von Remixes und Memes damit auszutoben. Dinge wie das Video zu Guilliotine, Vocal-Snippets von MC Ride oder auch das Cover wurden somit rasend schnell zu wirksamen Running Gags, die die Aufmerksamkeit für das eigentliche Produkt immer weiter steigerten. In späteren Jahren wurde dieser Feedback-Loop in noch viel krassere Dimensionen getrieben, doch hier erlebt man Meme-Marketing in seiner grotesken Urform. Und die Musik trägt ihren Teil dazu bei. Zwar sind Death Grips schon hier unglaublich aggressiv und schwer verdaulich, doch kann mir niemand sagen, dass Tracks wie Takyon, Guilliotine oder Beware nicht unfassbar eingängig wären. Dazu Catchphrases wie "I am the beast I worship" oder notorische "It goes it goes it goes it goes"-Mantren und fertig ist ein bizarrer Hit, wie geschaffen für die postmoderne Satirekultur des Internetzeitalters. Neben Vaporwave und Soundclown-Mashups zählen die Kalifornier für mich im musikalischen Bereich ganz eindeutig zu deren Speerspitze. Der Einfluss dieser LP ist damit also absolut nicht bestreitbar und wenn man mich fragt, ist Exmilitary bis heute auch die beste Platte, die Death Grips je gemacht haben. Auf Alben wie No Love Deep Web oder Jenny Death haben sie ihren Sound und ihr künstlerisches Konzept zwar perfektioniert, aber nur hier waren sie so roh und grantig, dass man wirklich noch den Punk raushörte. Vielleicht ist hier deshalb auch der Schockeffekt am größten. Auf jeden Fall scheue ich mich nicht, diese LP schon jetzt einen Klassiker zu nennen, denn ihre Wirkung ist in der momentanen Popkultur ist einfach nicht mehr zu übersehen. Obwohl die meisten Leute es wahrscheinlich gar nicht mitkriegen.

Klingt ein bisschen wie:
Dälek
Asphalt for Eden

Show Me the Body
Body War

Persönliche Höhepunkte: Beware | Guilliotine | Spread Eagle Cross the Block | Lord of the Game | Takyon (Death Yon) | Klink | Culture Shock | I Want It I Need It | Blood Creepin

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Dienstag, 9. Juli 2019

Was wollen die Hippies?





















[ retroprogressiv | hippiesk | esoterisch | ostalgisch ]

Man braucht definitiv Zeit, um Fan einer so speziellen und ungewöhnlichen Band wie Polis zu werden. So gut wie alle, die ich heute als glühende Verehrer*innen des Plauener Quartetts kenne, haben als große Skeptiker*innen selbiger angefangen und auch ich selbst war lange nicht so sicher, ob das alles so wirklich so super finde. Man muss erstmal klarkommen mit Rockmusik, zu allem Überfluss auch noch mit deutschsprachiger, der absolut jede ironische Coolness abgeht, die so direkt auf schwulstigen Kitsch abzielt und die eine so unverbrauchte Eso-Hippie-Attitüde verbreitet wie diese hier. Die Ehrlichkeit dieser Gruppe aus dem sächsischen Hinterland ist in so vielen Weisen so verstörend und befremdlich, dass man sich manchmal echt fragt, ob diese Leute einen an der Waffel haben. Zumindest bis man feststellt, dass man selbst eigentlich der Idiot ist, weil man sich für zu cool für diese Sachen hält. Die Geschichte von Polis und mir ist letztendlich die einer klassischen Ironiespirale. Als ich Sein das erste Mal hörte, fand ich das Album aufgrund der selben Sachen scheiße, wegen derer ich es heute liebe: Den viel zu schmusigen Psychrock, die proggigen Orgelsounds, die minutenlangen Soli und vor allem die pathetischen Bombast-Texte mit dem Swag eines Jugendgottesdienstes. Auch dass die Plauener sich ganz unverschämt am Ostrock-Sound der späten Siebziger bedienen war 2014, als Amiga-Parties und Manne-Krug-Vinyl-Boxsets noch nicht so en vogue waren wie jetzt, eine ziemlich seltsame Sache. Polis nannten ihre Lieder Kraft durch Liebe oder Blumenkraft, verfassten Lyrics irgendwo zwischen Heinrich Heine und Jan Plewka und entkräfteten jeglichen Stereotyp mypermaskuliner Psychrocker, die ich zu jenem Zeitpunkt hatte. Weil ihre Songs aber klasse produziert und sehr eingängig waren, brauchte ich nicht lange, um vom Hater zum ironischen Fan und schlussendlich zum ehrlichen Genießer ihrer Musik zu werden. Stand 2019 bin ich der festen Überzeugung, dass die Plauener eine sträflich unterschätzte Rockband sind, die schon lange mehr als nur ein regionales Phänomen sein sollte. Denn eins steht fest: Niemand sonst traut sich im Moment, Songs wie diese zu veröffentlichen. Man muss einen gewissen stilistischen Autismus dafür haben, den man eben nicht hat, wenn man unglaublich cool sein will. Es gibt zahlreiche Gruppen wie Odd Couple oder Klaus Johann Grobe, die sich mit fünf zwinkernden Hühneraugen an das schwierige Erbe des deutschen Hippierocks machen, aber nur Polis machen dabei wirklich Ernst. Sie sind sich nicht zu edgy für schwulstige Songs über Umweltschutz oder Zeilen wie "Es tanzen die Gestirne / Gott Mutter Vater singt ein Lied". Dass das hier kein Spaß ist, zeigt sich auch daran, wie unglaublich viel Mühe und Leidenschaft hier in Komposition und Produktion geflossen ist. Ohne viel Kohle und Label-Backing machen die vier Musiker hier eine Platte, die sich mit den legendären Helman-Federowski-Masters tatsächlich messen kann und haben in 10000 Jahre sogar einen Kinderchor am Start. In Sachen DIY ist Sein eines der großartigsten Projekte, die ich in den letzten zehn Jahren hören durfte und dass Polis bis heute auf Blödsinn wie Spotify und iTunes verzichten, zeigt echte Hingabe zum Untergrund. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass sie dort bleiben, denn ein bisschen habe ich das Gefühl, dass dieser einzigartige Sound auch irgendwie das Produkt einer relativen Isolation ist. Und überhaupt: das beste von ihnen kommt vielleicht noch. 2018 haben die Plauener ihr drittes Album aufgenommen und erste Tracks davon online und bei Konzerten angeteasert, irgendwann dieses Jahr könnte also der Nachfolger zu Sein erscheinen. Inzwischen bin ich auch definitiv Fan genug um zu sagen: Es wird Zeit.

Klingt ein bisschen wie:
Die Puhdys
Puhdys I

Selig
Magma

Persönliche Höhepunkte: Sein I | Flüstern | Zwei Frauen und ein Mann | Blumenkraft | Danke | Kraft durch Liebe | 10000 Jahre | Sein II

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Montag, 8. Juli 2019

Monotonie ist eine Strategie





























[ langatmig | textintensiv | willkürlich ]

Die Arbeit von Mark Kozelek während der 2010er kann man gemeinhin in zwei Phasen einteilen: eine bis ungefähr 2015, in der er ein ziemlich detailverliebter und intensiver Singer-Songwriter mit Hang zu tragischem Storytelling war, die andere von 2015 bis jetzt, in der er ausgedehnte Stream-of-Consciousness-Monologe abhält, die er mit ein bisschen Musik unterlegt. Die Grenze dazwischen ist gar nicht mal so fließend, wie man vermuten mag: Sollbruchstelle ist die LP Universal Themes, die das Spiel, das Kozelek vorher mit lyrischen Zufallsprinzipien und gesprochenen Texten machte, zur Regel machte und einfach alle Strukturen fallen ließ. Seitdem geben seine Werke immer wieder Anlass zu der Frage, inwieweit man das hier überhaupt noch nach musikalischen Kriterien bewerten kann. Über Platten von ihm oder seiner Band Sun Kil Moon zu sprechen ist immer mehr so, als ob man über Bücher spräche und das Hörerlebnis konzentriert sich mittlerweile eigentlich ausschließlich auf das, was über die Texte vermittelt wird. Bei vielen hat dieser Stilbruch für Unbehagen gesorgt, weil durch die Willkürlichkeit des Gesagten viel von der Schönheit verloren ging, die Alben wie Benji so besonders machten. Ich allerdings bin auf eine ganz andere Art von ihnen begeistert, weil sie nochmal viel unmittelbarer und realer sind als vorher und eine Menschlichkeit präsentieren, die selbst die schönste Musikalität nicht ersetzen kann. Vor allem funktioniert die ganze Sache, weil Mark Kozelek eine so eigenwillige Persönlichkeit mitbringt, sich nicht scheut, auch mal anzuecken und über die eigene Dämlichkeit und Unzulänglickeit zu reden. Natürlich ist das ganze alles andere als Easy Listening und mit Alben, die gerne Mal über zwei Stunden gehen braucht es außerdem viel Geduld, um sich diesem Material zu nähern (vor allem mit Sprachbarriere), doch für mich lohnt es sich immer wieder. Ich könnte auf der Stelle mindestens fünf seiner LPs aufzählen, die mich nachhaltig fasziniert haben und die alle nach 2015 erschienen sind. Wenn es darum geht, welche davon meine liebste ist, dann ist es aber immer noch ganz klar diese hier. Nicht unbedingt, weil sie die besten Stories oder den besten Erzählstil hat, sondern weil das Gesamtkonzept hier besonders gelungen ist und diesmal sogar die Musik ziemlich fetzt. Dabei war das im Vornherein eigentlich ein eher unwahrscheinliches Szenario. 30 Seconds to the Decline of Planet Earth ist die zweite Kollaboration von Sun Kil Moon mit Justin Broadrick von Jesu (früher war er auch mal bei Napalm Death), die bereits im Jahr zuvor eine gemeinsame LP veröffentlichten. Auf dieser scheiterten sie ziemlich kläglich beim Versuch, Kozeleks Erzählstil mit apokalyptischen Drone-Klangwänden zu kreuzen (was nach Lulu von Lou Reed und Metallica beziehungsweise Soused von Sunn 0))) und Scott Walker hiermit dreifach als zum Scheitern verurteilt belegt wurde), weshalb ich damals eigentlich nicht besonders begeistert über ein weiteres Projekt der beiden war. Anscheinend hatten aber auch sie das bemerkt und stellten ihr Konzept für 30 Seconds fast gänzlich um, also zumindest was Broadricks Anteil angeht. Die klangliche Grundlage für diese Platte bilden neben den bei Sun Kil Moon üblichen akustischen Arpeggio-Gitarren einige ambiente elektronische Instrumentals, die entfernt an Aphex Twin oder Kraftwerk erinnern und eine ganz neue Ausdrucksform für Kozeleks Texte sind. Man muss dafür wissen, dass jener neue Stil, den ich oben beschrieben habe, Anfang 2017 sozusagen noch in der Betatestphase war. Universal Themes von 2015 war als Anfangspunkt noch ziemlich ruppig und langweilig und zwischen diesem Album und 30 Seconds erschien nur besagte erste Jesu-Kollaboration, ein Coveralbum und das etwas klobige (aber schon sehr gute) Common As Light and Love Are Red Valleys of Blood. Was die beiden hier machen, ist in meinen Augen also das erste Mal, dass die Idee von Sun Kil Moon als akustisch unterlegtes Spoken Word-Projekt wirklich zündet. Dabei geschieht hier noch etwas wichtiges: Auf den Platten zuvor wurden die langen Monologe, die teilweise weit über zehn Minuten in Anspruch nehmen, immer wieder durch unterhaltsame und kurze Zwischenteile und Songs mit traditioneller Sturktur aufgebrochen, was im Nachhinein einfach nur inkonsequent war. 30 Seconds ist die erste LP, die ihre Monotonie stattdessen als Stärke begreift und sie nicht mindert, sondern anheizt. Broadricks Elektro-Motive sind zum Teil extrem repetetiv und minimalistisch, was den Texten hier nur noch mehr Platz einräumt und sie endgültig zum Fokuspunkt macht. Das ist aber in keinem Moment langweilig, sondern verleiht der Platte eben genau den Hörbuch-Charakter, der ihre Nachfolger für mich so toll macht. Die Folge daraus sind dann eben genau diese tollen und komplexen Song-Kurzgeschichten, in denen sich Kozeleks Persönlichkeit zementiert. Twenty Something ist ein Stück, in dem er sich über einen jungen Autoren lustig macht und dessen mangelnde Lebenserfahrung ankreidet, ihn schlussendlich aber ermutigt und ihm dankt. In You Are Me and I Am You geht es um seinen Vater und wie ähnlich sich die beiden mit zunehmendem Alter werden. He's Bad liefert bereits Jahre vor Leaving Neverland eine sehr akkurate Zusammenfassung des Problem-Celebritys Michael Jackson. Und A Dream of Winter ist eine fast romantische Weihnachtsgeschichte darüber, sich zwischen den Jahren endlich mal auf die faule Haut legen zu können. Obwohl all diese Geschichten auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben, zeigen sie als Gesamtheit einen kleinen Einblick in den Charakter dieses Typen, der da singt. Manchmal ein bisschen griesgrämig, manchmal auch ein Arsch, aber dann auch wieder sehr verständnisvoll und unkompliziert. Sowas erlebt man bei der wenigsten Popmusik und es reicht definitiv, um Mark Kozeleks Schaffen stilistisch vom gesamten Rest der Mischpoke abzuheben. Aus der heutigen Perspektive kann ich definitiv sagen, dass er einer meiner größten musikalischen Held*innen der letzten 10 Jahre ist, vor allem durch den Output der letzten drei bis vier Jahre. Dieses Album kann man dabei als eine Art Einstiegspunkt verstehen, mit dem man als Neuling vielleicht am besten anfängt. Alles danach ist nur was für Leute, die dieses Zeug mögen. Die anderen können ja immer noch Benji hören.

Klingt ein bisschen wie:
Underworld & Iggy Pop
Teatime Dub Encounters

Henry Rollins
Think Tank

Persönliche Höhepunkte: You Are Me and I Am You | Wheat Bread | Needles Disney | He's Bad | Bombs | Twenty Something | A Dream of Winter

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Freitag, 5. Juli 2019

Vorstadtkinder





















[ nostalgisch | rockig | konzeptuell ]

Stand 2019 ist es ziemlich realistisch, dass Arcade Fire in näherer Zukunft erstmal nicht mehr das künstlerische Niveau erreichen werden, das sie zuletzt 2010 auf the Suburbs hatten. Ihre letzten beiden Platten waren schon okay, aber man erkannte hier eben nicht mehr die Band, die die zweite Hälfte der Zwotausender mit ihrem unkonventionellen Sound quasi komplett umgekrämpelt hatte und innerhalb der Pitchfork-Bubble zeitweise einen fast royalen Status genoss. Die Band, die 2011 eine riesige Euphorie auslöste, weil sie als erste Indieband den Grammy für das beste Album des Jahres bekam (man dachte damals, jetzt würde sich alles ändern 😆) und zusammen mit Guns'n'Roses und Blink-182 Headliner bei Reading und Leeds war. Wenn ich jetzt an diese Phase denke, erscheint es mir manchmal ein bisschen albern, wie omnipräsent und aufgeplustert Arcade Fire damals waren. Auf der anderen Seite war das alles auch gerechtfertigt, denn the Suburbs ist in meinen Augen ohne jeden Zweifel der überragende Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere. Es gibt Leute, die diesen Titel nach wie vor dem völlig überbewerteten Debüt Funeral zusprechen, aber die wollen eigentlich nur bei den Coolen dazugehören. Diese LP ist besser, weil die KanadierInnen hier musikalisch ausgewachsen sind, aber noch nicht zu überheblich für ihre eigene Musik. Weil sie hier ein Gesamtkunstwerk erschaffen, aber auch nicht gleich eine Oper. Weil sie sich hier an neuen, ungewöhnlichen Stilen ausprobieren, aber sich nicht daran festklammern. Vor allem aber, weil sie hier im wesentlichen Musik für sich selbst machen. The Suburbs ist ein Album über Nostalgie, über Jugend, über Isolation und Freundschaft, in dem Win Butler und Régine Chassange viele eigene Erfahrungen einbinden, was man auch definitiv merkt: Die Musik ist ist eine individuelle Adaption einer Idee von Achtziger-Rock, mit vielen Einflüssen von Bruce Springsteen, Tom Petty, Patti Smith und natürlich den Talking Heads und die Texte, erfahrungsgemäß immer die größte Baustelle von Arcade Fire, sind in diesem Fall wirklich anregend und auf gewisse Weise poetisch. Was the Suburbs aber wirklich besonders macht ist nicht, dass einzelne Songs besser geschrieben wurden, sondern dass dieses Album so wunderbar als Einheit funktioniert. Dass die Band sich ausgiebig Gedanken über die Anordnung dieser LP gemacht hat, wird schon an Äußerlichkeiten klar, zum Beispiel dass der Titelsong als eine Art Leitmotiv die gesamte Platte rahmt, es insgesamt zwei mehrteilige Tracks gibt und bestimmte lyrische Bausteine an diversen Stellen über die gesamte Spielzeit wieder auftauchen. Alleine das sind Sachen, die extrem aufwändig sind und auf die die meisten Musiker*innen von vornherein verzichten, Arcade Fire fangen aber da erst an. Dieses Album beherrscht in meinen Augen den optimalen Fluss von Stimmungen, der die Emotionalität der Songs unmittelbar trägt und der hier und da auch ein paar tolle Linke Haken parat hat. Angefangen beim Titeltrack, der die Hörenden wie das Intro einer Fernsehserie abholt und am Ende als orchestrales Thema wiederkommt, über den rockigen Opener Ready to Start, der dem ersten Drittel der LP ordentlich Anschub gibt bis zu Tracks wie Month of May oder Sprawl II (Mountains Beyond Mountains), die dem Geschehen eine komplett neue Richtung geben. Stilistisch könnte man dabei sagen, dass the Suburbs das "rockige" Album von Arcade Fire ist oder der Übergang zwischen ihren folkigen Anfängen und den komischen Disco-Sachen, die sie inzwischen machen. Diese Platte lediglich als künstlerisches Scharnier zu begreifen, wird der Sache aber nicht im geringsten gerecht. Diese LP ist ein extrem ausgefuchstes und konzeptuell wunderschönes Gesamtkunstwerk, mit dem die KanadierInnen sich selbst übertreffen. In meinen Augen das erste und das letzte Mal.

Klingt ein bisschen wie: 
Patti Smith
Horses

Coldplay
Viva La Vida or Death and All His Friends

Persönliche Höhepunkte: the Suburbs | Ready to Start | Modern Man | Rococo | Empty Room | City With No Children | Suburban War | Month of May | We Used to Wait | Sprawl I (Flatland) | Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)

Montag, 1. Juli 2019

Mutmaßungen über Hendrik





















[ düster | poetisch | verwegen ]

Das große Postpunk-Revival des letzten Jahrzehnts brauchte nicht lange, um auch im deutschsprachigen Raum überall seine Spuren zu hinterlassen und eine ganze Welle neuer Bands über die Szenelandschaft zu spülen. Am dominantesten geschah das sicherlich in Form der Stuttgarter Zelle um die Nerven, Karies und Human Abfall, doch auch überall sonst schossen diverse gute und weniger gute Bands aus dem Boden: Van Holzen in Ulm, Baical in Halle und Leipzig, Friends of Gas in München, Plattenbau und Vordemfall in Berlin. Mit Max Gruber und Drangsal fand die Renaissance letztlich sogar ihren Weg in den Mainstream und auf die Festival-Lineups der letzten Sommer. Stilistisch war dabei in den meisten Fällen aber wenig zu holen. Der allgegenwärtige Fluchtpunkt, der den englischsprachigen Kolleg*innen Joy Divisions Unknown Pleasures war, war für die deutsche Szene Monarchie & Alltag von den Fehlfarben, wirkliche Originalität fand selten statt. Auch Messer aus Münster sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme, der Sound ihrer bisher drei Alben trägt dasselbe Patchouli der poetischen Düsternis und verwegenen Melancholie, das die (meistens recht peinlichen) ersten Gehversuche des Goth auf deutschem Boden so schön romantisch verklärt. Wenn es darum geht, was hier neues zum Selbstverständnis des Postpunk beigetragen wurde, sind Messer mit ihren kryptischen Texten und ihrem klanglichen Abziehbild von Achtziger-New Wave eher keine Hilfe. Wenn man allerdings davon spricht, welche Band die Kür mit der besten Formnote absolviert hat, stehen die Münsteraner für mich ganz vorne mit dabei. Insbesondere ihr zweites Album Die Unsichtbaren von 2013 ist ein absolutes Lehrbuchbeispiel für perfekt abgestimmten Revivalismus und von der ganzen stilistischen Einordung mal losgelöst betrachtet einfach ein richtig gutes Stück Musik. Das liegt zum einen ganz klar an der kompositorischen Finesse, mit der Messer hier arbeiten: Starke Hooks, starke Riffs, dezente aber klar definierte Schlagzeugparts und vor allem ein perfekt in Position gemixter Bass. Man merkt deutlich, dass die Songs hier nicht die aufgekratzten Schnellschüsse sind, die man lange von vielen Stuttgarter Bands hörte, sondern ausgeklügelte Rocksongs, die mitunter, wie bei Neonlicht, sogar mächtige Ohrwürmer sind. Wenn es darum geht, was dieses Album wirklich besonders macht, lautet die einzig gültige Antwort aber Hendrik Otremba. Der Sänger, Texter und Charakterkopf von Messer ist in fast allen Belangen die ästhetische Triebfeder dieser Platte und ganz nebenbei eine der wenigen wirklich faszinierenden Figuren im neuen deutschen Postpunk. Er ist nicht nur Musiker, sondern auch Maler (von ihm stammt das Artwork von Die Unsichtbaren), sowie Publizist und Schriftsteller. 2016 veröffentlichte er parallel zum dritten Messer-Album Jalousie seinen Debütroman Über uns der Schaum. Wo er dabei aber mehr und mehr die Attitüde eines blasierten Bohèmiens an den Tag legte und mir einige Ideen auf der letzten LP damals doch zu kalkuliert kunstig waren, steht er hier noch auf dem Sprungbrett zum pretenziösen. Die Stücke sind poetisch und durchweg sehr abstrakt und mystisch, aber eben nicht völlig schräg. In ihrer vagen, mit Begriffen jonglierenden Art und Weise erinnern sie mich an die Lyrik von Negroman, nur in weniger schlurfig und dafür ziemlich kafkaesk und romantisch. Worum es geht, kann man dabei bestenfalls erahnen, doch Otremba hat hier eine sprachliche Eleganz, die dieses Album sehr eigen macht. Für Inhaltsfanatische ist das dann logischerweise eher nichts, man muss das schon irgendwie mögen. Für mich persönlich ist es aber genau diese Ästhetik, die Die Unsichtbaren neben Fun von den Nerven zu einer der wenigen Platten macht, die im Zuge des deutschen Postpunk-Revivals einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben und die ich immer noch mit der gleichen Euphorie höre wie vor sechs Jahren. Insofern muss ich dann auch definitiv sagen, dass diese LP in meinen Augen ziemlich unterschätzt ist, wird sie doch im Gegensatz zu den Alben der Stuttgarter Zelle oder Drangsal noch immer unter Ferner liefen gehandelt. Sicher, Messer haben weder etwas neu erfunden noch irgendjemandem in die Seele geleuchtet, sie haben einfach nur ein sehr gutes Stück Musik aufgenommen. Von denen es aber so viele aus dieser musikalischen Nische gar nicht gibt.

Klingt ein bisschen wie:
Die Art
Das Schiff

Dvrchnvll
Treibhaus EP

Persönliche Höhepunkte: Angeschossen | Die kapieren nicht | Tollwut (Mit Schaum vorm Mund) | Staub | Neonlicht | Das Versteck der Muräne | Es gibt etwas | Platzpatronen | Süßer Tee

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