Freitag, 14. April 2017

Yallah! Yallah!

Eigentlich sind Oiseaux-Tempête eine Band, die man beneiden muss. Das musikalische Projekt der beiden Franzosen Stéphane Pigneul und Frédéric Oberland reist seit Jahren durch die ganze Welt, um mit diversen sehr talentierten Gastmusikern überall gemeinsam zu musizieren und diese Arbeiten dann in ausgefallenen, gigantoesken Instrumental-Opern zu verbauen, die bereits seit einer ganzen Weile eine stetig wachsende Fanbase begeistern. Bereits mit ihrem selbstbetitelten Debüt von 2013 legte das Duo aus Paris ein bewundernswertes Referenzwerk vor, das sich klanglich mit der Währungskrise und dem Zerfall der europäischen Union befasste und schon damals zog man aus gutem Grund schnell Parallelen zu den legendären Platten von Godspeed You! Black Emperor. Allerdings waren diese Siebenmeilenschritte mehr oder weniger erst die Gehversuche der beiden. Denn als zwei Jahre später ihr Nachfolger Ütopiya? erschien, für den die Band nach Sizilien reiste, wurde klar, womit man es hier zu tun hatte: Das eineinhalbstundige Album war ein Opus Magnum zwischen Postrock, Jazz, Noise und Experimentalmusik, auf dem erstmals großzügige Features eingebunden wurden und mit dem Oiseaux-Tempête endgültig zu einer der wichtigsten Kräfte des europäischen Instrumentalrock aufstiegen (zumindest, wenn man mich fragt). Und als im Dezember 2016 ihr dritter Longplayer angekündigt wurde, war ich endgültig total von den Socken. Diesmal hatte es Pigneul und Oberland nach ins libanesische Beirut gezogen, wo sie mit einer halben Armee an Instrumentalist*innen und Songwriter*innen jammten. Al-'An war von der ersten Sekunde an vielleicht die Platte, die ich für diese Saison mit der größten Spannung erwartete. Jetzt, da das Ergebnis da ist, muss ich sagen, dass diese Erwartungen nicht enttäuscht wurden. Denn auf den zwölf Tracks bewegt sich das Kollektiv stilistisch so sicher wie nie zuvor. Der prägende Sound, der auf den ersten beiden Alben entwickelt wurde, ist mittlerweile etabliert und kann hier in diverse Richtungen manövriert werden. Folglich schreiben Oiseaux-Tempête hier Stücke, die sich erstmals so richtig nach Songs anhören und wissen, was sie tun. Man darf das nicht falsch verstehen, auf den beiden Vorgängern war gerade das Ausprobieren verschiedener Ästhetiken wahnsinnig spannend und sorgte für eine immense Vielfalt, doch das ganze jetzt gefestigt zu hören, ist ebenfalls ein Hochgenuss. Zunächst fand ich es zwar ein bisschen schade, dass Al-'An dadurch insgesamt ruhiger klingt, doch der tatsächlichen Qualität der Musik tut dies keinen Abbruch. Ich würde dieses Album sogar als das beste empfinden, um in die Diskografie der Franzosen zu starten, da es deutlich unkomplizierter und direkter ist als seine Vorgänger. Songs wie das rockige Baalshamin oder das fast soulige Carnaval sind fast so etwas wie catchy und die vielen orientalischen Elemente dürften Fans von Bands wie Esmerine oder Melt Yourself Down zusagen. Aber auch Freunde von Experimenten kommen hier auf ihre Kosten: In vielen Momenten gibt es hier weiter die schon auf Ütopiya? großartigen Field-Recording-Ausflüge, die hier sogar noch ein bisschen besser sind und im fast zwanzigminütigen Kernstück Through the Speech of Stars hört man einmal mehr die erleuchtenden Worte des Spoken-Word-Künstlers G.W. Sok, in den sich viele schon beim letzten Mal verliebt hatten. Ein besonderes Lob muss ich persönlich für den von Pigneul gespielten Bass loswerden, der einem Großteil der Tracks eine warme, groovige Basis verschafft, ohne die wahrscheinlich vieles nicht so fantastisch klingen würde. Überhaupt ist Al-'An eher eine Platte, die von den Zwischentönen lebt als von den großen Ausbrüchen, die hier nur selten stattfinden. Dadurch, dass sie diese aber so gut meistert, steht sie den bisherigen Arbeiten von Oiseaux-Tempête in nichts nach und wird wahrscheinlich vielen sogar besser gefallen. Und obwohl mein Favorit höchstwahrscheinlich trotzdem Ütopiya? bleiben wird, erlebt die grandiose Erfolgsstory dieser Band hier auch in meinen Augen eine weitere neue Dimension, die wir noch nicht kannten. Dass diese beiden Musiker zu den wichtigsten Kräften der experimentellen Rockmusik in diesem Jahrzehnt gehören, bestätigt sich für mich ebenfalls weiterhin. Wer hintereinander drei dermaßen gelungene und wegweisende Konzeptalben fabriziert, muss irgendetwas richtig machen. Es ist deshalb schade, dass Oiseux-Tempête noch immer ein ziemliches Nischenphänomen sind. Zwar hat sich mit dieser Platte schon sehr viel getan und auch auf der anderen Seite des Atlantik sind die Leute auf die Franzosen aufmerksam geworden, doch diese Aufmerksamkeit steht noch immer in keinem Verhältnis zur Qualität, die die beiden regelmäßig abliefern. Wahrscheinlich sind Godspeed dafür selber immer noch zu gut.





Persönliche Highlights: Notes From the Mediterranean Sea / Bab Sharqi / Feu Aux Frontières / Baalshamin / Our Mind is A Sponge, Our Heart is A Stream / I Don't Know, What or Why / Ya Layl, Ya 3aynaki (Ô Nuit, Ô Tes Yeux!) / Carnaval / Through the Speech of Stars / A L'Aube

Nicht mein Fall: Electrique Résistance

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