Donnerstag, 16. Dezember 2021

Die kybernetischen Testamente

Arca - KICK ii
Arca - KicK iii

Arca - kick iiii

ARCA
Kick II-IIIII
XL Recordings
2021
 
[ chaotisch | herausfordernd | stolz ]
 
Arca - kiCK iiiii
 
Ich will an dieser Stelle nicht direkt die beleidigte Leberwurst spielen und sagen, dass ich mir das ganze ja schon so gedacht hatte, aber ich will es zumindest etwas entschärft formulieren: Geht es nach mir, dann hätte es für die Veröffentlichung von vier neuen Arca-Alben einen Zeitpunkt gegeben, an dem ich sicherlich euphorischer reagiert und vielleicht sogar Vorfreude empfunden hätte. Einen Zeitpunkt irgendwann vor fünf Jahren, als Alejandra Ghersi für meine Begriffe auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität war und Platten machte, die mein Verständnis von und meine Begeisterung an elektonischer Experimentalmusik in neue Dimensionen pushten. 2021 jedoch ist das nach mehreren schwierigen, mittelmäßigen und nicht selten enttäuschenden Releases von ihr nicht mehr wirklich der Fall. Zumindest wenn man mich fragt. Denn objektiv gesehen gibt es für eine solche Aktion eigentlich keinen besseren Zeitpunkt als den jetzigen. Nach ihrem Outing im Jahr 2018 und dem letzten Album KiCk i aus der vergangenen Saison, das von den inneren und äußeren Kämpfen ihrer Nonbinarität handelte, hatte man das Gefühl, dass Ghersi ihre Indentität auch ins Zentrum ihrer Kunst stellen wollte und viel darüber zu sagen hatte. So viel, dass im Zuge der letzten zwei Jahre gute zweieinhalb Stunden an Material zusammengetragen wurden, die sie nun als jene umfangreichen Sequels präsentiert, die wir hier vor uns haben. Und wo KiCk i dabei noch irgendwie die Platte war, die einen Konflikt und eine Krise beschrieb (häufig auch in Zusammenhang mit den politischen Krisen in ihrem Heimatland Venezuela), fühlen sich die Teile zwei bis fünf nun viel eher an wie die glorreiche Paraderunde der Transfrau Arca, die ihr dasein als solche stolz zelebriert und in ihrer Kunst zementiert. Um das zu verdeutlichen hilft bei diesen vier Alben schon ein Blick auf die fantastischen Artworks, die das Konzept der ersten Platte thematisch fortführen, dabei aber nicht nur eine Veränderung zeigen, sondern ein im wahrsten Sinne körperliches Wachstum, das sie spätestens auf den Covern der letzten beiden Alben als apokalyptische Cyborg-Imperatorin zeigt, die ganz in sich selbst aufgegangen ist. Und wie gerade diese Ideen umgesetzt werden, finde ich nicht nur visuell cool, sondern vor allem als einen verdienten Triumph für Arca, der unabhängig von allen künstlerischen Umsetzungen richtig und wichtig ist. Wobei ich letzteres vor allem deshalb auch extra betone, weil es an diesem Punkt wieder mal schwierig wird. Denn erneut muss ich an diese Stelle letztlich doch über ein Projekt dieser Musikerin reden, das ich ziemlich durchwachsen und im großen und ganzen eher unbefriedigend finde. Und um einen offensichtlichen Diskussionspunkt gleich zuvor nochmal explizit zu klären: für mich fühlt sich das hier trotz seiner Verteilung über mehrere Einzelplatten am Ende sehr an wie ein einziges großes Werk, dem streng genommen auch der erste Teil noch zugerechnet werden muss. Innerhalb dieser verschiedenen Parts gibt es dann zwar auch unterschiedliche Ausprägungen bestimmter Sounds und Stimmungen, die aber zum einen eher marginal sind und zum zweiten einen relativ fassbaren Spannungsbogen darstellen, der alle Teile irgendwie durchzieht. Es hilft dabei auch durchaus, dass Arcas Musik von vornherein ziemlich abstrakt und formfrei ist und dadurch viel Raum für individuelle Deutungsweisen ermöglicht, nicht immer ist das aber ein klanglicher Vorteil. Denn um direkt mal ein Problem des Projekts anzusprechen: Es fehlt ihm an den meisten Stellen einfach der kompositorische Charakter und ein wirklich klarer Kerngedacke. Die Anfangs- und Endpunkte des jeweils ersten und letzten Albums leisten zwar ganz gute Arbeit darin, sowas zumindest anzudenken (KICK ii mit ein paar Reggaeton-ispirierten Tracks, kiCK iiiii mit seinem fast ASMR-mäßigen Soundkonzept), auf den beiden Platten dazwischen fehlt er jedoch komplett. Wobei das nicht zwingend heißt, dass die Songs darauf die schlechteren sind. Auf so gut wie allen vier Teilen der Serie gibt es starke Einzeltracks wie Ripples, Alien Inside oder Señorita, lediglich der letzte Teil gerät mir mit seiner überraschend stillen und bedächtigen Aura doch durchweg etwas zu lahm. Und wenn es nach der Schlagkraft des Songwritings geht, wird auch keine der Platten je wieder so gut wie der Anfang von KICK ii, in dem es mit Prada, Rakata und Born Yesterday tatsächlich nochmal sowas ähnliches wie einprägungswürdige Komposition gibt. Was im restlichen Verlauf der Alben als bemerkenswert hervorsticht, sind eher punktuelle Highlights des animalisch-grotesken Fleischermesser-Sounds, der inzwischen zu Arcas wichtigstem Markenzeichen geworden ist und dabei eher durch ihren coolen klanglichen Aufbau oder performative Spitzen außergewöhnlich. Daneben existiert aber leider auch jede Menge unnötiges Füllmaterial sowie einige wenige echte Klogriffe, die aber gar nicht mal so dramatisch sind. Viel eher finde ich es bedauernswert, dass über extrem lange Strecken keine echte Bewegung in diese Kompositorik kommt. Wobei das ehrlich gesagt auch schon ein Fortschritt im Vergleich zu KiCk i ist, das an vielen Stellen alles gleichzeitig machen wollte. Und noch einen weiteren Fortschritt gibt es zum Vorgänger: Arca lässt ihren Sound nicht mehr von Anderen vereinnahmen und gestaltet Features hier um einiges stilvoller als im ersten Teil. Die Beiträge von Planningtorock und Shirley Manson (was macht die denn hier?) auf kick iiii fügen sich wunderbar in die Ästhetik der jeweiligen Tracks ein und der Gastbeitrag von Sia in Born Yesterday resultiert für mich sogar im sicherlich besten Arca-Song seit ihrem selbstbetitelten Album von 2017. Trotzdem: Selbst in seinen am meisten gelungenen Momenten schafft es die Künstlerin auf den vier Platten nur selten, über einen ziemlich okayen Eindruck hinauszuwachsen, was schade ist, denn in Sachen Sound und Produktion ist vieles an diesen vier Alben ein weiteres Mal ziemlich bemerkenswert. Nur wird es eben nicht geschafft, das ganze auch entsprechend in Form zu pressen und so ansprechend zu präsentieren, das ich von mehr begeistert wäre als von der theoretischen Idee. Und ich wiederhole mich an dieser Stelle nur selbst wenn ich sage, dass Arca sowas eigentlich schon mal besser konnte. Am Ende des Tages ist das Gesamtpaket Kick für mich allerdings kein wirklicher Totalausfall und im Falle dieser letzten vier Platten noch nichtmal wirklich enttäuschend. Nach dem ersten Teil im letzten Jahr hatte ich mit sowas in der Art ja irgendwie gerechnet und wenn mich irgendetwas daran wurmt, dann dass der neue Style dieser Künstlerin sich mir nicht so erfolgreich übersetzt wie anscheinend vielen Anderen da draußen. Denn doof finden will ich Arca auf keinen Fall, dafür ist mir ihre ganze Herangehensweise schlichtweg zu sympathisch. Nur hält die Musik da inzwischen schon seit einer Weile nicht mehr ganz so mit wie ich mir das Wünsche und Kick baut dieser Mittelmäßigkeit leider ein sehr überdimensioniertes Monument. Ein Monument von dem ich im Augenblick nur hoffe, dass es keinen zu langen Schatten auf Arcas Vergangenheit und Zukunft als Musikerin wirft. Denn der Wunsch, eine bessere Version ihrer Ideen zu hören, ist hiermit eigentlich nur noch größer geworden.


KICK ii
🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Doña | Prada | Rakata | Tiro | Araña | Muñecas | Confianza | Born Yesterday
 
Nicht  mein Fall
-
 
 
KicK iii
🔴🔴🔴🟠🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 06/11
 
Persönliche Höhepunkte
Incendio | Frera | Ripples | Señorita
 
Nicht mein Fall
Elektra Rex | Intimate Flesh
 
 
kick iiii
🔴🔴🔴🟠🟠⚫⚫⚫⚫⚫⚫ 05/11
 
Persönliche Höhepunkte
Whoresong | Alien Inside | Lost Woman Found
 
Nicht mein Fall
Witch | Boquiflora
 
 
kiCK iiiii
🔴🔴🔴🟠🟠⚫⚫⚫⚫⚫⚫ 05/11
 
Persönliche Höhepunkte
Ether | Tierno
 
Nicht mein Fall
Chiquito | Múscules | Crown
 
 
Hat was von
Holly Herndon
Proto
 
Aphex Twin
Come to Daddy
 
 

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