Donnerstag, 31. März 2022

Ästhetik der Schwurbelei

Destroyer - LABYRINTHITIS
DESTROYER
Labyrinthitis
Merge | Bella Union
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ lyrisch | verkunstet | gitarrenlastig ]

Nachdem ich das Wirken und Walten des Daniel Bejar in den letzten fünf Jahren nun doch etwas eingehender verfolgt und dabei schon lange geglaubt hatte, dass in ihm nach seinem kleinen Überraschungs-Crossover-Erfolg Kaputt von 2011 nochmal ein großes Album steckte, schien es im Frühjahr 2020, als wäre dieses in Form von Have We Met tatsächlich gekommen und alles wäre gut. Mit dem cohenesken New Wave-Synthpop-Entwurf seiner retrofixierten Zwotausendzehner-Phase kehrte er hier lyrisch zu den schrulligen expressivpoetischen Wurzeln seines Projekts in den Nullern zurück und verband somit zwei Varianten seiner Musik auf sehr coole Weise, die bisher nur getrennt voneinander existierten. Und keine Frage, auch jetzt mag ich viele Songs des besagten Albums noch immer recht gerne und empfinde es nach wie vor als wichtige Kulmination verschiedener Elemente des Sounds von Destroyer. Dass Have Me Met zum Ende der Saison nicht unter meinen besten dreißig Alben auftauchte, war aber kein Versehen. Denn bereits in den wenigen Monaten nach Release hatte die Platte für mich doch eine starke Patina angesetzt, die sie spätestens im Dezember einfach nicht mehr zu einem so packenden Erlebnis machte wie noch Anfang des Jahres. Was in erster Linie natürlich schade ist, mir im Bezug auf Labrynthitis aber auch eine wichtige Lektion mitgegeben hat: Man sollte sich bei Dan Bejar niemals zu früh freuen und manchmal ist es erst der Faktor Zeit, der über die letztendliche Größe seiner Platten entscheidet. Wobei ich diesen Disclaimer hier auch wichtig finde, denn in vielen Attributen ist diese neue LP musikalisch doch eine sehr ähnliche Angelegenheit wie sein Vorgänger. Zumindest strukturell. Denn wo man oberflächlich vielleicht schon erstmal ein bisschen vom sehr peppigen und teilweise rockigen New Wave-Sound vieler Tracks abgelenkt wird, sind Herz und Nieren selbiger doch wieder aus dem gleichen Material wie das Zeug auf Have Me Met: fantasievolle Melodien mit sehr gut produzierten Basslines und starker rhythmischer Note, umhüllt vom edlen Timbre des Dan Bejar, der wohlklingenden Nonsens sprechsingt. Mehr als nach Leonard Cohen klingt das Ergebnis diesmal nach the Cure, Beach House und Depeche Mode und ist ein bisschen gitarrenlastiger, der springende Punkt ist das aber nicht. Der sind viel eher viele kleine Punkte, die sich in den spannenden Details dieser Platte finden und sie in meinen Augen oft ziemlich faszinerend machen. Da gibt es offensichtliche Sachen wie den instrumentalen Titeltrack oder das garagig-akustische the Last Song, die als Ganzheiten auffallen, in vielen Momenten sind es aber auch Teile der Tracks, die mich hier begeistern. So zum Beispiel das verschwörerisch geraunte "Tintoretto, it's for you!" im gleichnamigen Stück und die darauf folgenden Synthbreak, die grantigen Funk-Gitarren in Eat the Wine, Drink the Bread oder wie It Takes A Thief diese ganzen dämlichen Geräusche einbaut, die es aber erst so richtig groovy machen. Wobei das beste an Allem natürlich wieder Dan Bejars aberwitzige und gleichzeitig sehr schöngeistige Texte sind, die ich hier gar nicht erst groß zitieren will, weil sie ohne Kontext definitiv nicht halb so gut funktionieren wie in den Stücken selbst und auch erst durch diese bestimmte Performance so großartig werden. Man kann sicherlich sagen, dass eine gewisse Art von abgefuckter Sound-Text-Schere, die hier wieder genauso genial funktioniert wie auf dem Vorgänger, mittlerweile zur künstlerischen Visitenkarte von Destroyer geworden sind, die sie hoffentlich auch weiter so beibehalten. Denn sie ist inzwischen mehr oder weniger der Hauptgrund, warum ich immer wieder so gerne zu ihnen zurückkehre und inzwischen auch viel aufmerksamer ihren Output höre als noch vor fünf Jahren. Und obwohl Labyrinthitis dabei ein weiteres Mal vielleicht nicht ganz ohne ein paar seltsame Momente auskommt und nicht in jeder Sekunde zu hundert Prozent obergeil ist, beeindruckt es mich doch zum wiederholten Mal dadurch, wie viel Sorgfalt und Kreativität hier auf so viele Details verwendet wurde und wie diese Band gleichzeitig so sophisticated und so freaky klingen. Auch ohne das eine große Album an der Spitze fühle ich mich also inzwischen wohl zu sagen, dass die frühen Zwotausendzwanziger nochmal eine der besten künstlerischen Phasen dieses Projekts sein dürften. Und die geht ja hoffentlich auch noch ein bisschen so weiter.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Suffer | June | Tintoretto, It's For You | Labirinthitis | Eat the Wine, Drink the Bread | It Takes A Thief | the Last Song

Nicht mein Fall
-


Hat was von
the Cure
Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me
 
Leonard Cohen
I'm Your Man
 
 

Mittwoch, 30. März 2022

Als wäre es gestern gewesen

Placebo - Never Let Me Go
PLACEBO
Never Let Me Go
SO Recordings
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ politisch | boomerig | routiniert ]

Ich hatte ja schon irgendwie erwartet, dass Placebo im Zuge der letzten zehn Jahre und der damit einhergehenden Oldiewerdung des Neunziger-Altrocks nicht unbedingt als die coolste Band der Welt dastehen würden und ich hatte auch ein bisschen erwartet, dass viele Musikfans meiner Generation sie heutzutage als peinliches Schwellenrelikt der Generation X abtun würden, nie jedoch hätte ich geglaubt, dass sie irgendwann mal so in Vergessenheit geraten wie jetzt gerade. Denn auch wenn sie musikhistorisch bestenfalls ziemlich erfolgreiche Nutznießer der Alternative-Welle der ausgehenden Neunziger waren und bis heute keinen ernstzunehmenden Einfluss auf jüngere Künstler*innen hatten, waren sie doch trotzdem über gute 20 Jahre hinweg eine extrem erfolgreiche Rockband mit regelmäßigen Hits, die bis tief in die Zwotausendzehner hinein ein fester Bestandteil der Chartlandschaft war. Und klar haben sie in den zehn Jahren seitdem so gut wie nichts gemacht (ihr letztes richtiges Studioalbum ist von 2013, drei Jahre später folgte zum dreißigjährigen Jubiläum noch ein Best-Of und ein MTV Unplugged) und sich sehr bedeckt gehalten, gerade deshalb wundert es mich aber, dass ein Album wie Never Let Me Go gerade nicht als fulminantes Comeback gehandelt wird, sondern bei vielen eher als Randnotiz unter den Teppich fällt. Zumal ich mich an dieser Stelle eigentlich dafür aussprechen würde, dass die Briten gerade für die heutige Generation von Rockmusiker*innen ein riesiges Vorbild sein sollten. Nicht nur weil sie rundherum eine tolle Band mit vielen grandiosen Songs sind, sie waren vor allem schon in den toxischen Neunzigern an mittlerweile aus gutem Grund relevanten Themen wie mentaler Gesundheit und LGBTIQ+-Repräsentation dran und gaben diesen auch im Mainstream Raum, ohne gleich unfassbar edgy und zynisch sein zu müssen. Und dass sie 2022 wieder da sind und in diese Inhalte auch weiterhin einsteigen, empfinde ich offen gesagt als Segen. Klar erleben wir hier in nicht wenigen Momenten eine etwas desorientierte und boomerige Band, die klanglich in den Zwotausendern festgefahren wirkt und manchmal nicht richtig weiß, wie sehr sie in ihrem Alter überhaupt noch die düstere Gruftrockband mimen will. Die Leadsingle Try Better Next Time war für diese kleine Sinnkrise in vielerlei Hinsicht exemplarisch, da sie als Song über soziale Entschleunigung und den Klimawandel schon irgendwie versucht, an tagespolitische Diskussionspunkte anzudocken, dabei aber auch nicht mehr die Energie aufbringt, die sowas bei ihnen früher hatte und am Ende schon ein bisschen anbiedernd wirkt. Zum Glück kann ich über den Großteil des restlichen Albums aber sagen, dass es dieses Problem so gut wie gar nicht hat und zumindest in wesentlichen Punkten gewohnt überzeugend ist. Forever Chemicals drückt als Opener mit einer Mischung aus ziemlich epischer Melodieführung und einem weiteren richtig guten Text über Drogen (einer von der Sorte, die einen nachdenklich machen) direkt ordentlich auf die Tube und klingt ein bisschen wie Depeche Mode zu ihren besten Zeiten, Surrounded by Spies ist erneut ein ziemlich cooler synthbasierter Track (eine Sache die bei Placebo tatsächlich erst mit dem letzten Album Loud Like Love vor der Pause richtig zu funktionieren begann), und Twin Demons ist nicht nur eine ziemlich fetzige Indierocknummer, sondern mit seinen vielen schicken Gitarrenmotiven auch ein bisschen technisch interessant. Wenn es tatsächlich irgendeine Sache gibt, die mich auf mehr als nur einem individuellen Song nervt, sind das Brian Molkos stetig stumpfer werdende Texte, die inzwischen einfach nicht mehr den Bums und die Kante haben wie in den Neunzigern und bei denen man ihm manchmal auch echt sein Alter anhört. Abgesehen davon ist es allerdings erstaunlich, wie Placebo hier auch nach zehn Jahren Pause routiniert ihre Show abziehen und dabei weiterhin relativ unpeinlich und vertretbar bleiben. Und sicherlich ist Never Let Me Go dabei kein Album, mit dem sie viele neue Fans gewinnen werden, aber das ist an diesem Punkt wahrscheinlich eh nicht mehr die Mission. Hier geht es eher darum, den Leuten vom Anfang glaubwürdig zu vermitteln, dass man sich auf sie noch immer verlassen kann und dass es trotzdem auch 2022 nicht uninteressant mit ihnen wird. Und wenn man mich fragt, dann haben sie das hier ziemlich gut geschafft. Mal wieder.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Forever Chemicals | Happy Birthday in the Sky | Surrounded by Spies | Twin Demons | Chemtrails | Went Missing | Fix Yourself

Nicht mein Fall
Try Better Next Time | Sad White Reggae


Hat was von
Depeche Mode
Violator

Nine Inch Nails
the Downward Spiral


Dienstag, 29. März 2022

Stark wie Zwei

Bladee & Ecco2K - Crest
BLADEE & ECCO2K
Crest
YEAR0001
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ drainig | erfrischend | optimistisch ]

Ich habe inzwischen keine wirkliche Ahnung mehr, ob es jetzt eigentlich die jüngsten Entwicklungen im Hyperpop und Digicore waren, die mich mit dem Output von Bladee und dem künstlerischen Wesen der gesamten Drain Gang versöhnt haben oder ob er es war, der meine Aufwärmphase damit überhaupt erst so richtig einläutete. Letztendlich ist das aber auch egal, denn Fakt ist, dass es erst die klanglichen Metamorphosen seiner letzten zwei Alben waren, die es mir ermöglichten, mich an beide Phänomene noch ein bisschen besser heranzutasten und sie vielleicht auch erst so richtig zu verstehen. Und wo ich hier noch vor einigen Jahren als einer derjenigen auftrat, die den ganzen Hype um die ulkige Crew aus Stockholm eher misstrauisch verfolgte, habe ich mittlerweile doch einen vorsichtigen Optimismus ihnen gegenüber entwickelt, der spätestens hier auch einem ernsthaften Interesse gewichen ist. Nicht zuletzt auch in Bezug auf jemanden wie Ecco2k, dessen wichtigsten Output (insbesondere sein in Fankreisen inzwischen legendäres Debütalbum ) ich bisher ja komplett ignoriert hatte und hier aufzuholen gedenke. Denn wie der Zufall es will, gibt es gerade jetzt auch ein weiteres Kollaborationsalbum der beiden, das in vielerlei Hinsicht auch als spiritueller Nachfolger der halboffiziellen Drain Gang-Crewplatten D&G und Trash Island (in diesem Fall leider ohne die Beteiligung des dritten Hauptmitglieds Thaiboy Digital) gesehen werden kann. Und auch wenn das objektiv beurteilt sicherlich alles andere als eine neue Feststellung ist und ich diese hier nur so hervorhebe, weil ich sie hier zum ersten Mal mache: Die Zusammenarbeit dieser beiden Künstler bringt in meinen Augen das beste aus dem Kerngedanken Drain Gang heraus und schafft vor allem im Katalog von Bladee eine ästhetische Klarheit, die ich bisher noch immer darin vermisst hatte. Zwar waren mit 333 und the Fool schon seine letzten beiden Projekte mit einer zunehmenden Hinwendung zu Electronica und Hyperpop und einer damit einhergehenden Festigung songwriterischer Ideen gesegnet, die dem Schweden auch definitiv gut taten, hier merkt man aber doch nochmal den deutlichen Unterschied, den ein talentierter Producer und Soundtüftler wie Ecco2k in dieser Gleichung macht. Nicht nur dadurch, dass sie klanglichen Kanten hier an vielen Punkten deutlich klarer sind und der Mix insgesamt endlich mal etwas Tiefenschärfe zeigt, auch sind fast alle Songs hier sowohl verspielter als auch abgeschlossener und haben einen leicht zu identifizierenden eigenen Charakter. Zwar kann man dabei durchaus noch immer sagen, dass diese Musik ihre größte Stärke in einer gewissen Vibigkeit findet und über ihre knappe halbe Stunde Spielzeit herrlich rumplätschert, dass es in Yeses (Red Cross) oder Chaos Follows jetzt aus sowas wie Hooks gibt, ist aber doch etwas neues. Ganz zu schweigen von progressiven Ausflügen wie dem fast neunminütigen und mehrteilig-verschachtelten 5 Star Crest (4 Vattenrum), das in seiner gesamten Art und Weise schon fast psychedelisch ist. Obwohl also meine Erwartungen an diese beiden Künstler für Crest schon nicht mehr die von 2020 waren, als sie mich mit jedem halbwegs geraden Beat positiv überraschten und ich inzwischen besseres gewohnt bin, hat es diese LP nicht nur geschafft, mich zu überzeugen, sondern in vielen Punkten sogar zu begeistern. Einen echten Favoriten habe ich hiermit von ihnen zwar noch immer nicht gefunden, mal wieder kann ich aber sagen, dass es ihre beste Arbeit ist. Und da das inzwischen schon zum dritten Mal passiert, ist der Trend dahin ja immerhin weiterhin erkennbar.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
5 Star Crest (4 Vattenrum) | White Meadow | Faust | Yeses (Red Cross) | Desire is A Trap | Chaos Follows | Girls Just Want to Have Fun | Heaven Sings

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Porter Robinson
Nurture

A.G. Cook
Nu Jack Swung


Sonntag, 27. März 2022

Die neue Mutante

Rosalía - Motomami
ROSALÍA
Motomami
Columbia
2022

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ atzig | experimentell | schräg ]

Gerade mal etwas mehr als fünf Jahre findet die Musik von Rosalía nun in einem größeren öffentlichen Interesse statt und wenn man dabei mal bedenkt, dass über die Hälfte davon eigentlich auch nur aus Warten auf neues Material bestand, ist es ziemlich erstaunlich, an welchem Punkt die junge Spanieren künstlerisch gesehen inzwischen schon ist. Denn sieht man sich ihre Karriere und die in dieser Zeit entstandene Diskografie aus jetziger Perspektive mal an, ist sie nicht nur eine faszinierende und ungewöhnliche Erfolgsstory für eine Volksmusikerin aus der katalonischen Provinz, sie beinhaltet auch ein künstlerisches und klangliches Wachstum, für das andere Künstler*innen sonst zehn Jahre oder länger brauchen. Schon auf ihrem Debüt von 2017 überraschte sie viele Hörer*innen als unerwartete Crossover-Hoffnung aus der eigentlich maximal uncoolen Flamenco-Nuevo-Bubble, bevor sie diese Einflüsse nur wenige Monate später auf El Mal Querer mit Elementen aus Reggaetón und R'n'B vermengte und damit endgültig ihren internationalen Durchbruch als großer Hingucker mit massig kreativer Energie schaffte. Und schaut man sich nun dreieinhalb Jahre später ihr drittes Album Motomami an, erscheinen diese schon wieder wie nicht mehr als ein notwendiger Zwischenschritt auf einem noch viel weiterem künstlerischen Weg, dessen nächste Etappe ihrerseits für jede Menge Überraschungen sorgt. Denn obwohl El Mal Querer sicherlich nach wie vor als größtes musikalischen Statement der Spanierin hängenbleibt, mit dem Rosalía sich ihr heutiges Standing als Kritikliebling verdiente, gibt es auf dieser neuen LP keine einzige Sekunde, die diesem Erfolg nachtrauert oder gar versucht, ihn zu reproduzieren. Viel eher erscheint die Spanierin hier ein weiteres Mal als komplett gehäutete kreative Inkarnation, die ein völlig unabhängiges künstlerisches Konzept nicht nur vorstellt, sondern es in vielen Punkten sogar so spielt, als würde sie seit etlichen Jahren nichts anderes machen. Und ein bisschen stimmt das ja auch. Nachdem El Mal Querer damals doch recht überraschend auch im Mainstream Anklang fand und nicht zuletzt auch auf der anderen Seite des Atlanik sehr erfolgreich war, nahm Rosalía sehr unmittelbar die Gunst der Stunde wahr und reihte sich als lernbegierige Quereinsteigerin auf die Erfolgsrampe des amerikanischen Latinpop und Reggaetón ein und morphte auch hier in erstaunlich kurzer Zeit zum talentierten Blickfang einer gesamten Szene. Dass ein neues Album - wann immer das auch stattfinden würde - Einflüsse daraus aufnehmen würde, erschien also durchaus logisch. Weil wir es hier aber nicht mit einer normalen Reggaetón-Künstlerin zu tun haben, der dabei nur die Quoten wichtig sind, ist Motomami auch nicht einfach nur eine Imitation dieser Stilistik, sondern in vielen Punkten eine ziemlich ambitionierte Mutation davon. Den in den letzten Jahren von Leuten wie Bad Bunny und J Balvin etablierten Sound zerrt sie hier mit Kabelbinder gefesselt an den Seziertisch und hat im Hinblick aufs Ergebnis auch kein Interesse daran, in irgendeiner Weise kommerziell oder playlistfreundlich zu klingen, sondern eher genau diese Eigenschaften ihrer Musik möglichst radikal auszuhebeln. Und wo sie vorher auch durchaus schonmal progressiv und extrovertiert sein konnte, kann man hier zum ersten Mal sagen, dass sie effektiv experimentell klingt. Wie sonst soll sollte man Sachen wie das klangkunstige Cuuuuuuuuuute, das skelletale Bulerías oder Skits wie Abcdefg oder das Titelstück bezeichnen? Das hier geht weit über ein bisschen Entrücktheit und coole Artsiness hinaus, das hier ist gelinde gesagt sogar ganz schön schräg. Und wenn wir hier mal über Genres reden, ist Rosalía hier dem apokalyptischen Industrial einer Arca teilweise näher als dem landläufigen Entwurf von Reggaetón, den sie davor lange machte. Wobei die Frage, ob das alles jetzt eine gute Entscheidung war, sich eigentlich erübrigt. Denn obwohl ich auf der einen Seite definitiv sagen würde, dass Motomami nicht jedes Experiment zu hundert Prozent gelingt und auch nicht alle Songs hier total der Hammer sind, ist es doch definitiv ihr bisher packendstes und faszinierendstes Werk und für mich persönlich der letzte Beweis, dass diese Künstlerin etwas sehr besonderes macht. Zumal es hier trotz aller Kante und oberflächlichen Unzugänglichkeit extrem viele großartige Einzeltracks wie Saoko, Como Un G oder La Combi Versace gibt, die auch unabhängig vom Gesamtwerk funktionieren und nochmal auf eine ganz andere Ebene zeigen, was diese Frau kann. Und obwohl ich hier nach El Mal Querer zum zweiten Mal ein Album vor mir habe, das punktemäßig vielleicht nicht zu meinen großen Favoriten zählt und dem das letzte bisschen Überzeugungskraft am Ende doch fehlt, wächst meine Faszination für Rosalía hier nur noch weiter ins Unermessliche und ein bisschen wird es mir auch langsam egal, ob es nicht vielleicht doch noch irgendwann das eine große Album von ihr gibt. Denn klar hätte ich das gerne noch gehabt und Motomami rückt meiner Erwartung daran auf jeden Fall nochmal näher, doch braucht es diesen letzten Beweis für mich eigentlich nicht mehr. Denn dass sie visionär ist, dass sie tolle Songs schreibt und damit ihr Potenzial hinreichend erfüllt, weiß ich inzwischen auch so. Und ich will diese Phase ihrer Karriere doch lieber genießen, als über strukturelle Details zu meckern.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11

Persönliche Höhepunkte
Saoko | Candy | Bulerías | Chicken Teriyaki | Bizcochito | G3 N15 | Motomami | Delirio de Grandeza | Cuuuuuuuuuute | Como Un G | Abcdefg | La Combi Versace

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Arca
KICK ii

Bad Bunny
YHLQMDLG