Sonntag, 24. März 2024

Die Wochenschau (18.03.-24.03.2024): Ariana Grande, Judas Priest, Bleachers, Kim Gordon, Schoolboy Q und und und...

 




SCHOOLBOY Q
Blue Lips
Top Dawg | Interscope

Als der Typ, der 2016 mit der Blank Face LP die meiner Meinung nach immer noch beste Platte des gesamten Top Dawg-Kosmos gemacht hat, ist Schoolboy Q nach wie vor jemand, auf den ich große Stücke halte und auch sein letztes Album Crash Talk von 2019 war ja eigentlich schwer in Ordnung. Ich gebe aber auch gerne zu, dass es nicht mehr als das war und gerade bei den Wartezeiten, die man für eine Platte von ihm üblicherweise in Kauf nimmt, bedeutet "schwer in Ordnung" manchmal auch ein bisschen enttäuschend. So auch auf Blue Lips, das alles in allem ein äußerst kompetent gemachtes Hiphop-Album ist und von der vielseitigen Genre-Dynamik über clevere Texte, Flow-Technik, Sample-Picks bishin zu den Features sehr viel richtig macht. Als Gesamtheit ist es dabei aber mal wieder eher eine Sammlung vieler guter Ideen ohne wirklichen strukturellen Kern, der viel tolles auf einen Haufen wirft, aber wenig davon verbindet. Damit ist Schoolboy Q immer noch vielen Musiker:innen mit sehr ähnlichen Konzepten weit voraus, hinter seinem eigenen Können, das er in der Vergangenheit unter Beweis stellen konnte, bleibt er aber zurück. 

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






MANNEQUIN PUSSY
I Got Heaven
Epitaph

Mit ihrem Mix aus Indie und Alternative Rock, der sich sehr bei einschlägigen Szene-Bands der Neunziger bezieht, sind Mannequin Pussy eigentlich eine Band von sehr vielen, der es stilistisch an Alleinstellungsmerkmalen zu mangeln droht. Auf ihrem mittlerweile vierten Album finden sie aber genügend Ablenkung, um das geschickt zu überspielen. Da gibt es ballerige Noise-Schwarten wie Ok? Ok! Ok? Ok! oder stimmungsvolle Leichtigkeits-Momente wie I Don't Know You, die echt faszinierend sind und sich am Ende zu einem echt guten Gesamtergebnis mit vielen kreativen Ideen aufsummieren. Noch dazu ist I Got Heaven klasse produziert und in sich sehr dynamisch, was nochmal richtig viel bringt. Wahrscheinlich eines von den Alben der Sorte, von denen man in dieser Qualität keinen Nachfolger erwarten kann, für den Moment ist das aber wurscht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11






JUDAS PRIEST
Invincible Shield
Sony

Schon seit Redeemer of Souls vor inzwischen auch schon wieder zehn Jahren befinden sich Judas Priest inmitten eines beeindruckend glorreichen dritten Bandfrühlings, der bisher schon zwei überraschend starke Alben abwarf und bei dem die Band keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigt. Im Gegenteil, Invincible Shield ist als drittes LP-Produkt dieser (Quasi-)Serie in meinen Augen sogar das bisher stärkste. Von den elf Songs der Standardausgabe ist so gut wie jeder ein Hammer und sogar auf den Bonustracks der Deluxe-Version finden sich ein paar echte Banger. Judas Priest schreiben hier Hooks wie am ersten Tag, ihre Soli sind durchweg der Hammer und insbesondere die technisch nach wie vor anspruchsvolle Gesangsperformance des mittlerweile 72-jährigen Rob Halford ist gelinde gesagt verblüffend. Nach den Achtzigern klingen die Briten dabei in der Kompositorik noch ein bisschen, technisch gesehen ist Invincible Shield aber ein Album, das von der knackigen modernen Produktion absolut profitiert und eine Blaupause dafür liefert, wie Hochglanz-Metal von und für die Boomer-Generation auch in gut geht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11




ARIANA GRANDE
eternal sunshine
Republic

Ein paar Abzüge muss ich für die dummen Interludes auf dieser Platte machen, die die eh schon kurze Spielzeit von eternal sunshine unnötigerweise verwässern, abgesehen davon ist das hier meiner Meinung nach Ariana Grandes beste Platte seit mindestens Dangerous Woman von 2016. Es hat die gleiche innere Ruhe, die schon den Vorgänger Positions vor vier Jahren so gut machte, scheut sich aber zusätzlich nicht davor, Hits zu schreiben und strahlt am Ende vor allem durch seine Einzeltracks. Songs wie the boy is mine, we can't be friends oder yes, and? werden garantiert wieder welche sein, die auch als Singles Wellen schlagen und dass die Platte trotzdem herrlich kohärent ist, macht auch Alben-Nerds wie mich glücklich. Ganz abgesehen davon, dass Grande inhaltlich immer noch Songs übere innere Ruhe und ihre seelische Heilung schreibt, die mich irgendwie für die Künstlerin selbst happy machen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





KIM GORDON
the Collective
Matador

Unabhängig davon, wie ich the Collective musikalisch finde, muss ich erst einmal loswerden, wie sehr ich dieses Album für das bewundere, was es als Idee ausmacht. Da kommt eine siebzigjährige Kim Gordon, eine der vielleicht wichtigsten experimentellen Pop-Musikerinnen der letzten 45 Jahre mit ihrem gerade mal zweiten Soloalbum nach der Trennung von Sonic Youth um die Ecke und hat keinen Bock, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. The Collective reproduziert zwar irgendwo weiter den kantigen Avantgarde-Noisepop, den sie jetzt schon seit einer Weile macht, gleichzeitig klingt es aber auch immer wieder nach einem modernen Trap-Album mit fetter Hochglanz-Produktion und alles in allem nach einem sehr mutigen und zeitgenössischen künstlerischen Move. Und das ist als Mission Statement ganz einfach großartig. Ist die Platte deswegen gleich ein Meisterwerk? Nicht in jedem Fall. Ich mag viele der textlichen Ideen recht gerne, finde die rhythmische Energie der meisten Songs toll und verehre insbesondere den räudigen Memphis-Beat von the Candy House. In vielen Momenten funktioniert the Collective aber auch nicht über den Effekt des ersten Eindrucks hinaus und wird trotz aller Originalität recht schnell monoton. Gerade in der zweiten Hälfte verwaschen die Songs tendenziell ein bisschen und fühlen sich an, als hätte man das ein oder andere schonmal auf der selben Platte gehört. Weshalb ich das Endergebnis leider nicht so sehr mag, wie ich es gerne mögen würde und schlussendlich eher okay finde. Eines hat Kim Gordon hiermit aber geleistet: Wo mir ihr letztes Album von 2019 mehr oder weniger komplett egal war, kann ich jetzt gar nicht erwarten, wie sie von hier aus weitermacht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11




MOOR MOTHER
the Great Bailout
Anti-

Dass ich mit dieser neuen Platte von Moor Mother wieder ein bisschen gebraucht habe, sei mir verziehen, denn es ist mal wieder keine wirklich bekömmliche geworden. Zwischen freiförmigem Free Jazz und elektronischen Noise-Schnipseleien setzt die Künstlerin aus Philadelphia hier eine Reihe von kunstigen Lyrik-Vorträgen, die ziemlich an die Musik von Matana Roberts erinnern und somit nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich eine Herausforderung darstellen. Zum Glück finde ich aber auch die Arbeit von Roberts klasse und nach einigem Zögern bin ich mir relativ sicher, hier die nächste wirklich gelungene Platte von Moor Mother gehört zu haben. Nicht nur klanglich, sondern vor allem konzeptuell. Die letztliche Überzeugungsarbeit leisteten dabei mehr als alles andere die Texte, was trotz des Rap-Hintergrunds von Moor Mother eine neue Erfahrung für mich ist. The Great Bailout ist ein Album über das globale Erbe des Kolonialismus und die dadurch nach wie vor herrschende Ungerechtigkeit, womit es von einem Thema handelt, über das diese Frau viel zu sagen hat und das ihr auch emotional wichtig zu sein scheint. Denn ihre historische Präzision in den Lyrics wird in vielen Momenten dieser Platte nur noch von der Giftigkeit übertroffen, mit der sie diese performt. Die Art, wie sie diese vorträgt, ist dabei gleichzeitig peotisch und direkt und hat auf der einen Seite eine große Kunstigkeit, die aber nie von der Message ablenkt. Toll finde ich auch, dass das Zentrum aus kurzen Tiraden, in denen es ordentlich zur Sache geht, vorne und hinten durch längere, etwas zurückgenommenere Jazz-Stücke gerahmt wird, die alles noch besser einbetten. Ein einfaches Album ist the Great Bailout damit definitiv nicht, insbesondere inhaltlich ist es aber ein weiterer linker Haken von Moor Mother, den ich gerne einstecke. Denn dahinter verbirgt sich sehr wahrscheinlich eines der wichtigsten Alben, die sie bisher gemacht hat.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11






BLEACHERS
Bleachers
Dirty Hit

Auf der einen Seite ist das neue selbstbetitelte Album von Jack Antonoffs Projektband Bleachers seinem Vorgänger von 2021 ja sehr ähnlich: Aus ihm spricht eine tiefe Verehrung für die Musik von Bruce Springsteen und der E-Street Band, das Saxofon ist vielleicht das wichtigste Instrument und zwischendurch lässt Antonoff seine Indie-Vergangenheit durchblitzen. Trotzdem finde ich, dass die neue Platte strukturell eine völlig andere Angelegenheit ist als seine letzte und in vielen Hinsichten auch um einiges besser. Oberflächlich subtiler und weniger Hit-orientiert komponiert findet Antonoff hier viel Liebe im Detail und macht dieses Album zu einer Erfahrung der kleinen Momente. Darüber hinaus ist die Produktion wieder wesentlich stärker (was bei jemandem wie ihm, der hauptberuflich Produzent ist eigentlich nichts besonderes sein sollte, zuletzt war das aber ernsthaft ein Problem von Bleachers) und vor allem fühlt sich das ganze nicht an wie ein nerdiges Forschungsprojekt über Aufnahme- und Kompositionstechniken, sondern wie ein Album mit Charakter. Was auch dadurch bestärkt wird, dass die Texte deutlich in den Vordergrund rücken. In einigen Songs gibt es diesmal Gäste, was weniger stört als befürchet und dass Antonoff in ein paar Tracks gegen Ende seinen inneren Justin Vernon channelt, ist eine spannende Überraschung. Für mich ist das hier damit die Platte, die die Idee des Vorgängers aufnimmt und damit auch wirklich arbeitet, statt sie nur zu analysieren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11




Dienstag, 19. März 2024

Konzertbericht: Nur heute Nacht

 




BOHREN & DER CLUB OF GORE
HAMMERHEAD
15.03.2024
Die Börse, Wuppertal


Wenn ich sage, dass das Konzert der Gruppen Hammerhead und Bohren & der Club of Gore an diesem Freitag in der Wuppertaler Börse ein einzigartiges war, dann meine ich das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn dass sich die Konstellation aus beiden Bands an einem Abend ergab, ist ein einmaliges Phänomen in ihren jeweiligen Tourkalendern und rein stilistisch ja auch alles andere als eine naheliegende Verbindung. Auf der einen Seite Bohren als nominelle Headliner, eine zum Teil fast ambient anmutende Darkjazz-Combo ohne Texte, auf der anderen Hammerhead, das frisch zurückgekehrte NRW-Hardcore-Urgestein, eine Punkband im besten Sinne mit rotzigen Auf die Fresse-Parolen gegen Staat und Kapital. Weshalb es völlig logisch ist, dass ein solcher Konzertabend quasi in zwei verschiedenen Welten stattfindet, die beide auf ihre Art fantastisch und somit berichtenswert sind.
Den Anfang machen ziemlich pünktlich um Viertel Neun die Punker aus Bonn mit einem knackigen, 45-minütigen Set ohne viel Schnickschnack. Ihr Konzert besteht aus einem hingebolzten Knüppel nach dem anderen, der Sound ist herrlich lärmig und konsequenterweise gehen die meisten Ansagen von Tobias Scheiße auch länger als die Songs selbst. Nur knapp ein Viertel des Sets bestreiten Hammerhead dabei mit Stücken von der neuen Platte, gespielt wird stattdessen überwiegend Zeug von ihrem Weißen Album und der Opa war in Ordnung-EP. Und da es in ihrem Katalog eh keine wirklichen Hits gibt, braucht es auch weder einen epischen Closer noch hochstilisierte Zugaben. Weshalb sie ebenso zackig und unkompliziert wie sie angefangen haben auch schon wieder weg sind. Inklusive der Beseitigung aller Andeutungen auf eine Punkrock-Show, denn etwa eine halbe Stunde später begibt man sich mit dem Set von Bohren & der Club of Gore nicht nur musikalisch in ein Paralleluniversum. Hier ist von der pragmatischen Rock-Einrichtung der Vorband nichts mehr zu sehen, dafür wurde der Teil des Saals, in dem gerade noch vorsichtige Pogo-Ansätze zustande kamen, komplett bestuhlt. Auf der Bühne herrscht schon zum Aufbau Dämmerlicht und neben dem leuchtenden Bohren-Bandlogo steht nun fast schon abstrakt das kombinierte Multifunktions-Equipment des Trios. Zehn Minuten vor Beginn des Konzerts fährt das Licht dann komplett runter und ein lulliger Synth-Loop übernimmt die Atmo-Konserve, auf den die Band Schlag 21 Uhr 30 den ersten Takt von Prowler im türkisen Schummerlicht spielt. Insgesamt drei Stücke nutzt die Band anschließend, um das Publikum in die gloomige Nachtclub-Atmosphäre einzuspinnen, bevor Christoph Clöser das erste Mal zum Publikum spricht. Als Neuling der Bohren-Konzerterfahrung hatte ich eigentlich überhaupt nicht mit Moderationen gerechnet, im folgenden Verlauf des Gigs erweisen sich diese durch ihre trockenhumorige Art aber immer wieder als Highlights der Show, die zwischendurch die kunstige Schwere der Musik brechen. Diese selbst ist in jedem Moment klasse, komplett on point performt und auch klanglich ahnbar beeindruckend. Nicht zuletzt dadurch, dass man aufgrund der verhaltenen Lautstärke nicht zwingend einen Gehörschutz braucht und viel mehr einzelne Nuancen raushört. Eine besondere Konzerterfahrung sind die Mülheimer aber auch strukturell. Denn ebenso wie auf ihren Alben haben Bohren auch live einen gewissen Hang zur Monotonie, den man mögen muss. Ich würde die Gleichförmigkeit ihres Sets, das sowohl aus alten Songs als auch Sachen von der neuen Platte und komplett unveröffentlichten Tracks besteht, nicht mal als etwas negatives sehen, sondern schlichtweg als ungewohnt. Denn auch sie sind auf ihre Art eine Band ohne offensichtliche Setcloser und große musikalische Finalmomente, weswegen die Spannungskurve ihrer Show sehr linear verläuft. Bohren live zu sehen ist ein bisschen wie ein Alpenpanorama zu betrachten: Es macht keinen Unterschied, ob man es drei Minuten oder drei Stunden tut, schön ist es so oder so. Ebenso wird es mit der Zeit aber auch nicht besser oder schlechter, sondern hält den Grad seiner Faszination sehr konstant. Das einzige, was ab einem bestimmten Punkt dieses konkreten Abends nervt sind Teile des Publikums, die offenkundig eher wegen Hammerhead hier sind und sich ab und zu aus dem Barbereich in den Saal verlaufen. Und weil die Musik des Konzerts wie gesagt verhältnismäßig leise ist, hört man hier immer wieder Einzelgespräche, beziehungsweise schwappt zum Teil der wesentlich höhere Lautstärkepegel aus dem Foyer herein und zerstört ein bisschen die sonst perfekte Immersion. Ein großes Problem ist das aber nicht und am Ende vielleicht der einzige kleine Wermutstropfen einer sonst echt genialen Live-Konstellation.
Gerade das Hammerhead und Bohren auf so unterschiedliche Weisen ihren jeweiligen Genre-Klischees entsprechen, macht diese zwei Konzerte für mich letztlich zu so einer speziellen Erfahrung, die mir wohl lange im Gedächnis bleiben wird. Es hätte ja an sich schon gereicht, hier zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und an einem Abend zwei Bands zu sehen, die ich eh gut finde. Es hätte auch die Gewissheit gereicht, hier eine Kombi von Acts zu erlebt zu haben, die wahrscheinlich nie mehr wieder gemeinsam spielen wird. Die Wucht war aber letztlich, wie geil und wie krass unterschiedlich beide Konzerte waren und wie ebendiese Kombi am Ende doch mehr war als die Summe ihrer Teile. Definitiv mein erstes großes Konzerthighlight 2024.



Sonntag, 17. März 2024

Die Wochenschau (04.03-10.03.2024): MGMT, Liam Gallagher & John Squire, Jacob Collier und und und...

 



MGMT
Loss of Life
Mom + Pop

Ein schlechtes Album ist Loss of Life auf jeden Fall nicht, dazu wissen MGMT Stand 2024 einfach zu gut, was sie können. Ein bisschen schwach auf der Brust wirken sie hier nach dem ziemlich unfickbaren Lauf der letzten 15 Jahre aber schon. Das liegt nicht daran, dass sie hier etwas ruhigere Songs mit weniger Hit-Fokus scheiben und dass sie stilistisch wieder mal einen kompletten Umschwung in Richtung glamrockiger Softpop-Gefilde machen, sehe ich sogar als Pluspunkt. In den besten Momenten klingt Loss of Life wie die Sorte Alben, die ich mir von einer Band Foxygen nach 2014 gewünscht hätte und channelt auf kreative Weise das Zeug, das die besten Phasen von David Bowie und T.Rex ausmachte. Ich will aber auch nicht beschönigen, dass die Platte nach den zwei Minuten des (zugegebenermaßen großartigen) Introtracks nicht mehr besser wird und MGMT songwriting-technisch quasi mit jedem Song weiter abflachen. In Dancing in Babylon holt Christine & the Queens noch eine akzeptable Menge an Action raus, aber spätestens mit dem Beginn der zweiten Hälfte sind die wirklich bemerkenswerten Momente hier passé. Und wo Songs wie People in the Steet oder der abschließende Titelsong schon irgendwie stimmig sind, gibt es insgesamt zu wenig an diesem Album, was mir wirklich hängenbleibt. Und das ist bei dieser Band in der Form zum ersten Mal in ihrer Karriere so.
 
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11
 
 
 
 
 
 
 SLEEPYTIME GORILLA MUSEUM
Of the Last Human Being
Avant Night

 
 
 
 
 
 
Gerade im Bereich Progrock kann es mitunter echt Anstrengend werden, wenn lange Arbeitszeiten eine Rolle spielen und mit angeblich 20 (!) Jahren, in denen dieses hier in der Pipeline verbrachte, lässt es selbst endlose Tüftler wie Tool fast zweimal alt aussehen. In diesem Fall ist das Ergebnis aber kein zerdachter, kreativ totpolierter Epochal-Klumpen, sondern ein wahnsinnig kreatives Avant-Prog-Album, das die Frage beantwortet, wie Black Midi mit ein paar richtigen Entscheidungen in fünf Jahren klingen könnten. Klanglich pendelt es dabei zwischen nerdigem Gegniedel, sinfonischer Schöngeistigkeit und dadaistischem Exzess und meint das Prädikat Prog weniger als klangliches Abziehbild denn als wirkliches Andersdenken experimenteller Rockmusik. Dabei fädelt es geniale Momente unterschiedlichster Färbung hintereinander auf und bildet aus allem am Ende doch eine Platte mit einen unverwirrbaren roten Faden, die erstaunllich kohärent ist. Bonuspunkte außerdem dafür, dass sich das ganze trotz einer Länge von gerade Mal 65 Minuten wie eine monumentale Rockoper anfühlt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11




REMO DRIVE
Mercy
Epitaph

Gänzlich regeneriert haben sich Remo Drive nach ihrem ziemlichen Absturz vor vier Jahren mit A Portrait of An Ugly Man noch nicht, es tut ihnen aber gut, dass sie hier ein bisschen den Modus wechseln. So ist der gediegene Sound, der zuletzt ein Makel war, hier zur Methode geworden und auch ein bisschen besser aufbereitet. Was vor allem zur Folge hat, dass Mercy die Aufmerksamkeit (wieder) stärker auf die Komptenzen von Remo Drive als lyrische Band lenkt, die vor allem in Songs wie All You'll Ever Catch und New in Town durchkommt. Immer noch klingen sie hier aber im Durchschnitt langweiliger als auf ihren ersten beiden Platten und holen sich nicht deren starken Charakter zurück. Und ob sie mit dieser Ästhetik wirklich auf dem richtigen Weg sind, wird man wahrscheinlich auch erst beim nächsten Album sagen können.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11






KLEZ.E
Erregung
Windig

Auf ihrem ersten Album seit dem nicht von ungefähr so benannten Desintegration von 2017 machen Klez.e ein weiteres mal ihrem überbordenden the Cure-Fantum Luft und gleichen mit ihrem Gothpop den Szene-Legenden aus den Achtzigern zum Teil auf dreiste Weise. Und wäre es nicht um die kreativen Texte von Tobias Siebert, würde ich ihnen das vielleicht übel nehmen. So strahlt Erregung aber vor allem durch seine düstere Lyrik und definiert das Prädikat Goth als süßlich-finstere Schattenromantik mit echtem Hang zur Poesie aus. Besonders eindrucksvoll funktioniert das im eröffnenden Titelsong (der musikalisch quasi eine direkte Kopie von The Cures A Forest ist, aber Schwamm drüber), danach bleibt es größtenteils sensationsfrei, aber durchweg gut. Es wird sicher Leute geben, die eine Platte wie diese als Offenbarung des deutschsprachigen Postpunk ansehen können und gerne wäre ich einer davon gewesen, die Gewaltigkeit dieser Platte ist mir in zu vielen Momenten aber zu theoretisch. Trotz dieses Makels bleibt aber immerhin noch eines der besseren Projekte aus dieser Richtung in den letzten paar Jahren.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11




JACOB COLLIER
Djesse Vol. 4
Hajanga | Decca | Interscope

Keine Ahnung, ob sich Jacob Collier für dieses Album direkt bei Peter Gabriel hat inspirieren lassen oder immer noch denkt, Justin Vernon hätte das alles erfunden. Aber auf jeden Fall ist diese Art von Musik die wichtigste und durchgängigste Assoziation, die ich mit Djesse Vol. 4 habe und am Ende auch die, die diesem Album die wertvollsten Songwriting-Momente entlockt. Denn obwohl ich hier wieder einmal grundsätzlich finde, dass Collier coole Songs schreiben kann und im Kern dieses Albums eine ehrliche, emotionale Kompositorik steckt (vielleicht sogar ehrlicher als je zuvor, so euphorisch und emotional, wie viele Songs hier sind), passiert mir Drumherum zu viel Schnickschnack. Das meint noch gar nicht mal die vielen Gäste auf dieser Platte (unter anderem Chris Martin, Stormzy, Shawn Mendes, John Legend und seine Mutter), die eigentlich ziemlich gut integriert sind und eine coole Art von Unvorhersehbarkeit und Vielseitigkeit einbringen, viel eher stört mich mal wieder Colliers kreative Streuung. Klar ist es irgendwie clever, innerhalb von Minuten von Latin Jazz zu Groove Metal zu wechseln, aber inwiefern dient man mit sowas der Botschaft eines Songs? Wäre es nicht um solche klugscheißerischen Ausbrüche, wäre Djesse Vier ein richtig gutes Album. So ist es ein ziemlich gutes, das sich für etwas besseres hält.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11





MESSER
Kratermusik
Trocadero

Nach dem etwas enttäuschenden letzten Messer-Album No Future Days von 2020 stand bei mir im Vorfeld von Kratermusik ein bisschen die Frage, ob die Münsteraner es mit ihrem fünften Longplayer nochmal schaffen würden, wirklich etwas neues aus ihrem Sound zu machen. Und obwohl die Antwort hier unterm Strich schon irgendwie nein lautet, zieht die neue Platte den Flieger doch nochmal ganz gut an der Schnauze hoch und zeigt Messer in Details faszinierend. Sachen wie die deutlichen Dub-Einflüsse in gleich mehreren Songs, die nicht unspannenden Dynamiken im Songwriting und natürlich die Lyrik von Sänger Hendrik Otremba, der nach seinem Soloalbum vom letzten Jahr sein Vokabular unter anderem um die Begriffe "Seegraswaldalgengemäuer" (in Taucher) und "dumme Sau" (in Eaten Alive) erweitert hat. Ein bisschen seltsam finde ich an vielen Stellen seinen ungewöhnlich hohen und gepressten Gesang, der aber auch ein Versäumnis der Postproduktion sein könnte. Allgemein ist Kratermusik an vielen Punkten damit das spannendere Album als sein Vorgänger, ich muss aber auch ein weiteres Mal feststellen, dass es im Vergleich zu allem verblasst, was Messer vor 2020 gemacht haben.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11




LIAM GALLAGHER & JOHN SQUIRE
Liam Gallagher & John Squire
Warner

Für Liam Gallagher ist das hier auf jeden Fall nicht das uninteressanteste neue Album. Nachdem er die letzten Jahre über in seinem Stil sehr festgefahren wirkte und ihn auch zunehmend verwässerte, findet er in Ex-Stone-Roses-Gitarrist John Squire hier nochmal einen Sparringpartner, der ihn herausfordert und anspornt. Das passiert zum einen durch die eher psychedelisch-bluesigen Unterlagen, die Squire schreibt und die ein bisschen Action in die Sache bringen, zum anderen scheint Gallagher für seine Verhältnisse hier auch erstaunlich rührselig und emotional. Gerade Songs wie der Closer Mother Nature's Song, in dem über die Schönheit der Natur gesungen wird oder das schnulzige Love You Forever wären dem ewig bockigen Griesgram früher nie über die Lippen gegangen und zur hippiesken musikalischen Ausgestaltung passt das eigentlich ganz gut. Ist Liam deshalb aber gleich besser als aus den Vorgängern? Vielleicht ein bisschen. Denn obwohl vieles hier spannender klingt als zuletzt und tatsächlich nochmal neue Türen für ihn als Musiker öffnet, fehlt immer noch eine Griffigkeit, die er inzwischen schon seit As You Were von 2017 nicht mehr hatte. Und mit diesem Sound als vielleicht beste Vorlage in Jahren ist das schon Schade. Denn eigentlich hätte ich gerne mal wieder ein richtig geiles Album aus seiner Feder.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11