Mittwoch, 12. April 2017

Far Out

Gerade mal 27 Jahre ist der venezuelanische Produzent Alejandro Ghersi alias Arca alt, doch eigentlich hat er künstlerisch schon so ziemlich alles erreicht, was man mit seiner Art von Musik so erreichen kann. Seine beiden bisher veröffentlichten Platten Xen und Mutant wurden von der Blogosphere einschlägig gefeiert, sein allerersten Konzert spielte er im Berghain und nebenbei wirkte er maßgeblich an Alben von Björk und Kanye West mit. Die Frage, ob es für ihn also überhaupt noch etwas im Business zu holen gibt, ist also berechtigt. Und wahrscheinlich hat sich Ghersi diese Frage in den letzten Jahren auch gestellt. Ein weiterer Longplayer im Stil seiner letzten beiden Werke wäre diesmal ganz sicher anstrengend geworden und Arca ist auch niemand, der künstlerisch lange an einer Stelle verharrt. Und nachdem er inzwischen eh schon mehr oder weniger für den Rest der Welt definiert hat, wie moderne experimentalelektronische Musik zu klingen hat, kann er sich eigentlich auch alles erlauben. Was er mit seinem dritten, selbstbetitelten Album auch tut. Diese Platte ist im Prinzip nicht weniger als eine umfangreiche Erweiterung von allem, wofür der Name Arca bis dato stand. Statt wüster elektronischer Kaskaden und Industrial-Noise-Gehämmer gibt es hier eine Dreiviertelstunde lang wesentlich vorsichtigere Klänge und unterdrückten Exzess. Was allerdings nicht bedeutet, dass diese Songs hier irgendwie gemütlich sind. Tatsächlich klingen Tracks wie Anoche oder Sin Rumbo teilweise noch gequälter und tragischer als sein bisheriger Output und ein schwerer Pelz legt sich über das Hörerlebnis. An den meisten Stellen hat die Platte die Wirkung eines richtig fiesen Katers nach drei Tagen Afterhour mit dem vollen Programm an dazugehörigen Substanzen. Um diese Wirkung zu erreichen, bricht Ghersi auch häufig aus seinem rein elektonischen Schema aus. Die Melodien hier (wenn man sie so nennen kann) erinnern dunkel an mittelalterliche Gregorianik und dass Arca dazu erstmals umfangreiche Gesangsparts beisteuert, die eine sehr ähnliche Ästhetik aufweisen, verstärkt diesen Effekt noch. Gepaart mit dem üblichen Staccato-Beat und Industrial-Gehecksel ergibt das eine höchst surreale Mischung. Für bestimmte Teile würde ich sogar den Begriff Neo-Klassik strapazieren. Und wo mich das am Anfang doch ganz schön schockte und ich mich fragte, ob das jetzt gut gehen wird, war ich spätestens nach den ersten beiden Stücken begeistert von der Rezeptur. Es hilft natürlich auch, dass im Mittelteil, bei Songs wie Reverie und Castration, wieder ein bisschen der alte Arca durchschimmert. Doch der eigentliche Clou ist, wie Ghersi hier Kontraste aufbaut. Einer der ergreifendsten Momente der Platte ist, wenn das pumpende und stechende Castration in das düstere Fast-Acapella-Experiment Sin Rumbo übergeht und Ghersis Stimme einem schon ein bisschen eine Gänsehaut verpasst. Wobei es wiederum auch Stellen gibt, an denen dieses Konzept nicht so richtig funktioniert: Coraje beispielsweise versucht an anderer Stelle dasselbe Prozedere und reißt damit ein dickes Loch in die Tracklist, das mit viereinhalb Minuten auch relativ lange bleibt. Solche immensen Schwächen gab es bisher auf keinem der vorherigen Arca-Alben. Dafür gibt es auch eine ganze Reihe an kleinen Überraschungen hier: Das sehr wörtlich zu nehmende Whip dürfte bei vielen Hörer*innen ein kleines Schmunzeln hervorzaubern (auch nicht unbedingt normal bei dieser Art von Musik) und mit Desafío macht Ghersi erstmals so etwas wie einen Popsong. Auch diese Versuche laufen nicht immer perfekt ab, doch man kann sie durchaus sympathisch finden. Überhaupt ist die etwas lockere Ästhetik dieses Albums etwas, dass ich konzeptuell gar nicht so übel finde. Arca ist vielleicht weniger durchgeplant und in sich geschlossen als seine Vorgänger, doch zeigt dafür nicht nur Nuancen einer einzigen Idee, sondern eine ganze Menge sehr kontrastreiche Ansätze. Und man merkt irgendwie, dass jemand Spaß daran hatte, diese Musik zu machen. Künstlerisch ist diese Platte vielleicht die bisher schwächste des Venezuelaners, doch was daraus entstehen könnte, ist schon jetzt faszinierend. Damit dürfte der Output von Arca auch die nächsten fünf Jahre noch unterhaltsam sein.





Persönliche Highlights: Saunter / Urchin / Reverie / Castration / Sin Rumbo / Whip / Miel / Child

Nicht mein Fall: Coraje

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