Freitag, 26. Mai 2023

Die Wochenschau (20.5.-26.5.): the Smashing Pumpkins, Fred again.. & Brian Eno, IDK und und und...

 
 
 
 
 
 
FRED AGAIN.. & BRIAN ENO
Secret Life
Text Records
 
 
Freddy Gibson aka Fred again.. hat seine in den letzten Jahren mit viralen Singles erarbeitete Plattform in der bisherigen Saison auf jeden Fall effizient genutzt, um vom angesagten Producer, der er Ende 2022 noch war, zu jedandem zu weden, den man durchaus als Popstar bezeichnen kann. Wobei vor allem geschickt platzierte Kollaborationen ein wichtiger Teil dieser Erfolgsformel waren und immer wieder Aktionen sind, mit denen der Brite überrascht. Es ist dabei aber die eine Sache, dass er als magisches Live-Dreieck mit Four Tet und Skrillex gerade zum Shooting Star des Festivalsommers wird, das lässig einen Frank Ocean von der Hauptbühne des Coachella kegelt und eine völlig andere, dass er sich für sein neuestes Album ausgerechnet Ambient-Papst und lebende Legende Brian Eno dazuholt. Dabei ist sicherlich auch dieser an sich kein Neuling in Sachen Kollaborationen, allerdings umgibt er sich normalerweise schon lieber mit illustren Artpop- und IDM-Künstler*innen wie Jon Hopkins oder Laurie Anderson als mit feiertauglichen House-DJs. Und so sehr ich mir anhand dieser ungewöhnlichen Paarung (und der Tatsache, dass ich die Musik von beiden grundsätzlich mag) auch eine gelungene Zusammenarbeit gewünscht hatte, so wenig überraschend ist es am Ende auch, dass Secret Life ziemlicher Kram geworden ist. Dominiert von Enos typischem Ambient-Entwurf und leisetreteisch-schwerfälligen Klangwolken hat Fred hier von vornherein wenig zu melden, was aber auch egal ist, weil das Songwriting trotzdem durchweg stumpf, inkompetent und schnarchig wirkt. Vom peinlichen Craiyon-Artwork bishin zur klinisch toten Produktion fehlt diesem Album so gut wie jegliche Kreativität und ist für mich mal wieder der Beweis dafür, dass nicht jede ungewöhnliche Paarung von Künstler*innen auch entsprechend ungewöhnliche Musik zutage fördert.

🔴🔴🔴🟠⚫⚫⚫⚫ 04/11






The Smashing Pumpkins - ATUMTHE SMASHING PUMPKINS
ATUM: A Rock Opera in Three Acts
Martha's Music | Sumerian

Eigentlich hatte Billy Corgan mit der neuesten Inkarnation der Smashing Pumpkins ja bis hierhin viel richtig gemacht: Die dritte (oder vierte?) Reunion der Band im Jahr 2017 holte erstmals seit einer Dekade fast die komplette Originalbesetzung aus den Neunzigern zurück, man backte auf dem ersten gemeinsamen Album Shiny and Oh So Bright Vol. 1 vorsichtshalber kleine Brötchen, die auch ein bisschen tumbe Nostalgie zuließen und nutzte das zweite davon dann für einen experimentellen Exkurs in Richtung Synthpop und New Wave. Vorsichtig optimistisch konnte man zuletzt also durchaus sein, auch wenn man als leidgeprüfter Fan natürlich immer den nächsten Anfall von Hybris an der nächsten Ecke witterte, der in Form von ATUM jetzt auch ganz unmissverständlich gekommen ist. Nicht nur in der Hinsicht, dass wir es hier mit einer dreiaktigen Rockoper von über zwei Stunden Länge zu tun haben, die separat über die letzten paar Monate erschienen, sondern vor allem dadurch, dass Corgan das hier als Finale einer scheinbar spontan aus dem Hut gezauberten Album-Trilogie sieht, deren erste Teile anscheinend Mellon Collie & the Infinite Sadness und die beiden Machina-Teile von der Jahrtausendwende sein sollen. Ja nun. Aber selbst wenn man diese 33 Songs hier nur für sich nimmt und den ganzen konzeptuellen Schnickschnack mal weglässt (der in meinen Augen eh nur existiert, um dem ganzen Bums irgendeine Bedeutung anzuheften), werden die Fragezeichen nicht weniger. Denn nachdem die Pumpkins auf den letzten beiden Platten ja eigentlich zeigten, dass ihr Sound auch in der vierten Dekade ihrer Existenz unpeinlich funktionieren kann, lassen sie hier nur Bruchstücke dieser Ästhetik übrig und bringen stattdessen die proggigen Vibes ihrer unsäglichen Mitte-Zwotausendzehner-Phase zurück, die ich eigentlich überwunden gehofft hatte. Und wo dieser nerdige Artrock-Entwurf an sich schon irgendwie zum Medium der Rockoper passen würde, verpassen die Pumpkins trotzdem so gut wie jede Chance, diesen auch irgendwie groß und operatisch klingen zu lassen. Viel eher stapelt Corgan einfach wieder massenhaft Songs mit durchwachsenem Songwriting und fragwürdigen Produktionsentscheidungen aneinander, von denen am Ende kaum einer wirklich heraussticht und viele klingen wie aufgehübschtes B-Seiten-Material. Geschenkt, dass er dann alle Nase lang mal ein verheißungsvolles "zero" ins Mikro plärrt und ein komprimiertes Hardrock-Riff in den Äther schreddert. Das alles funktionierte auf den letzten beiden Platten wesentlich besser, weil die eben wussten, wie man Ideen ordentlich kuratiert. Hier indes gehen die wenigen starken Songs unter, weil es drumherum so viel Überfluss gibt. Und leider Gottes ist das an dieser Stelle mal wieder typisch für jemanden wie Corgan, der sich am Ende eben doch nicht geändert hat und wieder und wieder dem sinnlosen Größenwahn verfällt. So sehr man auch hoffte, man hätte das jetzt endgültig hinter sich.

🔴🔴🔴🟠🟠⚫⚫⚫⚫ 05/11





IDK - F65IDK
F65
Warner

Sportmetaphern sind im Rap ja an sich nichts neues und zwischen zehn Dutzend x-beliebigen Basketball-, Football- oder Box-Punchlines auch eine der Sachen in der Szene, die gerne mal etwas ausgelutscht rüberkommt. IDK scheint sich dieser Sache bewusst zu sein und macht mit F65 jetzt ein Album, das sich als inhaltliche Unterspannung ein recht willkürliches Formel 1-Motiv zurechtbaut, dem man zumindest zugestehen muss, dass es irgendwie neu ist. Zumindest so lange, wie man darüber hinwegsieht, dass es zu mehr als eingestreuten Sprachsamples, Interludes und ein bisschen Automarken-Namedropping nicht reicht. Ganz davon abgesehen, dass der Kalifornier sich am Ende trotzdem wieder mit Dwayne Johnson vergleicht, der - nur zur Erinnerung - Wrestler und kein Rennfahrer ist. Und leider Gottes beginnen an dieser Stelle erst die Unstimmigkeiten, die diese LP davon abhalten, ein wirklich durchdachtes Werkstück zu sein. So mag ich beispielweise die Entscheidung, viele Instrumentals eher jazzrappig zu gestalten, was zum Narrativ vieler Songs aber so überhaupt nicht passt. Abgesehen davon, dass es IDK in insgesamt 22 Tracks nicht gelingt, mich mit einem davon wirklich festzunageln und ein erinnerungswürdiges Gesamtkonzept zu präsentieren. Ein schlechtes Album ist F65 bei alledem nicht und die Elemente an sich stimmen, nur fehlt der Platte an vielen Stellen leider völlig der Fokus und die meisten Ideen fühlen sich sehr unausgegoren an. Was echt schade ist, weil dieser Typ immerhin schon eines der stärksten Hiphop-Alben der beginnenden Zwotausendzwanziger gemacht hat.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11




KRALLICE
Porous Resonance Abyss
Die-Ai-Wei

Krallice - Porous Resonance AbyssDefinitiv die vielseitigste LP von der New Yorker Black Metal-Untergründler seit etlichen Jahren, die komplett instrumental und mit diversen stilistischen Anleihen echt nochmal etwas neues von dieser routinierten Arbeitsband ist. Da klingen einige Stellen postpunkig, andere progrockig und über fast allem liegt in fast jedem Moment ein Schleier verhauchter Synthflächen, der dem ganzen eine durchweg atmosphärische Note verleiht. Wobei einige dieser Momente, besonders im zwanzigmünitigen Closer, definitiv in Richtung Berliner Schule und Siebziger-Protosynth abkippen. Wer sich vielleicht an das geniale Album Celestite von Wolves in the Throne Room erinnert, könnte dabei vielleicht einige Ideen wiederfinden, nur dass Krallice dafür nicht dem Black Metal den Rücken kehren müssen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11




Abyssal / Ellorsith - Sepulchorporeal / AmoreABYSSAL / ELLORSITH
Selpuchorporeal / Amore
Dark Descent


Das erste Mal seit Jahren, dass ich hier eine Split-LP bespreche, was grundsätzlich schon mal ein gutes Zeichen ist, weil ich das für gewöhnlich auch wirklich nur bei Platten mache, die strukturell über die pragmatische Zwei-Fliegen-mit-einer-Klappe-Idee einer solchen Unternehmung hinausgehen. Und im Fall von Abyssal und Ellorsith könnte man das als bewusste Entscheidung oder glücklichen Zufall abtun. Denn mit ihrer Stilistik in der Grauzone zwischen Black- und Death Metal, die beide auf sehr ähnliche Weise beackern, passen sie vom Setting her einfach richtig gut zusammen. So gut, dass die beiden Seiten dieser LP an vielen Stellen klingen wie von einer Band, was in diesem Fall definitiv positiv gemeint ist. Der Sound ist dabei durchgehend erdrückend und düster, was vor allem die infernalischen Vocals bei beiden Gruppen nochmal effektvoll unterstreichen und obwohl Selpurchorporeal / Amore am Ende des Tages auch nicht mehr ist als eine sehr kompetent gemachte Metal-Split, kann ich doch auch nichts schlechtes über sie sagen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11



Asher Gamedze - Turbulence and PulseASHER GAMEDZE
Turbulence & Pulse
International Anthem


Schon auf seinem Debütalbum von 2020 beeindruckte mich der Südafrikaner Asher Gamedze mit seinem sehr verkopften und bisweilen theoretisch verwobenen Nerd-Ansatz an das Thema Free Jazz und wenn man das auch mochte, dann kann man Turbulence & Pulse als inhaltliches und ästhetisches Sequel davon verstehen. Wieder fühlt sich die Platte an wie eine praktische Doktorarbeit mit den Mitteln des Jazz, bei der es diesmal vor allem über eine tief metaphysische Auseinandersetzung mit Zeit geht, die Gamedze im Opener der LP auch als eine Art Forschungsfrage erklärt. Was danach folgt ist größtenteils instrumentaler Free Jazz, der dieser These folgend sicherlich irgendeine experimentelle Beweisführung ergibt, deren Verständnis aber wie schon beim letzten Mal nicht den Genuss des Produkts ausmacht. Viel eher erleben wir hier eine weitere Portion stark gemachter, sprirituell und kompositorisch entgrenzter Jazzmusik, die auch ohne den ganzen theoretischen Überbau Spaß macht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11





Samstag, 20. Mai 2023

Die Wochenschau (05.05.-19.05.2023): Jack Harlow, Ed Sheeran, Flume, Laibach und und und...


 
 
 
 
 
 
 
Laibach - Sketches of the Red DistrictsLAIBACH
Sketches of the Red Districts
Mute

Sketches of the Red Districts ist wahrscheinlich das erste reinkulturelle Industrial-Album von Laibach seit den Achtzigern und wie alles bei dieser Band ist das natürlich kein Zufall. Denn thematisch geht es hier vor allem um eine Art Geschichte der Arbeiterklasse in ihrer jugoslawischen Heimat, gezeichnet von faschistischen Aufständen in den 1920ern bis zur Bandgründung 1980. Doch auch wenn mich vor allem die konzeptuelle Seite der LP anspricht und das ganze klanglich auch cool umgesetzt ist (vor allem in Form düsterer Ambient-Flächen mit klobig-mechanischer Klangästhetik), fehlt mir an vielen Stellen doch der Kontaktpunkt von Form und Inhalt bei der ganzen Sache. Eine Verbindung, die eine so perfekt durchgestylte Formation wie Laibach sonst eigentlich immer auf den Punkt bringt. Das ändert nichts daran, dass ich das hier rein musikalisch als gutes Projekt empfinde, es macht aber aus der Platte mit dem meisten Potenzial seit Jahren bei dieser Band eine weitere, die eher so okay ist.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11





Jack Harlow - Jackman.JACK HARLOW
Jackman.
Generation Now


Die ganze Nummer geht zwar nur knackige 24 Minuten, trotzdem ist Jackman. in meinen Augen das bisher stärkste Album von Jack Harlow und das mit einigem Abstand. Soll heißen, dass er sich hiermit das erste Mal seit seinem Durchbruch 2020 von einer gewissen Mittelmäßigkeit befreit und eine Platte macht, die ich ernsthaft als gut bezeichnen würde. Sicher, an manchen Stellen ist seine Attitüde noch immer etwas pretenziös und der komische Logic-Beigeschmack bleibt nach wie vor oft haften, gerade lyrisch hat Harlow hier aber genügend starke Momente, um mir zu zeigen, dass es auch anders geht als zuletzt. Besonders It Can't Be und Denver, die sich mit seiner schwierigen Rolle in der Öffentlichkeit auseinandersetzen sowie das nachdenkliche Gang Gang Gang, in dem er um finstere Erkenntnisse über einstige Weggefährten sinniert, sind ohne jede Ironie klasse und bringen mich dazu, diesem Typen erstmals eine gewisse Reife zuzusprechen. Hoffentlich eine, die er auf weiteren Projekten ausbaut und zu kultivieren vermag. Wer weiß, vielleicht wird aus ihm ja doch noch ein ernstzunehmender Rapper.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11




Mando Diao - Boblikov's Magical WorldMANDO DIAO
Boblikov's Magical World
Playground Music


Ich war zuerst geneigt, Mando Diao ob der doch etwas albernen Aufmachung ihres inzwischen elften Longplayers nicht mehr für voll zu nehmen, was ja auch irgendwo natürlich gewesen wäre. Denn schon seit etlichen Jahren Frage ich mich, mit welchem Recht die Schweden so lange nach ihrer Hochphase in den Zwotausendern nach wie vor so gute Platten machen. Und Boblikov's Magical World ist in dieser Hinsicht sogar noch unverschämter, klingt es in seinen frischen 27 Minuten doch so rockig und juvenil wie zuletzt wahrscheinlich Give Me Fire von 2009. Wider erwarten (obwohl ich es bei diesen Erfahrungswerten eigentlich erwarten sollte) ist die LP aber eine weitere ziemlich coole Platte geworden und für mich ein bisschen die Antwort darauf, wie das letzte Måneskin-Album in halbwegs okay geklungen hätte. Der Garagenrock, den Mando Diao hier spielen und der manchmal fast ein bisschen ins rock'n'rollige tendiert, ist sehr zwotausenderig, aber trotzdem in den besten Momenten fetzig und profitiert mit Björn Dixgård immer noch von seiner starken Gesangsperformance. Auch 2023 bleiben Mando Diao also eine Band, die nicht langweilig wird und bei der es mir Spaß macht, ihnen zuzuhören. Wobei ich nur hoffen kann, dass das auch in Zukunft so weitergeht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡 07/11




Flume - Things Don't Always Go the Way You Plan
Flume - Arrived Anxious, Left BoredFLUME
Things Don't Always Go the Way You Plan
Arrived Anxious, Left Bored
Future Classic | Transgressive




Dass die besten Sachen von Flume seine Mixtapes sind, wissen wir schon seit Hi, This is Flume von 2019, das damals eine meiner liebsten elektronischen Platten der Saison war. 2023 gibt es dafür gleich doppelten Nachschlag, einmal mit dem bereits im März erschienenen Things Don't Always Go the Way You Plan und einmal mit dem vor wenigen Wochen ergänzten Arrived Anxious, Left Bored. Beide sind einander dabei von der Aufmachung relativ ähnlich und erinnern auch wieder an den "Vorgänger" von 2019, einige Songskizzen reichen hier aber bis ins Jahr 2012 zurück, wodurch die LPs insgesamt fast zehn Jahre an Aufnahmen abdecken. Einzeltracks sind dabei wenige hervorzuheben, wobei einzelne Features wie das von Injury Reserve in Counting Sheep V2 oder Emile Haynie in Habibi trotzdem für ziemliche Hingucker sorgen. Und die wichtigste Gemeinsamkeit zu 2019 ist am Ende eh, dass es wieder eine seiner stärksten Unternehmungen ist, die das Zeug auf seinem letzten Studioalbum weit hinter sich lässt und wirklich zeigt, was dieser Typ auch im etwas experimentelleren Bereich auf dem Kasten hat.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11





ED SHEERAN
-
Asylum

Ed Sheeran - -Das nächste erstaunlich starke Album von Ed Sheeran, mit dem er ein bisschen zu seinen schnulzigen Wurzeln Anfang der Zwotausendzehner zurückkehrt und sein Songwriting erheblich simplifiziert. Das Minus als titelgebendes Symbol (in fortwährender Tradition seiner bisherigen Mathe-thematischen Plattentitel) macht dabei nicht nur insofern Sinn, weil er musikalisch viel vom Pop-Bombast seiner letzten Alben zurücknimmt, sondern auch, weil - in gewisser Weise ein Trennungsalbum geworden ist. Und wo das auf der einen Seite bedeutet, dass die LP fast durchweg von balladigen Sachen dominiert wird und sehr schmalzig werden kann, sind die daraus resultierenden Songs wie Curtains, Life Goes On oder Dusty doch einige der besten, die ich von ihm bisher gehört habe.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11



Mittwoch, 17. Mai 2023

Divided by Music: Der ESC-Rant 2023

 

 

Sie haben ihn uns gestohlen

Es ist ja wirklich alles ganz furchtbar schlimm gewesen mit dem ESC in diesem Jahr. Und ja, ich nehme Loreen Talhaoui das durchaus auch persönlich übel. Seit dem bitteren Ende am Samstagabend hege ich farbenreiche Rachefantasien über einen Rocky IV-artigen Revenge Ark von Käärijä, der nächstes Jahr gestählt und ungetrübt nach Stockholm zurückkehrt und den aufwändig manikürten Klauen von Loreen seine wohlverdiente Trophäe entreißt. Aber Spaß beiseite, der Verlauf des diesjährigen Finales war wirklich eine fiese Enttäuschung für Viele, die während der letzten paar Jahre Hoffnung auf einen musikalisch progressiven und diversifizierten ESC geschöpft hatten. Denn obwohl die Veranstaltung an vielen Punkten durchaus eine sehr progressive und diverse war (musikalisch wie personell), siegte am Ende eben doch der angestaubte Konsenspop und die Machtdemonstration einer Jury, die anscheinend noch im muffigen Selbstverständnis der Zwotausendzehner feststeckt. Wobei die Stereotypen der beiden ProtagonistInnen des Kopf-an-Kopf-Rennens klarer nicht hätten sein können: Auf der einen Seite die Wettbewerbslegende Loreen, Gewinnerin von 2012 mit publikumsfreundlichen Sia-Touch, diffusen Impfgegner-Vibes und EDM auf Englisch, auf der anderen Käärijä, der finnische Stromae in Pink und Magenta mit Rammstein-Tattoo und einem Song in Landessprache, der die schrillsten Träume von Electric Callboy channelt. Letzterer steht dabei in meinen Augen für den ESC, den die Zwotausendzwanziger erfunden haben: Verhältnismäßig kantig, verhältnismäßig experimentierfreudig, tendenziell queer oder zumindest queercoded und mit der Bedeutung des Mythos der Veranstaltung im Hinterkopf. So gewannen 2021 Måneskin, so gewann letztes Jahr das Kalush Orchestra (wobei hier im wesentlichen die Sympathie für die Ukraine in diesem Jahr mitspielt) und so waren Acts wie Go_A, Konstrakta, Daði Freyr oder Blind Channel zumindest extrem erfolgreich. Und auch 2023 zeigt sich anhand des Publikumsvotings wieder diese Tendenz: Neben Finnland bekamen unter anderem die abgefuckten Anarcho-Opas Let 3 aus Kraotien mehr als 100 Punkte von der Weltöffentlichkeit, von der Jury gab es nur magere 11. Wenn 2023 nach den zwei großartigen letzten Jahren also eines war, dann ein kleiner Rückstoß für den künstlerischen Fortschritt im ESC, der aber nicht übertünchen kann, was wirklich abgeht. Schon allein die angepissten Cha Cha Cha-Chöre während der Punktevergabe in Liverpool machten das irgendwie klar. Ganz zu schweigen davon, was im Nachgang des Endergebnisses auf Twitter abging. Aber so ist das eben mit dem Fortschritt: Er ist nicht immer stetig. Nachdem 2006 und 2007 mit Lordi und Marija Šerifović zwei sehr ungewöhnliche Acts gewonnen hatten, die rückblickend einen Quantensprung für den Wettbewerb bedeuteten, gab es mit Dima Bilan im Jahr darauf auch einen eher konservativen Sieger. Und auf die Freakshow von Netta 2018 folgte 2019 mit Duncan Lawrence eine muffige Schnulzballade mit Imagine Dragons-Vibe. Dass es nun mal wieder so ausgegangen ist, heißt also nicht, dass der positive Rutsch des ESC ab jetzt zu Ende ist. Und noch eine gute Nachricht hat das Ergebnis für mich: Die massive Unterstützung durch das Publikum in diesem Jahr und sein Status als Betrogener Underdog des Wettbewerbs schaffen die optimalen Möglichkeiten für eine Rückkehr von Käärijä. Und wie das im Optimalfall aussehen könnte, habe ich ja schon in der Eröffnung geschildert.
 

Der Wettbewerb an sich

Aber jetzt mal abgesehen vom Ergebnis: War 2023 ein guter ESC? In meinen Augen ist die Antwort darauf ein Ja mit Abstrichen, wobei der Teufel gerade in diesem Jahr im Detail steckte. Schön fand ich dabei vor allem Bühne und Lichtshow, die wirklich das beste aus vielen Beiträgen herausholten, sowie das in meinen Augen nicht zu unterschätzende Achievement, die Postcards der Künstler*innen (also die kleinen 30-Sekunden-Videos vor den eigentlichen Songs, die streng genommen kein Mensch braucht und die dafür viel zu aufwändig gemacht sind) nicht zur totalen Cringe-Parade zu machen (obwohl die eingespielten Lacher bei manchen Clips doch ganz schön creepy waren). Was mich hauptsächlich am Gesamtkonzept des Wettbewerbs aufregte war indes, wie sehr die ganze Show von der britischen Seite vereinnahmt wurde und der eigentliche Gastgeber Ukraine quasi nur verpflichtend repräsentiert wurde. Vielleicht hatte ich mir im Vorfeld ja falsche Hoffnungen gemacht, aber nachdem Großbritannien sich Ende letzten Jahres bereiterklärt hatte, stellvertretend für das vom Krieg geplagte Gewinnerland zu hosten, klang das erstmal eher danach, dass ein ukrainischer ESC stattfinden würde, der einfach nur außerhalb der Landesgrenzen stattfand. Was wir stattdessen bekamen war eine monumentale Tourismuskampagne für Liverpool und das Vereinigte Königreich - inklusive Charles und Camilla, aber ohne Wolodymyr Selenskyj - die die Ukraine teilweise als ziemliche Fußnote behandelte und nicht mehr als nötig (in Form von Comoderator*innen, Intermezzo-Shows und Postcards) involvierte. Moderation und Zwischensequenzen waren dabei an vielen Stellen so nervig und überflüssig wie eh und je, wobei die BBC mit ESC-Legende und Profi-Keinen-Fick-Geber Graham Norton wenigstens auf einen Trumpf setzen konnte. Soviel zumindest zu allem außerhalb der eigentlichen Musik. Denn was die anging, muss natürlich ein bisschen weiter ausgeholt werden. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass dieses Jahr das erste war, in dem ich als Fan wirklich das volle Programm von den Song-Releases über die Halbfinals bis zur großen Show mitnahm und ich sogar in ein paar Vorentscheide schnupperte. Ein Ranking der Songs hatte ich dabei bereits im März auf Rateyourmusic veröffentlicht, das sich dann auch bis zur eigentlichen ESC-Woche auch noch mehrmals veränderte. Spannend war diese ausführliche Dokumentation dabei durchaus, zumal sie die Vorfreude auf das Event wider Erwarten nicht minderte, sondern sogar steigerte. Und mit den Beiträgen von Lettland und Dänemark zwei Favoriten zu haben, die das Halbfinale nicht überstanden, sorgte vor dem bitteren Ende schon für die ersten schmerzlichen Erfahrungen. Trotzdem muss ich am Ende sagen, dass viele der eher überflüssigen Acts auch verdientermaßen nicht ins Finale durchkamen (talking to you, Griechenland, Rumänien, Malta, San Marino und Niederlande) und vieles vom besten dann am Samstag zu sehen war. Viele meiner Eindrücke veränderten sich dabei noch stark beim Übergang von den Musikvideos oder Vorentscheids-Performances hin zum Setting in Liverpool, sowohl zum positiven als auch zum negativen. So profitierte beispielsweise Monika Linkytė aus Litauen ganz immens von ihrer Natürlichkeit als Sängerin im Vergleich zur Konserve, während Reiley aus Dänemark wahrscheinlich auch deshalb früher rausflog, weil er live schwächelte. Favoriten meinerseits waren am Ende des Finales dann erwartbare Kandidaten wie Joker Out aus Slowenien, Vesna aus Tschechien, Blanca Paloma aus Spanien und natürlich Käärijä, allerdings auch Überraschungen wie La Zarra (Frankreich), Marco Megnoni (Italien) und vor allem eben Monika Linkytė, die am Ende vielleicht sogar meine Lieblingsperformance ablieferte.


Der deutsche Beitrag

Über den Beitrag aus Deutschland habe ich in den vergangenen Jahren immer nicht viel zu sagen gehabt, abgesehen davon, dass sie erwartbar und verdient ziemlich weit hinten landeten. Und obwohl ich auch über den diesjährigen Song von Lord of the Lost nicht unbedingt euphorisch war (siehe meine bescheidene Platzierung im Ranking vor der Show), sah ich darin doch zumindest Potenzial. Denn die Auswahl der Hamburger Band repräsentierte meiner Meinung nach einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung seitens des deutschen Vorentscheids. Nicht nur in der Hinsicht, dass 2023 mal etwas anderes ausgesucht wurde als ein hemdsärmliger Straßenmusiker mit Konsens-Schnulze, sondern auch darin, dass Deutschland hier die Option hatte, eine neue Marke für den ESC auszuprobieren. Man kennt es von einigen Ländern in der Vergangenheit ja schon, dass häufig ein bestimmter Archetyp von Beitrag ausgewählt wird, der beim ESC zur Tradition geworden ist: Finnland schickt meistens rockige Songs, Portugal steht auf folkloristischen Kram, die Schweiz setzt auf Balladen von traurigen Männern und Frankreich badet im eigenen Klischee. Und Deutschland hätte es in meinen Augen durchaus gestanden, auch eines dieser Länder zu werden, wobei für mich keine Stilrichtung besser dafür gepasst hätte als jene düster-gothige Note, die eine Band wie Lord of the Lost schon ganz gut transportiert. Zum einen gibt es in Deutschland eine lange Tradition in dieser Bewegung, die auch irgendwie international angesehen ist und von der Rammstein, Wacken und das WGT nur die Spitze des Eisberges sind, zum anderen besitzt diese Szene genau die richtige Haltung, die für den ESC irgendwie passend ist. Sie ist dem Mainstream genügend zugetan, um Hits schreiben und Arenen füllen zu wollen, aber auch hinreichend weird und individuell, um bei einem Event wie diesem ankommen zu können. Und ich persönlich finde die Vorstellung von Gruppen wie In Extremo, Coppelius oder meinetwegen Electric Callboy in diesem Format durchaus reizvoll. Und wären Lord of the Lost am Samstag besser angekommen, hätte ich dafür wahrscheinlich auch aktiv plädiert. So wie es nun aber aussieht, wird das wohl ausfallen. Stattdessen werden wir bis zum nächsten Jahr wahrscheinlich wieder eine mittelschwere Sinnkrise beim NDR erleben, der ich nach jetzigem Stand so oder so keinen guten Ausgang prophezeihe. Entweder verfällt man ob des miesen Abschneidens des endlich mal "gewagten" Beitrags erneut in alte Muster und schickt den nächsten Ed Sheeran-Verschnitt mit Ukulele, oder man erinnert sich der anderen Option im Vorentscheid und votet 2024 geschlossen für Ikke Hüftgold. Beides würde vermutlich der nächste sichere letzte Platz werden und das Meme der peinlichen deutschen Nominierungen weiter befeuern. Ich persönlich wäre natürlich dafür, es noch ein weiteres Mal mit einer etwas alternativeren Nummer zu versuchen, die gerne auch wieder aus dem Rock- oder Metal-Bereich kommen kann. Denn dass die rote Laterne für Deutschland dieses Jahr unverdient waren, behaupten ja ausnahmsweise mal nicht nur irgendwelche Facebook-Muttis und Hobby-Peter Urbans im Internet, sondern auch die Hardcore-Fans des Wettbewerbs. Und so wie es aussieht, wird deren Zuspruch in der näheren Zukunft mehr und mehr das Zünglein an der Waage sein.



Sonntag, 7. Mai 2023

Review: Sternenmann

DAVID BOWIE
The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders From Mars
RCA Victor
1972











[ operatisch | hymnisch | eingängig ]

Ich habe inzwischen genügend Musik von David Bowie gehört um zu wissen, dass aus mir in diesem Leben kein Fan davon mehr wird und wenn ich ehrlich bin, finde ich seine Rolle im gesamten popkulturellen Diskurs auch ganz objektiv ein klein wenig überbewertet. Denn ganz unabhängig davon, wie toll man jetzt persönlich seine Platten findet, was natürlich jede*r selber entscheiden kann, war er in meinen Augen eigentlich nie der große musikalische Visionär, als den viele ihn noch immer darstellen. Mit seiner Art der Komposition bediente er sich Zeit seines Lebens an bereits existierenden, coolen Untergrund-Phänomenen, die er dem Mainstream als innovativ verkaufte und entfaltete seine größte schöpferische Kraft eher als flamboyant-androgyne Rockstar-Persönlichkeit und Stilikone, die mit seinem Schaffen als Songwriter an sich ja wenig zu tun hatte. Dass es trotzdem großartige Musik aus der Feder des Briten gibt, will aber auch ich nicht bestreiten. So mag ich beispielsweise viele Sachen aus seiner Diamond Dogs-Platte, war tief beeindruckt von seinem letzten großen Statement 2016 auf Blackstar und kann von der beklemmenden Dramaturgie eines Heroes nicht die Augen verschließen. Und was mein persönliches Lieblingsalbum von Bowie angeht, bin ich sowieso die totale basic bitch. Denn nichts gleicht meiner Ansicht nach dem operatischen Glamrock-Wunderwerk, das er 1972 mit the Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders From Mars von der Kette ließ. Wobei es für mich nicht mal der narrative Aspekt mit dem ganzen Alien-Rockstar-Zirkus ist, der mich hier so beeindruckt (wie gesagt, für Bowie als Kunstfigur kann ich mich nur in Maßen begeistern), sondern die schiere musikalische Qualität, die dieses Album auch über fünfzig Jahre später noch ausstrahlt. Sachen wie den Erfahrungswert, dass man so gut wie jeden Song hier direkt mitsingen will (und kann), dass es kompositorisch so gut wie keine Deep Cuts gibt, wie charismatisch Bowie als Erzähler des ganzen ist und vor allem, wie die Produktion der Platte immer noch gigantisch klingt. Wobei das schönste an Ziggy Stardust in meinen Augen ist, dass man auch nach wie vor merkt, wie es als Gesamtwerk konstruiert ist, das seine Energie auf die gesamte Länge des Albums verteilt. Wo viele Rockbands in den frühen Siebzigern ihre besten Tracks jeweils an den Anfang von A- und B-Seite packten und damit ihr ganzes Pulver direkt verschossen, braucht Bowie hier ein bisschen, um aus dem Quark zu kommen und spielt seine größten Trümpfe erst relativ spät aus. So ist Five Years mit seinem vertrödelten Intro eigentlich ein untypischer Opener, der erst nach und nach aufblüht und der zweite Song Soul Love vielleicht der einzige, den ich auf dieser LP als einigermaßen füllerhaft bezeichnen würde. Wenn man sich allerdings das Ende der A-Seite angeht, finden sich dort die fettesten Nummern Starman und It Ain't Easy direkt hintereinander. Gleiches Spiel auf Seite B: Lady Stardust ist am Anfang eher lauwarm unterwegs und führt erstmal soft-balladig ins Geschenen ein, richtig fetzig wird es erst danach mit Stücken wie Star, Hang On to Yourself oder dem Titeltrack, den jeder vernünftig verkaufsorientierte Musiker an den Beginn der A-Seite gepackt hat. Ganz zu schweigen von Suffragette City, dem meiner Meinung nach besten und fettesten Track, der hier an vorletzter Stelle kommt und mit dem Bowie mit endgültiger Klarheit das Prädikat -rock in Glamrock hervorhebt. In sich und im Kontext des Albums (nicht nur im inhaltlichen) macht aber das, was jedes Management damals wahrscheinlich als mieses Sequencing verteufelt hääte, total Sinn und klingt verdammt großartig. Zumal auch jedes Detail des Songwritings und der opulenten Instrumentierung optimal ausproduziert ist und perfekt zur Geltung kommt. Sowohl im Original als auch im sehr guten Remaster von 2012, das es inzwischen fast überall zu hören gibt. Mehr als alles andere schätze ich Ziggy Stardust also als ein fantastisch gemachtes Glamrock-Werkstück, das an den richtigen Stellen auch mal ordentlich Tempo macht und auf die bestmögliche Art nach der Zeit klingt, in der es entstand. Und ein Album, das auch ohne das ganze konzeptuelle Drumherum groß klingt. Nicht unbedingt nach Weltraum, aber so als würde es nach den Sternen greifen. Und dabei selbst ein bisschen einer werden.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11


Persönliche Höhepunkte
Five Years | Moonage Daydream | Starman | It Ain't Easy | Lady Stardust | Star | Hang On to Yourself | Ziggy Stardust | Suffragette City | Rock'n'Roll Suicide

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Lou Reed
Transformer

T.Rex
Electric Warrior