Samstag, 8. Juni 2019

Piano Man






















[ dramatisch | poetisch | romantisch ]

Mir fallen tatsächlich sehr wenige Künstler*innen ein, die es in der Geschichte der Popmusik geschafft haben, so etwas wie Standardwerke für die Perfektionierung eines bestimmten Instruments zu erschaffen. Die Quasi die Maestro*sas ihres spezifischen Handwerks sind und deren Repertoire man auf ewig mit ausschließlich diesem einen Gerät verbindet. Der große Name zur elektrischen Gitarre wird sicherlich auch für die nächsten 50 Jahre Jimi Hendrix lauten, niemand spielte die Trompete wie Miles Davis es tat, J Dilla war ein Virtuose am MPC3000 und jemand wie Joanna Newsom hat ein eher exotisches Instrument wie die Harfe zum Aufhänger ihrer kompletten Karriere gemacht. Für andere Bereiche wiederum gibt es diese klaren Allgemeinplätze nicht. Zum Beispiel beim Klavier, einem Instrument mit mindestens so viel Pop-Tradition wie der klassischen Fender. Klar fallen einem Namen ein wie Stevie Wonder, Ray Charles, Ben Folds oder meinetwegen auch Billy Joel, aber die eine große Koriphäe, auf die sich alle einigen können, gibt es nicht. Dabei ist der Grund, warum ich mir diese Frage seit einer Weile überhaupt stelle in ihrer eigenen Lösung bedingt: Denn das (in meinen Augen) ultimative Pianopop-Album existiert bereits, fernab aller üblichen Definitionsbereiche. Es wurde 2013 von Moonface veröffentlicht und hört auf den Namen Julia With Blue Jeans On. Besagte Platte ist die zweite Solo-LP des Kanadiers Spencer Krug, dem ehemaligen (und neuen) Frontmann von Wolf Parade, der zwischen 2011 und 2018 unter diesem Pseudonym arbeitete und, je nachdem wie man zählt, drei bis fünf Alben veröffentlichte. Wenn man sich darunter nun lediglich jene ansieht, die er dabei ohne die Hilfe seiner Backingband Siinai veröffentlichte, wird klar, dass er in dieser Zeit ein sehr analytischer Künstler war. Für jeden seiner Longplayer beschränkte sich Moonface auf ein festes Setting von Instrumenten, mithilfe derer er den kompletten Songwriting- und Aufnahmeprozess bestritt. Seine erste EP trug den Titel Marimba and Shit Drums, sein LP-Debüt Organ Music Not Vibraphone Like I'd Hoped. Pretty obvious bis hierhin. Doch wo diese Platten doch noch sehr den Habitus nerdiger Klangexperimente mit sich trugen, hauchte Krug dieser Idee zwei Jahre später mit Julia auch künstlerisches Leben ein. Denn diesmal war ihm ein Albumkonzept nicht genug. Neben der musikalischen Zielsetzung, die kompletten 48 Minuten nur mit Klavier und Stimme zu füllen, kommt hier ein umfangreiches inhaltliches Konzept, das fast noch ambitionierter war. In 10 Songs erzählt der Songwriter hier die Geschichte des Endes von Wolf Parade und wie er sein erfolgreiches Musikerdasein in Kanada aufgibt, um zu seiner großen Liebe (Julia) nach Finnland zu ziehen. Eine unsterbliche Lovestory, die mich wahrscheinlich schon ergriffen hätte, hätte man sie mir am Telefon erzählt. Im Zusammenspiel mit der Musik wird das ganze hier jedoch ein dramatisches Meisterwerk, ein groteskes Musical von bizarrer Romantik, in dem Spencer Krug alle Rollen selbst besetzt. Und das nur mit einem einzigen Klavier.
Das wunderbare an der Konvergenz der beiden Konzepte hier ist, wie sehr sie sich gegenseitig abfangen: Eine Platte mit nur einem Instrument kann schnell langweilig werden, deshalb gibt uns Moonface eine packende Story und wirft sich gesanglich in gewaltige Posen. Weil diese aber droht, pathetisch zu werden, kleidet er sie mit einem einzigen Begleitmedium aus, das gleichsam edel und mächtig klingen kann. Er nimmt keinen Platz mit waghalsigen Arrangements weg, weiß sich aber im gewonnenen Raum auszubreiten. Er nimmt den Fokus nicht von den zentralen, poetischen Texten, gibt ihnen aber auch die richtige Plattform, um mehr zu sein als nur gesungenes Wort. In diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig ist, wie exzellent diese Platte klingt. Klar, viele Spuren gab es hier sicher nicht zu schieben und die Postproduktion dürfte so dankbar gewesen sein wie die weniger Pop-Alben, dafür wurden bei diesen Aufnahmen hörbar Dinge wie Raumklang und dem "inneren Sound" des Instruments berücksichtigt. Nur so hört man hier im Endergebnis die vielen Nuancen, die sich beim Spielen herausbilden und das Hörerlebnis um ein weiteres Steigern. Spencer Krug jongliert mit den Extremen des Materials, setzt enorme Dramatik in einzelne Töne und händelt eine Dynamik, die beachtlich ist. Was bemerkenswert ist, denn technisch virtuos spielt er hier eigentlich nie. In keinem Moment dieser LP erlebt man schnelle Wechselgriffe, solistische Höhenflüge oder große tonale Sperenzchen. Was Krug hier spielt, sind Popsongs mit recht simplen Melodien, die bisweilen vielleicht sogar ein bisschen hölzern wirken. Am Ende macht gerade das sie aber so unglaublich stark. November 2011, vielleicht mein Lieblingsstück hier, ist technisch gesehen fast mit einem der berühmt-berüchtigten "Four-Chord-Songs" zu verwechseln, schafft aber gerade mit dieser klaren Struktur auch den größten Pop-Moment der Platte. Tragik entsteht immer dann, wenn Krug schwere Akkordgriffe herabfallen lässt wie in Black is Back in Style und Finesse, wenn er in den höheren Registern soliert, wie in Barbarian. Die wirklichen Aha-Momente entstehen aber immer dann, wenn dynamische Extreme kollidieren und im besten Fall noch den lyrischen Inhalt rahmen. Ganz besonders brilliant wird diese Übung im Titelsong der LP ausgeführt, in dem Moment, wo nach 20 Minuten Album das erste Mal Julias Name fällt. Wer diese zwei Zeilen übersteht, ohne Gänsehaut zu kriegen, ist in meinen Augen diese ganze Platte nicht wert. Von allem großen romantischen Gesten ist diese mit Abstand die übermenschlichste und eine, die fast ein bisschen too much ist. Und sicher: Julia With Blue Jeans On kann bisweilen ein sehr melodramatisches Stück Musik sein. Die Liebeserklärungen von Spencer Krug sind die eines Teenagers, der ein paarmal zu oft Shakespeare gelesen hat und finden in Dimensionen statt, in denen es um Göttlichkeit, Todessehnsucht, Himmel und Hölle geht. Gefühllose Menschen würden dafür womöglich den Begriff "Kitsch" heranziehen. Und es ist schwierig, dieses Argument von der Hand zu weisen. Außer eben damit, dass diese LP verdammt nochmal das so ziemlich romantischste ist, was ich in den letzten zehn Jahren gehört habe und diese Leute einfach mal keine Ahnung haben. Julia With Blue Jeans On ist eine wahre Liebesgeschichte, erzählt auf einem Album voller Lovesongs, gespielt von einem Typen, der eine Dreiviertelstunde ein Klavier maltretiert. Come on! Gegen so viel relationship goals stinken sogar Sonny und Cher ziemlich ab. Noch dazu ist es eine musikalische Meisterleistung mit einem Sound zum niederknien und ein makelloses kompositorisches Gesamtkunstwerk. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass ich inzwischen zuerst an diese Platte denke, wenn es um klavierbasiertes Pop-Songwriting geht. Und das, obwohl sie gerade Mal sechs Jahre auf dem Buckel hat und Moonface keinen Leumund als großer Pianist genießt. Der Punkt ist, dass diese LP nicht nur das Instrument von der besten Seite präsentiert, sondern es auch inhaltlich wirksam einsetzt. Und das hat eben noch niemand so wie Spencer Krug gemacht. Change my mind.

Persönliche Höhepunkte: Barbarian | November 2011 | Dreamy Summer | Julia With Blue Jeans On | Love the House You're In | Black is Back in Style | Your Chariot Awaits

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