Dienstag, 11. Juni 2019

Sweet Escape





















[ niedlich | nostalgisch | harmonisch ]

Es gab bessere Zeiten dafür eine Popband zu sein als die vergangenen zehn Jahre. Wenn man sich die wirklich wichtigen Künstler*innen der letzten Dekade ansieht, so sind das meistens solche, die in ihrer Musik Debatten aufwarfen, sozialkritisch waren, mit ihrer Persönlichkeit polarisierten und/oder eine klare Message kommunizierten. Klassischer sinnentleerter Konsens-Pop hatte es derweil selbst selbst im sonst so heißluftigen Chart-Mainstream schwer, wenn man von der großen Cloudrap-Blase mal absieht. Natürlich ist das vordergründig erstmal eine sehr tolle Sache und spricht dafür, dass usergenerierte Aufmerksamkeitsökonomie nichts prinzipiell schlechtes ist. Trotzdem ist es in meinen Augen genauso wichtig, Popmusik auch als Rückzugsraum wahrzunehmen, der Abstand von wichtigen Problemen schafft und der unbedingt die Erlaubnis hat, sich mit Kleinlichkeiten zu beschäftigen und so zu tun, als wäre alles supergeil. Ganz besonders dann, wenn drumherum scheinbar die ganze Welt brennt. Und weil das gerade in den letzten Jahren immer wieder die unschöne Realität war, sind Bands wie Alvvays so wichtig. Als ich Antisocialites auf meinem alten Format 2017 zu meinem Lieblingsalbum der Saison erklärte, fühlte sich das erstmal irgendwie falsch an. Es war das Jahr zwei nach Donald Trump, das Jahr von G20, von #metoo, der AfD im Bundestag, der Zerstörung von Aleppo und scheußlichen Terroranschlägen auf dem ganzen Globus. Das Jahr, in dem wichtige, inhaltlich schwere Platten wie Flower Boy von Tyler, the Creator, Ctrl von SZA, Damn. von Kendrick Lamar und 4:44 von Jay-Z erschienen. Ein schnuckliges Indiepop-Nümmerchen wie das von Alvvays erschien dagegen ziemlich blauäugig, ja fast unverschämt. Molly Rankin singt von teenagerhaften Schwärmereien im Sonnenuntergang, während Shawn Carter sozioökonomische Konsequenzen der Sklavereigesellschaft aufdeckt. Wo hier seichte Surf-Harmonien nostalgisch Sixties-Pop reanimieren, spricht Cardi B mit ihrer Musik die Sprache einer Generation. Ein besonders wokes Album ist Antisocialites definitiv nicht. Trotzdem ist es für mich persönlich gerade deshalb ein Zeitdokument. Weil es eine Zuflucht bietet vor all den bösen Sachen, die inzwischen sehr alltäglich sind und ich es manchmal brauche, um kurz abzuschalten. Diese LP zu hören ist wie Bridget Jones gucken nach einem Beziehungsstreit oder Rauchen nach dem Krankenhausbesuch: Eigentlich total widersinnig, aber es hilft für den Moment. Und wie. Die gesamte Aufmachung von Antisocialites ist ein perfekter musikalischer Safe Space, der sich wärmend um die Hörenden legt und ihnen gut zuspricht. Melancholisch genug, um die eigene schlechte Laune abzufangen und euphorisch genug, um positive Vibes einzugeben erzeugt diese LP ein starkes Moment von Sehnsucht, aber eines von der schönen Sorte. Unterstützt wird diese Wirkung noch dadurch, wie unkompliziert diese LP klingt. Kein Instrumentalpart ist hier clever verschachtelt, keine Songstruktur krampfhaft interessant, keine Textzeile zu konkret. Über allem liegt genau die richtige Menge klanglicher Weichzeichner und das Songwriting ist gerade charakteristisch genug, um für fiese Ohrwürmer zu sorgen, nicht aber um sich stundenlang damit befassen zu müssen. Es wird Menschen geben, die das langweilig finden, aber in meinen Augen ist diese Art von Songs nahezu die Perfektionierung von Popmusik: Musik, die im Gedächnis bleibt, ohne zu viel Denkerei zu erfordern und die große Gefühle erzeugt, ohne viel sagen zu müssen. Und klar kann es in dieser Welt nicht nur das geben. Es braucht auch diejenigen, die die Missstände ansprechen und musikalische Formeln weiter entwickeln. Aber es sind eben nicht nur die, die damit wichtige Arbeit leisten und es schaffen, Menschen zu berühren. Manchmal sind die ach so sinnentleerten und doofen Pop-Kasper darin sogar viel besser, weil sie es erlauben, zu verdrängen. Der letzte Song auf Antisocialites trägt den Namen Forget About Life und handelt davon, wie widrige Umstände oft das eigene Handeln bestimmen. Der Track ist ein melancholisches Plädoyer für die Ignoranz und findet das Glück im persönlichen Rückzug aus dem Schlachtfeld des Alltags. Eine Lebensweisheit lässt sich daraus sicher nicht machen, aber man fühlt schon, was Molly Rankin damit sagen will. Und letztendlich funktioniert er als perfekte Metapher für dieses komplette Album: Ändern wird sich dadurch ganz bestimmt nichts, aber es ist schön, dass es sowas gibt.

Persönliche Höhepunkte: In Undertow | Dreams Tonite | Plimsoll Punks | Not Your Baby | Lollipop (Ode to Jim) | Saved By A Waif

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