Donnerstag, 20. Juni 2019

Ersguterjuse





















[ autobiografisch | facettenreich | emotional ]

In der vergangenen Dekade gab es im Bereich Deutschrap vielleicht so viele maßgebliche, stilverändernde Entwicklungen wie nie zuvor in dessen kurzer Geschichte. Cloudrap kam an und setzte sich fest, die ersten richtig großen Verkaufs- und Streamingrekorde wurden gebrochen, Bushido bekam den Integrations-Bambi (ugh!) und Kollegah zerlegte zusammen mit Farid Bang den Echo (ugh! ins Quadrat). Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich Deutschrap von einem stigmatisierten Spartengenre, dessen Anhängerschaft es im Mainstream stets schwer hatte, zu ebenjenem Mainstream entwickelt und ist Stand 2019 Thema Nummer eins in der deutschsprachigen Musiklandschaft. Und wo an der Oberfläche die großen Chart-Schlachten ausgefochten werden, wächst auch der Untergrund und die Indie-Szene zu einer selten gesehen Vielfalt, die ihrerseits Respekt verdient. Da gibt es die politisch woken Antifa-Crews wie die Antilopen, Sookee und Zugezogen Maskulin, die riesige Trap-Blase um AsadJohn und Timo Milbredt, komische Käuze wie Käptn Peng und die Tentakel von Delphi und ganz krasse Avantgardist*innen wie die Leute vom Sichtexot-Label. Eine der coolsten Nischen, die sich in dieser Zeit aufgetan haben, ist meiner Meinung nach aber die Rückkehr der süddeutschen Bubble aus Stuttgart und München, die gerade jetzt wieder so stark aufgestellt ist wie nie. Natürlich ist sie unter all den tollen und bunten Phänomenen nicht gerade eine sonderlich progressive, eher klassisch weißer männlicher Gymnasiasten-Kartoffelrap, aber es ist auch nicht so, als wäre ich nicht genau die Zielgruppe für sowas. Und folglich sind es eben diese Künstler wie Fatoni, Edgar Wasser, Dexter und die Mitglieder der Orsons, die bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Gerade in den letzten fünf Jahren übertrafen sich Platten wie Im Modus, Tilt!, Tourette-Syndrom, Tua und Alle Liebe nachträglich gegenseitig und da reden wir noch gar nicht von der gewaltigen Menge an Freetracks, Exclusives und Cypher-Performances, die auf YouTube kursieren. Bereits jetzt kann man hier also auf einen ziemlich beachtlichen Katalog an Musik zurückblicken. Jemand, der bei dieser Reizüberflutung bis vor kurzem gerne Mal unterging, war der Stuttgarter MC Juse Ju. Sein Name war unter Anhängern der anderen Rapper zwar schon lange bekannt und in der Findungsphase der heutigen Bubble gehörte er bereits zum Stammkader, doch war er eigentlich immer nur der Typ, der irgendwo den Feature-Part machte. Er war talentiert, aber nicht auffällig und dass er seinem BuddyDexter optisch sehr ähnlich sah, machte die Sache für ihn nicht gerade besser. Für mich war der Name Juse Ju lange Zeit tatsächlich nur ein Name und es brauchte eine sehr großzügige PR-Geste seiner erfolgreicheren Kollegen, um diesen Zustand zu verändern. Seitdem Fatoni ihn gemeinsam mit Enaka auf dem Single-Doppel Gravitationswellen 2016 und Im Modus ein Jahr später sehr prominent platzierte, war zu diesem Typen ein Gesicht geboren. Das eines weiteren spitzfindig-satirischen Rucksackrappers mit guten Punchlines. Dass er in Wahrheit aber zu den cleversten Künstlern seiner Sparte gehört und noch wesentlich mehr auf dem Kasten hat als wirkungsvolle Wortwitze, wurde erst im letzten letzten Frühjahr so richtig klar, als er sein drittes Mixtape Shibuya Crossing veröffentlichte. Unter all den Alben, die ich oben aufgezählt habe, ist dieses hier im Moment mein persönlicher Favorit, weil es so viele Ideen zusammenbringt und gleichzeitig noch extrem viel über den Menschen Juse Ju erzählt. Als ich kurz nach der Veröffentlichung das erste Mal einen Artikel über diese Platte schrieb, verglich ich seinen Ansatz mit dem von Kendrick Lamar auf Good Kid, m.A.A.d City, weil sie es schafft, intimes Storytelling mit ironischen, pubertären Punchlines und großartigen Bangern zu vereinen und das ganze am Ende trotzdem sehr kohärent zu gestalten. Natürlich hinkt dieser Vergleich, denn ein Konzeptalbum ist Shibuya Crossing eigentlich nicht. Zwar erzählt Juse Ju hier einige autobiographische Versatzstücke, doch sind diese weder zusammenhängend noch das einzige, was auf diesem Album passiert. Immer wieder geht es auch um die eher schlecht als recht laufende Karriere und das selbstverständnis hinter der Musik oder die menschlichen Abgründe, die der Rapper ständig reflektiert. Und obwohl es dabei eben kein durchgehendes Narrativ gibt, zeigt sich insgesamt doch viel Persönlichkeit in diesen Stücken und Geschichten. In Kirchheim Horizont, Bordertown, Pain is Love und dem Titeltrack geht es jeweils um prägende Lebensabschnitte seiner Teenagerzeit, wobei Juse Ju als begnadeter Storyteller überrascht. Andere Songs wiederum kennt man in ihrer Art und Weise schon einigermaßen aus seinem bisherigen Repertoire. Allen voran steht dabei natürlich die Leadsingle 7Eleven, die quasi als Spinoff der Fatoni-und-Enaka-Tracks funktioniert, aber auch Knete teilen oder Propaganda hätten schon vor diesem Album zu Juse Ju gepasst. Eine Facette, die ebenfalls relativ neu ist, sind die sehr düsteren Selbstreflexions-Nummern wie Milka Tender und Lovesongs, wobei gerade letzterer für mich einen Knotenpunkt für den Rapper darstellt. Mit reichlich Ehrlichkeit und auch ein bisschen Selbstzerfleischung stellt er hier seine Beziehungsunfähigkeit zur Disposition, die zwischen den Zeilen auch nur toxische Männlichkeit ist. Prägend ist der Song insofern, als dass er ein neues lyrisches Thema für Juse Ju aufmacht, welches er inzwischen auch auf neuen Tracks wie Männer bearbeitet hat. Oder zumindest hoffe ich, dass Texte von dieser Sorte bei ihm noch ein bisschen kommen (insbesondere weil wenige männliche Musiker, geschweige denn Rapper, über sowas Texte schreiben), denn es zeigt noch eine Facette mehr an diesem ohnehin schon guten Künstler. Unterm Strich ist das die großartige Sache an Shibuya Crossing: Die Platte beackert nicht nur ein großes Spektrum, sie macht auch den Eindruck, dass jedes dieser Themen wirklich wichtig für Juse Ju ist und er emotional darin verwickelt ist. Und im Vergleich zu seinen vorherigen Alben wird er dadurch hier plötzlich ein riesengroßes Stück interessanter. Wenn alles gut läuft, dann ist das hier erst der Anfang einer fantastischen Karriere mit vielen LPs, die vielleicht noch besser sind. Fürs erste sagt es aber schon einiges aus, dass ich nach nicht mal anderthalb Jahren keine Scheu habe, Shibuya Crossing als eine meiner liebsten Platten der letzten Dekade zu bezeichnen. Und ein kleiner Spoiler zum Schluss: So viel Deutschrap wird da ab jetzt nicht mehr kommen.

Persönliche Höhepunkte: Kirchheim Horizont | 7 Eleven | Propaganda | Lovesongs | Bordertown | Pain is Love | Milka Tender | Shibuya Crossing | Cloudrap

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