Donnerstag, 30. April 2020

Wie auf Wolken

[ psychedelisch | nudelig | fluffig ]

Wenn die Band Elder aus Boston eines im Laufe der letzten fünfzehn Jahre gezeigt hat, dann dass es nicht immer ein Verlust sein muss, wenn eine Metal-Formation sich dem entscheidenden Faktor Härte in ihrer Musik entledigt und ihre softe Seite entdeckt. Einst nur eine stur groovende Stoner-Proto-Doom-Gruppe unter vielen, haben sich die drei Musiker aus Massachussets binnen der letzten antderthalb Dekaden durch einen sukzessiven Wandel hin zu psychedelischem Jamrock nicht nur eine größere Fanbase erarbeitet, sondern auch einen sehr persönlichen und spannenden Sound gefunden, der zwar irgendwie auch retro ist, aber duchaus seine eigene Dynamik besitzt. Und spätestens seit ihrem 2015 veröffentlichen dritten Album Lore erfeut sich dieser inzwischen auch außerhalb der eingeschworenen Kiffrock-Szene eines ansehnlichen Renomees. Stand 2020 ist der Name Elder eine gefeierte Hausmarke, die mit jedem Jahr auf mehr T-Shirts von langhaarigen, meist männlichen Festivalbesuchern auftaucht und diesen Leumund auch redlich verdient hat. Wobei sich diese Qualität für mich persönlich bisher nicht in einem wahrhaftigen Lieblingsalbum der Amerikaner äußerte. Klar fand ich die Teile ihrer Diskografie, die ich bis hierhin soweit verfolgt habe, punktuell ziemlich cool, doch habe ich den Aufsprung auf den Fan-Zug, der zuletzt stetig größer wurde, immer ein bisschen verpasst. Auf ihrer Durchbruchs-LP Lore waren sie vor fünf Jahren noch etwas zu sehr Geheimtipp und ich bekam erst wesentlich später davon mit, als alle plötzlich über diese Band redeten. Und als ich 2017 auf ihrem Nachfolger Reflections of A Floating World den Schritt auf sie zugehen wollte, erwischte ich sie irgendwie in ihrer Kuschelrock-Phase. Keine der beiden Platten finde ich im Nachhinein irgendwie schlecht oder überbewertet, doch war ich eben auch nie so begeistert von Elder, wie es viele andere waren. Wobei es einen Grund dafür gibt, dass ich eben diese Enttäuschung hier so herausspiele. Denn all die verpassten Chancen, die sich zwischen mir und dieser Gruppe seit Jahren angesammelt haben, enden mit der Veröffentlichung ihres fünften Albums Omens, welches endlich das großartige Stück Musik ist, dass mir von ihnen immer versprochen wurde. Ich will dabei nicht gleich übertreiben, mehr als guten Psychedelic Rock machen die Drei hier am Ende auch nicht, doch kann ich jetzt auf einmal verstehen, was dieser ganze Bohei um sie eigentlich soll. Wobei vieles hier die logische Weiterentwicklung ihres Vorgängers ist. Auf der Seite der fettigen Gitarrenriffs haben Elder in den letzten drei Jahren noch ein bisschen abgespeckt, ihr Sound ist weitgehend komplett aus dem Bereich des Metal herausgewachsen und mit seinen flächigen und melodischen Eskapaden erinnert einiges auf dieser LP fast schon an Postrock. Das allerdings sind an Omens auch die größten Stärken, denn dass dem spielerischen Freigeist des Trios hier weiter Luft gemacht wird, lässt jede Menge fruchtbaren Boden für tolle musikalische Motive entstehen. Von den fünf Songs auf dieser Platte ist kommt keiner unter eine Länge von neun Minuten, was jede Menge Platz für ausgedehnte Jam-Orgien bedeutet. Und wo andere Bands ihrer Kragenweite diese wahrscheinlich nutzen würden, um sich ellenlanger technischer Gniedelei und Solo-Blödsinn hinzugeben, gibt es auf Omens einen positiv überraschenden Mangel an dicken Eiern, die der musikalischen Entfaltung dieser Band nur im Weg stünden. Stattdessen schafft die Platte sehr viele schwerelose und wolkige Wonnemomente, die eher ein bisschen an Sachen wie Motorpsycho, Colour Haze oder die softeren Elemente der jüngeren Baroness-Alben erinnern. Und natürlich kann man das doof finden, wenn man hier mit der Erwartungshaltung von schwerer Psych-Ursuppe mit Bongwasser-Geschmack hereingeht, gerade deshalb schreibe ich ja aber diesen Text. Denn enttäuscht ist man nur dann, wenn man die falschen Informationen bekommt. Und das wäre fatal, denn dann wäre man vielleicht taub für die viel coolere und originellere Ästhetik, die Elder hier abziehen und die sie zu einer der wenigen Bands mit Stoner-Hintergrund macht, die wirklich mal aufregende Musik machen. Aber wem sage ich das. Ich bin am Ende des Tages ja derjenige, der hier viel zu spät zur Party war und genau diese Fehler einmal zu oft gemacht hat. Mit diesem Album kann ich mir aber sicher sein: Nochmal passiert das nicht.



Hat was von
Motorpsycho
Timothy's Monster

Baroness
Yellow & Green

Persönliche Höhepunkte
Omens | Halcyon | Embers | One Light Retreating

Nicht mein Fall
-


Mittwoch, 29. April 2020

Kalis Kontrollvisite

[ gemütlich | verspielt | sexy ]

Es ist jetzt ziemlich genau zwei Jahre her, dass die kolumbianische Sängerin Kali Uchis im April 2018 mit ihrem kommerziellen Debüt Isolation meine Welt erschütterte. Noch immer könnte man mich wahrscheinlich mitten in der Nacht aufwecken und mich mit vorgehaltener Pistole fragen, was ich an dieser LP finde, ich würde mindestens eine halbe Stunde ins Schwärmen geraten. Denn weniger als eine Offenbarung für gut gemachten, neo-souligen Pop mit leichtem Latin-Flavour war die besagte Platte bei aller Bescheidenheit nicht. Was jedoch ihr bis heute wichtigster verdientst sein dürfte, war Kali Uchis von einer talentierten Newcomerin, die bei Kenner*innen der Szene die Runde machte, in den Status eines echten Pop-Geheimtipps zu hieven und auch noch zwei Jahre später kreuze ich regelmäßig die Finger, dass diese Frau eines Tages mal ein echter Popstar wird. Mit den Unternehmungen, die von ihr seit dem Release von Isolation ausgegangen sind, sieht es danach aber erstmal eher nicht aus. Ehrlich gesagt war bei der Kolumbianerin die meiste Zeit wenig bis nichts los. Alles, was Uchis nach ihrem Debüt bisher zustande brachte, war eine Remix-Version von After the Storm, die ziemlich mittelmäßige Zwischendurch-Single Solita von diesem Winter und ein paar routiniert gute Features für Leute wie Kaytranada, Anderson.Paak und Miguel. Und an sich ist das ja kein Problem, denn schon vor Isolation waren genau diese Dinge wesentliche Faktoren für den Erfolg der Künstlerin und bereiteten den Weg dorthin, wo sie heute steht. Nur hatten viele der Auftritte von damals den Vorteil, das sie Uchis' musikalischen Charakter prägten, was seit einiger Zeit leider nicht mehr so ist. Mehr und mehr habe ich stattdessen das Gefühl, dass die Sängerin eine Art Allzweckwaffe wird, die bestimmte Musiker*innen immer dann auf ihre Platte holen, wenn sie in ihren Songs jenen soften retro-souligen Sexjam-Vibe erzeugen wollen, den diese Sängerin so nonchalant zu erzeugen vermag. Und in gewisser Weise hat das ihre Musik ein bisschen abgestumpft, da sie sich dadurch stellenweise etwas sehr dienstleistendes angeeignet hat. Mir als Liebhaber ihrer Ästhetik macht natürlich etwas Angst, denn auf ähnliche Weise sind schon viele talentierte Künstler*innen vor ihr zu bloßen musikalischen Gimmicks verkommen und um ein Nate Dogg zu werden, ist Kali Uchis eindeutig zu vielversprechend. Zeit also, dass es endlich wieder eigenes Material von ihr gab. Und obwohl es mit To Feel Alive doch wieder nur eine lumpige Zehn-Minuten-EP statt eines richtigen Nachfolgers geworden ist, erfüllt diese zumindest das Einstiegsniveau an Uchis-Faktor, das hinreichend die Frage klären kann, ob die Kolumbianerin noch das Feuer ihres Debüts hat. Wobei die Antwort sowohl ja als auch nein lautet. Die vier Songs auf diesem Format, die sich alle um Stationen ein und derselben Beziegung drehen, sind nach wie vor ziemlich stabile R'n'B-Nummern, die den Stil von Isolation zumindest vom Grundkonzept her fortführen, doch sind sie definitiv nicht das gleiche. Zum einen, weil sich die Produktion hier vorsichtig aber bestimmt an ätherischen Cloudrap-Sounds und verrasselten Hi-Hats bedient, die zumindest ein bisschen kommerzieller klingen als der winehouse'sche Neo-Soul von zuletzt. Zum anderen aber auch, weil die Songs hier schlichtweg nicht so stark sind. Oftmals bedienen sie sich zwar der bewährten Palette an wirkungsvollen Uchis-Tricks und lyrisch ist vieles wesentlich direkter und persönlicher, doch sind die Hooks durchweg etwas dünner, die Instrumentals ein bisschen farblos und man bekommt im allgemeinen keinen so intesiven Vibe kommuniziert wie auf Isolation. Das ist zwar auch absolut kein Weltuntergang, denn schließlich ist der Vergleich zum letzten Album, wo jeder Track ein absoluter Welthit war, ein bisschen unfair. Doch ist es bei einer Platte von dieser Sängerin schon irgendwie bedenklich, wenn mir am Ende eines Durchlaufs kein einziger der vier Songs im Ohr stecken bleibt. Und ganz ehrlich: Auch wenn ich ihre Musik nach wie vor ziemlich klasse finde, ist sie künstlerisch nicht an dem Punkt, wo ihre inhaltliche Stärke fehlende Catchyness entschuldigen würde. Womit vieles an To Feel Alive letztlich nicht mehr ist als eine kurze Versicherung. Ja, Kali Uchis kann weiterhin toll singen und ihre Musik passt soweit auch, spektakuläres neues Material gibt es hier aber noch nicht. Wobei meine naive Hoffnung ist, dass sie dieses für ein größeres Release im Laufe des Jahres aufspart, das dann vielleicht doch wieder so reinhaut wie Isolation vor zwei Jahren. Ich sage nicht, dass ich es brauche, aber schaden würde es definitiv auch nicht.



Hat was von
Amy Winehouse
Frank

the Internet
Hive Mind

Persönliche Höhepunkte
I Want War (But I Need Peace) | To Feel Alive

Nicht mein Fall
-


Dienstag, 28. April 2020

I Care Because You Do

[ esoterisch | psychedelisch | proaktiv ]

Wenn ich mich in Artikeln wie diesen dann und wann der Phrase eines "lang ersehnten Albums" bediene, dann benutze ich diese meistens als Beschreibung eines übergeordneten Medienechos, das eher unpersönlich ist und das mich nicht immer zwingend selbst betrifft. Wenn viele Leute sich auf eine neue Platte von Tool, Frank Ocean oder Lil Uzi Vert freuen, ist das ein Phänomen, das zum Kontext einer LP beiträgt und irgendwie relevant ist, aber meistens nicht heißt, dass ich besagtes Projekt auch von mir aus lange ersehnt habe. Bei Weltklang von Polis ist so ziemlich des Gegenteil der Fall. Mehr oder weniger seit 2015, als ich einige Songs dieser Platte zum ersten Mal live hörte, ist der dritte Longplayer der Band aus Plauen für mich ein echtes Sehnsuchts-Release gewesen, auf das ich mich als Fan sehr persönlich gefreut habe, und das mit jedem kleinen Häppchen, welches in den letzten Jahren davon preisgegeben wurde, ein bisschen spannender wurde. Wobei der Grund dafür ebenso schlicht wie schwerwiegend ist: Polis' letzte LP Sein, die im Januar 2014 erschien, ist in meinen Augen eines der zweifelsfrei besten Alben der inzwischen vergangenen Dekade und nach über der Hälfte davon noch immer ein Stück Musik, das mich in helle Begeisterung versetzt. Verstärkt durch den Faktor, dass die Plauener insgesamt eine ziemlich stringente DIY-Schiene fahren und in gewisser Weise dem gleichen subkulturellen Großraum entstammen wie ich, macht sie das zu einer Band, auf die ich inzwischen große Stücke halte. Und warum das so ist, zeigte sich eben auch in der Entstehung von Weltklang wieder sehr deutlich, denn für 39 Minuten Psychrock, die fünf Hobbymusiker aus dem Vogtland gemeinsam aufnehmen, wurde hier nicht zum ersten Mal extraordinäre Detailarbeit geleistet. Große Teile der LP entstanden in einem von der Band selbst eingerichteten Studio in ihrer Heimatstadt, was allein schon einen ordentlichen Mehraufwand bedeutet, den viele andere Acts sich schenken würden. Außerdem wurden für den klanglichen Feinschliff der dort aufgenommenen Titel mal eben die Real World Studios im englischen Bath gebucht, in denen sonst unter anderem auch the legend himself Peter Gabriel seine Musik aufnimmt. Kosten und Mühen wurden von Polis also ein weiteres Mal nicht gescheut, um für Longplayer Nummer drei ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen, was die sechs Jahre Wartezeit in meinen Augen mehr als rechtfertigt. Und ich möchte an dieser Stelle absolut unmissverständlich klarstellen, wie sehr ich die Band für diesen Mords-Hustle respektiere und dass ich mich als Fan ihres Outputs definitiv nicht über mangelden Service beschweren kann. Gerade deswegen finde ich es aber auch so schade, dass mich auf musikalischer Ebene manches hier nicht so anholt wie beim letzten Album. Dabei ist die Grundidee eigentlich recht schick: Den psychedelisch-retroproggigen Eso-Ostrock-Stil von Sein entwickeln Polis hier um diverse Facetten weiter, die ihn klanglich vor allem vertiefen und derber machen. Die Riffs sind fetter, die Dynamiken dramatischer, und die kompositorischen Motive direkter als vorher. Vor allem die Synthesizer-Arbeit von Marius Leicht macht dabei einen großen Satz nach vorne, indem sie weniger hippiesk abgniedelt, sondern große, raumgreifende Klangflächen zaubert, die die acht Tracks hier wirklich von denen auf Sein abheben. Vor allem für sie hat sich letztendlich die aufwändige Real World-HiFi-Postproduktion furchtbar gelohnt, denn mit den richtigen Lautsprechern oder Kopfhörern ergeben sich hier geniale Nuancen, die Polis vorher definitiv nicht hatten. Blöd ist dann eben nur, dass nicht alle Instrumente diese Sonderbehandlung gleichwertig erfahren. Insbesondere die Gitarren sind zum Teil etwas flach gemixt, was bei den dickeren Riffs, die hier aufgefahren werden, schon ein bisschen schade ist und noch viel schlimmer trifft es den Bass, den man über große Teile der LP überhaupt nicht hört. Angesichts der Tatsache, wie viel Arbeit in die klanglichen Details dieser Songs geflossen ist, ist das dann schon ein wenig enttäuschend. Zumal Sein, das vermutlich wesentlich rustikaler produziert wurde, für mich am Ende trotzdem besser klingt. Technische Spezifika wie diese könnte ich aber vielleicht auch ignorieren, wenn die Songs darunter wirklich klasse wären. Wobei Polis sich vom Prinzip her viele tolle Sachen überlegt haben. Begeisternde Momente wie die sakrale Bridge in Tropfen, das epische Hauptmotiv in Eine Liebe, tausend Leben oder das perkussive Hämmern von Mantra gibt es zu Hauf und vor allem die Dynamik zwischen den Tracks ist oftmals äußerst spannend. Rein vom instrumentalen Songwriting her steht Weltklang seinem Vorgänger in nichts nach und ist vielleicht sogar ein bisschen cooler, weil überraschender. Nur gibt es eben auch einen großen Minuspunkt, und das sind die Texte der Platte. Und eigentlich sollte das nicht weiter verwundern, denn wer die ersten beiden Platten von Polis gehört hat weiß, dass Christian Roschers esoterische Spiritualitäts-Lyrik etwas sehr eigentümliches an sich hat und definitiv das gewöhnungsbedürftigste Grundelement an dieser Band ist. Auf Sein erwischte dieser Stil in meinen Augen einen glücklichen Punkt, an dem gerade das extrem charmant war, hier jedoch geht genau diese Ästhetik oft nach hinten los. Was vielen Tracks echt abträglich ist, denn Roscher schreibt und singt durchweg sehr sperrig. Obgleich ich auch hier sagen muss, dass der Teufel im Detail steckt. Das übergreifende Motiv der Texte, dass ein offensives Ja zum Leben formuliert und die Möglichkeit der proaktiven Veränderung der Welt beschreit, ist an und für sich echt cool und in einer Welt der ängstlichen und depressiven Pop-Alben auch irgendwie was besonderes. Nur war das von dieser Band schon mal geschickter formuliert als hier und wirkt in vielen Momenten furchtbar ungelenk. Gerade Faktoren wie diese machen es letztlich schwer, ein konkretes Fazit zu dieser Platte zu finden, denn vieles daran finde ich gleichzeitig klasse und problematisch. Ich mag es, dass Polis hier nicht versuchen, ein weiteres Sein aufzunehmen und die Richtung, in die vieles geht, ist unglaublich interessant. Gleichzeitig verzetteln sie sich dabei oft und wirken nicht so beisammen wie vor sechs Jahren. Weltklang ist definitiv nicht das beste Album, das die Plauener hätten machen können und ja, ich bin vielleicht ein bisschen enttäuscht. Es ist aber auch nicht so, dass alles hier mittelmäßig oder gar mies wäre. Am Ende steckt eine sehr gute LP in diesen acht Songs, an der Polis nur im entscheidenden Moment vorbeispielen. Und das ist vielleicht sogar ein bisschen schlimmer als wenn sie einfach langweilig gewesen wäre. Denn so sieht man, was hätte sein können und nun doch nicht ist. Wobei ich dadurch wenigstens sichergehen kann, das Weltklang für mich auch in Zukunft eine emotionale Platte bleibt, die mich noch ein bisschen beschäftigt. Wäre ja schade, sechs Jahre auf etwas gewartet zu haben, dass man nur zweimal hört.



Hat was von
Colour Haze
To the Highest Gods We Know

Klaus Renft Combo
Renft Nr. 2

Persönliche Höhepunkte
Tropfen | Gedanken | Gebet | Steig herab | Mantra

Nicht mein Fall
Abendlied


Montag, 27. April 2020

Chris & Chrisser

[ soulig | gemütlich | normal ]

Spätestens seit seinem letzten Album Guns, welches im vergangenen Jahr in den Top Ten meiner Lieblingsplatten 2019 landete, ist der Rapper Quelle Chris für mich ein Künstler geworden, bei dem es sich lohnt, durchweg erhöhte Aufmerksamkeit für seinen Output an den Tag zu legen. Ein ganzheitlich interessanter Musiker ist er allerdings schon fast eine ganze Dekade lang. Seit seinem kommerziellen Debüt Ghost at the Finish Line von 2013 hat sich der MC aus Detroit im US-amerikanischen Rap-Untergrund einen Namen als jemand gemacht, der vor allem durch die immense Eigenwilligkeit in seiner Musik auffällt und der insbesondere in seiner Frühphase einen verdienten Ruf als komischer Kauz der Szene aufbaute. Dass er dabei schon immer aus der Masse anderer Rapper*innen, selbst im Bereich des verschwurbelten Conscious-Rap, herrausstach, machte ihn schon immer zu einem Künstler, den man interessant finden konnte, in meinen Augen bedeutete das bei seinen frühen Platten jedoch noch nicht immer, dass sie auch gut waren. Wobei eine der ersten davon, die echtes Potenzial erkennen ließen, eine 2015 veröffentliche Kollaboration mit dem Producer Chris Keys namens Innocent Country war. Unter seinen damaligen Releases war diese 32-mitütige Projekt eines der zugänglicheren, das mit klassichem Jazzrap-Sound und eher gemütlicher Attitüde punktete und damit zumindest auf musikalischer Ebene ein bisschen von Quelles Freak-Faktor abtrug. Insofern war es in vielerlei Hinsicht ein Vorgeschmack auf die sehr eingängige Ästhetik, die letztes Jahr Guns so cool machte, was einen Nachfolger zum jetzigen Zeitpunkt natürlich umso spannender werden lässt. Vor allem, weil Teil 2 aus diesem Konzept jetzt wesentlich mehr machen will. Mit 66 Minuten ist dieser fast doppelt so lang, wartet mit einem illustren Feature-Katalog auf und denkt auch Setting-technisch ein ganzes Stück größer. Gleich die ersten beiden Tracks packen das Motiv der Platte in das einer actiongeladenen Fernsehserie, die hier sozusagen in ihre zweite Staffel geht und ganz in bewährter TV-Tradition mit einer Art "Was bisher geschah"-Rückblick beginnt. Diese Strategie als Intro ergibt in meinen Augen allerdings relativ wenig Sinn und sorgt vor allem für Verwirrung, was mich zu Anfang schon ein bisschen besorgt machte. Teilweise berechtigt, denn über die gesamte Spielzeit bedienen sich die beiden Chrisses immer wieder dieser Sorte von Interludes, die ein kaum zu durchschauendes Konzept etablieren sollen und letztendlich eher nerven als einen ansprechenden Rahmen zu schaffen. Blendet man diesen aber aus, dann besteht Innocent Country 2 trotzdem aus einer ganzen Reihe ziemlich guter Tracks, die sich sehr lohnen. Wobei Quelle Chris ästhetisch wieder ein kleines Stück zugänglicher wird. Vieles davon hat natürlich auch mit dem sehr chilligen Instrumental-Backing zu tun, das hier von Chris Keys ein weiteres Mal abgeliefert wird, doch wie schon auf Guns erlebt man auch den Rap-Part wesentlich gefälliger. Mit seinem weitgehend recht angepassten Flow und jeder Menge Gesangsparts erinnert vieles hier an die Flowerboy-Phase von Tyler, the Creator oder moderne Boombap-Kleinode wie Noname und Rory Ferreira. Gleichzeitig ist Quelle Chris eben deshalb so gut in dieser Art von Musik, weil er die künstlerischen Drähte zum verkopften Conscious-Rap nicht gänzlich kappt und für einen smootheren Sound nicht seinen großartigen schwarzen Humor und seine intelligenten Inhalte opfert. Eine Sache, die sich auch in der Feature-Liste wiederspiegelt, die ein unglaublich großes Spektrum abdeckt. Mit Big Sen, Homeboy Sandman und vielen jungen und unbekannten MCs bleibt sie sehr im Untergrund verwurzelt, andere Gäste wie Billy Woods und Earl Sweatshirt (der ja zuletzt eh immer mehr der Künstler wird, der Quelle Chris vorher lange war) verursachen aber auch innovative Impulse, die den Dunstkreis von Chris Rappers auf coole Weise erweitern. Insgesamt klingt Innocent Country 2 damit eher wie ein Sequel zu Guns als zum ersten Joint Venture der beiden Chrisses, aber auch das bedeutet, dass es ein ziemlich gutes Gesamtergebnis ist. Zwar bleibt es insofern komisch, dass ein rahmengebendes Konzept hier eher von meinem Genuss der Platte abträgt als ihn zu befördern, doch auch dieses ruiniert nicht die tollen Songs, die hier ein weiteres Mal geschrieben werden. Insgesamt ist das hier also eine weitere LP von Quelle Chris, die mich von dem Typen überzeugt und ihn als Rapper etabliert, den ich in Zukunft genauer beobachten will. Weil er inzwischen nicht nur eigenwillig, sondern auch richtig gut ist.



Hat was von
Tyler, the Creator
Flowerboy

Noname
Room 25

Persönliche Höhepunkte
Outro / Honest | Living Happy | Sacred Safe | Bottle Black Power Buy the Business | Sudden Death | Graphic Bleeds Out | Mirage

Nicht mein Fall
Intro / Recap | Moments


Samstag, 25. April 2020

Das fehlende Kapitel

[ euphorisch | sonnig | gemächlich ]

Es ist eine komische Sache, 2020 eine Incubus-Platte zu besprechen, denn eigentlich sind die Kalifornier für mich vor allem eine Sache, an die mich meine Vergangenheit bindet. Als Formation, die ich in meiner Teenagerzeit über eine ernsthaft lange Phase als meine Lieblingsband bezeichnete, sind sie für mich nach wie vor ein Faktor, den ich als prägenden musikalischen Faktor meiner Biografie nicht ignorieren kann und dass ich noch immer ihre neue Musik höre, gebietet mir zumindest eine gewisse Treuemoral. Wobei es in den vergangenen Jahren nur selten so war, dass ich mich ernsthaft dazu zwingen musste. Von ihrem Totalausfall 8 im Sommer 2017 mal abgesehen, war es bisher fast immer interessant, sich mit Incubus zu beschäftigen und auch wenn sie inzwischen seit fast 30 Jahren im Geschäft sind, hört man ihnen nach wie vor an, dass sie klanglich oft neue Wege finden wollen und ihre musikalische Ästhetik im Jahr 2020 genauso flexibel ist wie Anfang der Neunziger. Von ihren Wurzeln im Funk-Metal über Edel-Crossover zur Jahrtausendwende und eine ziemlich wirre Phase in den Nullern sind sie dabei spätestens seit If Not Now, When? von 2011 in einer Dimension von gemütlichem Erwachsenenrock angekommen, die ihnen in meinen Augen sehr gut zu Gesicht steht. Nicht nur, weil sie als sonnengegärbte kalifornische Surferboys eigentlich schon immer viel zu optimistisch für ihre New Metal-Herkunft waren, sondern vor allem, weil diese Art von Musik ihnen musikalisch sehr viel Raum gibt. Die Frage war in den letzten Jahren letztlich nur, was sie als Band mit diesen Möglichkeiten anfingen. If Not Now, When? war klanglich dabei vielleicht etwas wüst unterwegs, aber auch insofern genial, weil es unglaublich viele Dinge ausprobierte. Eine Chance, die 8 später leider häufig ungenutzt ließ und für mich vor allem deshalb so enttäuschend war. Und irgendwo dazwischen gab es da noch diese eigenartige Trust Fall-EP, die irgendwie von vielen so ein bisschen ignoriert wurde, obwohl sie rückblickend eigentlich ziemlich cool war. Wobei das Problem in meinen Augen strukturell ist: Als die vier Tracks von Side A 2015 erschienen, war ich durchaus ein bisschen begeistert, wollte aber auch nicht zu ungeduldig sein. Die PR und die Aufmachung des Kleinformats ließen schließlich vermuten, dass ein entsprechendes Gegenstück in Kürze zu erwarten war, das dann mit Teil Eins als ganzer Longplayer irgendwie zusammenfand. Nur erschien dieser zweite Teil eben nie. Spätestens als zwei Jahre nach Side A das "richtige" Album 8 erschien, hatte man sich irgendwie damit abgefunden, dass das Trust Fall-Projekt wohl unvollendet bleiben würde, außerdem war ich zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr so fanatisch unterwegs, was Incubus anging. Es war mir also letztlich ein bisschen egal. Zumindest bis letzte Woche, als nach einem halben Jahrzehnt dann tatsächlich doch noch das verschollene Gegenstück erschien und mich mit einem ziemlichen Linken Haken erwischte. Zum einen natürlich deshalb, weil ich dieses Release so gar nicht mehr auf meinem Schirm hatte und es alles sehr plötzlich kam, zum anderen aber auch, weil es eine schockierend gute Platte ist. Nicht falsch verstehen, Incubus waren nie eine Band, die ich wirklich aufgegeben hatte, nur hatte sich bei ihnen seit If Not Now, When? vieles auf ein ziemlich gutes Mittelmaß eingependelt, an das ich mich einfach gewöhnt hatte. Und obwohl sich Side B mit fünf Tracks in 20 Minuten auch nicht direkt wie eine glorreiche Rückkehr anfühlt, ist es im Vergleich zu ihren letzten zehn Jahren doch eine deutliche Steigerung. Es ist wieder ein bisschen verspielter als 8 und schickt sich an, die Komfortzone zu verlassen, tut das aber auch bestimmter als If Not Now, When? und überzeugt mit wesentlich besserem Songwriting. Alle Stücke hier sind auf ihre eigene Weise gut gemacht und bringen den aktuellen Style von Incubus auf Kurs. Das lauernde Karma Come Back genauso wie das rockige On Without Me oder das vielleicht ein bisschen von the Clash geklaute Into the Summer. Was dabei auffällt ist, dass Side B zwar nicht mehr als eine Sammlung meherer Einzeltracks ist, diese jedoch sind vielleicht die besten, die die Band seit Light Grenades geschrieben hat (und das ist inzwischen fast 15 Jahre her!). Das ist deshalb schön, weil es seit langem das erste Mal ist, dass Incubus ein Projekt machen, das ohne jedes Füllmaterial auskommt und von vorne bis hinten in jeder Faser funktioniert. Eine Sache, die ich ihnen tatsächlich schon seit einer Weile nicht mehr zugetraut hatte. Und klar, dass sie das auf fünf Songs in 20 Minuten schaffen, entspricht nicht der Leistung einer vollwertigen LP, aber es ist ein sehr gutes Zeichen. Mehr als ein Hoffnungsschimmer zeigt Side B, dass diese Band prinzipiell durchaus das Zeug hat, ein weiteres richtig gutes Album zu machen, wenn sie sich anstrengen. Wenn man es so will, haben sie das sogar schon gemacht, denn ein ebenfalls nicht schlechtes klangliches Gegenstück mit ungefähr gleichem Umfang gibt es ja bereits seit 2015. Und wenn man die insgesamt neun Songs beider Trust Fall-Teile als Gesamtheit sieht (was ich lediglich aufgrund des großen Release-Abstands schwierig finde), ist es schon irgendwie die beste Platte, die Incubus in den letzten zehn Jahren gemacht haben. Blöd ist halt, dass es eben kein eigentliches Album ist, sondern dieses seltsame Konstrukt, das die meisten Leute sehr schnell wieder vergessen werden. Denn rein musikalisch wäre das hier der weit bessere Nachfolger für If Not Now, When? gewesen, der den darauf anberaumten Stil wesentlich souveräner fortgeführt hätte. Dass er es nicht ist, bedeutet aber nicht, dass ich ihn nicht trotzdem ein bisschen hofieren kann, denn für mich als alten Fan beweist er vor allem eines: Diese Band hat es noch drauf. Und das macht zumindest wieder ein bisschen Hoffnung für vielleicht kommende Projekte.



Hat was von
Pearl Jam
No Code

the Baby Universal
Slow Shelter

Persönliche Höhepunkte
Karma Come Back | Into the Summer | On Without Me | Paper Cuts

Nicht mein Fall
-


Freitag, 24. April 2020

Die schreckliche 10

[ chaotisch | naiv | emotional ]

Schon weniger als eine Woche nach seiner Veröffentlichung ist Fetch the Bolt Cutters, das erste Album von Fiona Apple seit acht Jahren, eigentlich eines, das nicht mehr ganz und gar ihr gehört. Mit der bereits jetzt berüchtigten Jenn Pelly-Besprechung vom vergangenen Freitag, die der Platte die erste 10-von-10-Punkte-Bewertung des Formats Pitchfork seit My Beautiful Dark Twisted Fantasies von Kanye West im Jahr 2010 zuerkannte, ist das hier mittlerweile die LP geworden, über die man genau aus diesem Grund redet und aus wenigen anderen. Zwar hätte es über ein Album wie dieses, dass das erste musikalische Lebenszeichen einer profilierten Künstlerin wie Apple seit 2012 ist, sicher auch sonst viel zu reden gegeben, doch seit besagtem Artikel ist die Prämisse häufig eine ganz andere, was echt schade ist. Ich will an dieser Stelle nicht zu viel Aufmerksamkeit an die Probleme verschwenden, die diese Situation mit sich bringt und wer sich für die Details interessiert, kann sich gerne das fantastische Video ansehen, das Oliver Kelp von Deep Cuts dazu veröffentlicht hat, ich möchte in diesem Zusammenhang lediglich darauf aufmerksam machen, dass natürlich auch meine folgende Besprechung von Fetch the Bolt Cutters nicht davon losgelöst stattfindet. Zwar habe ich in den letzten sechs Tagen versucht, mich von der allgemeinen Debatte um diese LP so wenig wie möglich beeinflussen zu lassen und das Ergebnis vor allem auf meine eigenen Erwartungen zu beziehen, aber das ganze Drumherum ändert natürlich die Wahrnehmung der Musik, ob man das nun will oder nicht. Das sozusagen als kleiner Disclaimer. Abgesehen davon muss man Pelly natürlich in gewissen Punkten Recht geben. Vordergründig damit, dass diese Platte mit ziemlicher Deutlichkeit das bisherige Opus Magnum von Fiona Apple ist, mit dem die Songwriterin eine ganze Reihe von Motiven ihrer gesamten Diskografie zusammenfasst. Zum einen musikalisch, indem sie mit vielen Tracks hier endgültig in ziemlich experimentelles Territorium umkippt, zum anderen vor allem auf lyrischer Ebene, wobei beide Facetten die Aura einer sehr ehrlichen, ungefilterten Herangehensweise haben. Die Kompositionen auf Fetch the Bolt Cutters sind so gut wie alle sehr grob und minimalistisch, was den sehr gefälligen Kammerpop-Sound von Apple wirkungsvoll kontrastiert und durch Elemente wie willkürlich eingespeiste Field Recordings oder den ungeschönten, mitunter sehr grantigen Gesang noch bestärkt wird. Zusätzlich dazu ist die Produktion ebenfalls sehr lax gehalten und lässt viel Platz für spielerische Schönheitsfehler und Raumklang der Instrumente, was nicht selten die Wirkung eines Demotapes erzeugt, über das einfach neue Spuren hinzugefügt wurden. Und wo ich mit diesem Sound zu Anfang durchaus Schwierigkeiten hatte, holt er mich mit häufigeren Durchläufen doch zusehends mehr ab und ergibt langsam Sinn. Denn er stützt klanglich sehr effektiv das, was die Künstlerin hier lyrisch aufbaut. Die Texte auf Fetch the Bolt Cutters zeigen Fiona ihrerseits als unausgewogene, launische Persönlichkeit, die in den Song hier regelmäßig aus der Haut fährt. Ob die Motivation dahinter nun leidenschaftliches Verliebtsein (I Want You to Love Me), unschöne Begegnungen mit den Medien (Newspaper), Episoden aus ihrer Kindheit (Shemeika) oder sexistische Praktiken im Musikbusiness sind, große Teile dieses Albums sind von den Emotionen hinter den Inhalten geprägt, die Apple hier auch sehr ungefiltert vorträgt. Das macht Fetch the Bold Cutters durchweg zu einem sehr spannenden Erlebnis, weil der Wahnsinn zumindest Methode hat, es macht die Platte aber auch sehr unzugänglich. Ich habe die 13 Tracks in den letzten Tagen inzwischen sehr oft gehört und werde langsam warm mit dem klanglichen Konzept und der grobschlächtigen Performance der Sängerin, aber auch ich finde vieles darauf noch immer ziemlich eigenartig. Wobei die Tatsache, dass ich mich an diese LP gewöhne, auch noch lange nicht heißt, dass ich sie inzwischen sehr viel besser finde. Zugegeben, einige Stücke wie Shameika oder Ladies, die ich Anfang der Woche nur schwer ausgehalten haben, sind angenehmer geworden, an anderen Stellen stocken die Zahnräder aber immer noch. Und wo das mitunter an musikalischen Entscheidungen liegt, die durch die skizzenhafte Komposition einfach unausgereift klingen, sind es teilweise auch die sehr direkten Lyrics, die ich schwer nachvollziehbar finde. Ich finde es toll, wie echt sich auf diesem Album Leidenschaft, Wut und Euphorie der Künstlerin anfühlen, ich verstehe aber nicht immer, wieso sie diese Dinge gerade empfindet und nur ein Teil davon lässt sich auf die allgegenwärtige Sprachbarriere schieben. Es könnte durchaus sein, dass sich diese Baustellen mit etwas mehr Zeit noch finden und ich diese Platte irgendwann noch mehr mag, doch habe ich Fetch the Bolt Cutters in den letzten sechs Tagen ehrlich gesagt schon mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen als den meisten LPs, die ich hier sonst bespreche. Und an meinem Fazit hat sich eher wenig geändert: Die neue Fiona Apple ist ein immens durchdachtes und gelungenes Album mit einer spannenden Prämisse, aber auch eher theoretisch gut. Und zugegeben, hätte es die Besprechung von Jenn Pelly nicht gegeben, wäre ich wahrscheinlich sehr viel ungeduldiger damit gewesen.Trotzdem: Sensationell werde ich das hier auch in 20 Jahren wahrscheinlich nicht finden und ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich diesen Artikel jetzt aus meinem System habe, damit ich eine Weile erstmal nichts mehr von Fiona Apple hören muss. Fehlt nur noch, dass die Leute im Internet endlich aufhören, sich darüber das Maul zu zerreißen.



Hat was von
Amanda Palmer
Who Killed Amanda Palmer

Frances Quinlan
Likewise

Persönliche Höhepunkte
I Want You to Love Me | Under the Table | Ladies | Heavy Balloon | For Her

Nicht mein Fall
Fetch the Bolt Cutters | Relay | Drumset


Mittwoch, 22. April 2020

the Lukewarm

[ rockig | schmissig | farbenfroh ]

Dass Radiohead eine der kreativsten Rockbands der Popgeschichte sind und als solche nunmehr bereits über 30 Jahre extrem stabile Musik aufnehmen, verdanken sie in meinen Augen ganz wesentlich der Tatsache, wie hochkarätig sie seit jeher besetzt sind. Mit Thom Yorke, Ed O'Brien, Philip Selway, den Greenwood-Brüdern und je nach Auffassung auch Nigel Godrich kommen unter dem Banner der Gruppe aus Oxford seit 1992 beziehungsweise 1995 fünf absolut hochkarätige Musiker zusammen, die nicht nur zu den besten ihres Fachs gehören, sondern als solche auch relativ gleichberechtigt an einem Strang ziehen. Das Erfolgsgeheimnis von Radiohead ist nicht etwa das von einem oder zwei genialen Frontmännern, die den Löwenanteil der kompositorischen Arbeit leisten, sondern das von sechs vorwärtsgewandten Multiinstrumentalisten, die sich immer wieder gegenseitig pushen. Und bei so viel kreativer Energie ist es natürlich lange kein Wunder mehr, dass der Großteil davon diese inzwischen auch außerhalb der Hauptband zu verwirklichen sucht. Ähnlich wie in der Vergangenheit Pink Floyd, die Beatles oder Animal Collective sind seit einer ganzen Weile auch Radiohead eine Formation, an deren Ablegern sich ein wachsender Katalog von Solo- und Nebenprojekten aufdröselt, der in den letzten Jahren immer interessanter wird. Und wo sich vor allem Thom Yorke und Jonny Greenwood zuletzt als ahnbare John und Paul-Entsprechungen des Formationskosmos etabliert haben, wagten sich im Zuge der letzten Dekade auch Drummer Philip Selway und Langzeit-Produzent Nigel Godrich aus der Reserve, denen nun auch Gitarrist Ed O'Brien als vorletztes Mitglied folgt. Und angesichts der Vielschichtigkeit von Radiohead ist so eine Premiere vor allem deshalb immer spannend, weil man nie so richtig weiß, welche stilistische Richtung der Solo-Pfad eines einzelnen Mitglieds einschlägt. Zumal jeder bisherige Alleingang irgendwie ein wenig seine eigene Nische fand. Bei Edward hier ist die Angelegenheit besonders kompliziert, denn rein klanglich ist Earth zuallererst extrem vielschichtig. Impulse und Einflüsse reichen hier von Siebziger-Krautrock in Tracks wie Shangri-La und Olympik über Caribou-ähnliche Indietronic-Momente in Long Time Coming, ambiente Elektronik in Mass und Versatztsücke aus der In Rainbows-Phase von Radiohead bishin zu seichtem Americana in Cloak of the Night. Der generelle Vibe ist dabei zwar alles andere als chaotisch und klangliche Gegensätze werden ziemlich gut ausbalanciert, einen gemeinsamen Nenner für dieses Album zu finden, ist dennoch schwierig bis unmöglich. Dass O'Brien hier seine songwriterische Grabbelkiste geschlachtet hat und diese LP vor allem dazu nutzt, um nicht realisierte Ideen umzusetzen, wird hier sehr schnell klar und ja, es ist vielleicht ein kleines bisschen enttäuschend. Vor allem in den Vorab-Singles wirkte Earth viel mehr so, als wäre es ein ausgefeiltes und eigenständiges Projekt, das einem innewohnenden Prinzip folgte, was letztendlich so überhaupt nicht der Fall ist. Und viele der kompositorischen Ansätze hier sind leider auch eher so mittelgut. Klar mag ich einige Motive auf dieser Platte und vor allem die ruhigeren Nummern wie Sail On, Mass und Cloak of the Night (mit einer nicht zu unterschätzenden Gastperformance von Laura Marling) sind ziemlich cool, doch es ist eben auch kein wirklich großer Aha-Moment dabei. Weder in Form eines herausstechenden Songs noch eines attraktiven Gesamtsounds, der mich irgendwie abfängt. Es ist okayes Album, aber keines, an das ich mich ernsthaft erinnern würde. Selbst ohne den unnötigen Vergleich mit anderen Radiohead-Solos, den man ja nicht aus dem Hinterkopf bekommt, ist Earth ziemlich unspektakulär und nur deshalb von Belang, weil dieser Typ nebenbei in der besten Band der Welt spielt. Sicher, auch das ist ein blöder Vergleich, nur will ich damit sagen, dass nicht jeder Ableger dieser Gruppe automatisch genauso genial sein muss. Und immerhin ist das hier nicht die letzte Platte von Phil Selway, denn die hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich mittlerweile zu diesem Einverständnis gekommen bin.



Hat was von
Beak
>>

Blur
13

Persönliche Höhepunkte
Long Time Coming | Mass | Banksters | Sail On | Cloak of the Night

Nicht mein Fall
Shangri-La


Damit die Knete stimmt

[ trappig | maskulin | kommerziell ]

Dass ich in der letzten Saison so gut wie keine aktuellen Besprechungen verfasst habe und somit fast ein gesamtes Jahr neuer Musik von meiner Seite völlig undokumentiert ist, rächt sich mittlerweile natürlich in gewissen Punkten. Zu einigen relativ wichtigen Platten von 2019 gibt es von mir keine verlinkbaren Posts, was ich jetzt in Zukunft immer irgendwo anders einbauen muss und über einige spannende Künstler*innen, die in dieser Zeit auftauchten, habe ich deshalb noch gar nicht geschrieben. Und ganz ehrlich, wäre dem nicht so, würde ich mir an dieser Stelle wahrscheinlich genauer überlegen, ob eine ausführliche Besprechung über diese DaBaby-Platte überhaupt sein muss. Denn so viel kann ich gleich zu Anfang sagen: Unterhalten fühle ich mich von ihr nicht im geringsten. Sie klingt wie tausend andere Platten, das Songwriting darauf ist zerfahren und dem Rapper fehlt jegliches Charisma. Der Grund, warum ich diesen Text aber trotzdem verfasse, ist im wesentlichen der, dass das für diesen Rapper durchaus etwas neues ist. Soll heißen: Bisher fand ich den Output von DaBaby eigentlich gar nicht so verkehrt, zumindest in der kurzen Zeit, die ich diesen überhaupt verfolgt habe. Aufmerksam wurde ich auf den MC aus North Carolina dabei anfang letzten Jahres, als er auf dem renommierten Freshmen-Cover des Hiphop-Magazins XXL aufgeführt wurde und sich dabei durchweg als einer der wahrhaft talentierten Künstler dieses Rasters etablierte. DaBaby war jemand, der genausoviel schicke Cloudrap-Credibility hatte wie echte lyrische Skills und sogar einen gewissen Tiefgang, was ihn zwischen schwammigen Croonern wie Lil Baby und klanglichen Abziehbildern wie Megan Thee Stallion zu einer positiven Überraschung machte. Eine Ahnung, die er einige Monate später auf seinem zweiten Album Kirk bestätigte, das nicht nur klanglich und performativ ziemlich fett war, sondern auch sehr intime Töne anschlug und ernsthaft Persönlichkeit zeigte. Zusammen mit diversen Fakten und wilden Gerüchten über seine kriminelle Vergangenheit (inklusive einem sehr realen Mordprozess, der in Bezug auf ihn gerne unter den Teppich gekehrt wird), schien das DaBaby zu einem Typen zu machen, der zwar kontrovers war, aber definitiv auch mehr zu bieten hatte als das bloße Aufzählen von Modemarken und verschreibungspflichtigen Medikamenten, was ihn immerhin zu einer Hoffnung machte. Und Kirk war dafür auf jeden Fall ein guter Anfang. Doch scheint für diese Art von Narrativ auf seinem neuesten Projekt eher wenig Platz zu sein und DaBaby eher Bock zu haben, sich im Stil seiner Kolleg*innen zu verlieren. Blame It On Baby ist so gut wie durchgängig eine Anbiederung an die Sorte Cloudrap, von der sich der Rapper im letzten Jahr eigentlich so angenehm unterschied und sammelt willkürlich die billigen Trends auf, die er bis jetzt immer clever umschiffte. In den etwas mehr als 30 Minuten, die diese Platte dauert, lässt er dabei vor allem viel von seiner lyrischen Stärke fallen. Sicher ist sein Flow hier nach wie vor etwas zackiger als der Szene-Durchschnitt und noch immer geht es hier im wesentlichen um roughen Kriminellen-Shit statt um Autos und Klamotten, trotzdem verliert er hier eben dadurch viel Charakter, dass er sich dabei auf erzählerische Allgemeinplätze reduziert und nicht seine Geschichte erzählt, sondern die jedes beliebigen Internet-MCs. Dass mit Quavo, Roddy Ricch und Megan th Stallion auch sehr langweilige Gastparts dabei sind, macht das nicht gerade besser. Wobei das sogar noch mehr oder weniger klar geht. Das weitaus schlimmste an dieser LP ist nämlich mit Abstand die ziemlich ekelhafte Produktion, die vor allem zeigt, wie kommerziell DaBaby hier plötzlich sein will. Dafür, dass dieser Typ so ein harter Kerl ist, ist es ziemlich bieder, wie er hier konsequent jedes zweite Schimpfwort wegmuten lässt, und das selbst im eigenlichen Explicit Cut. Das ist nicht etwa doof, weil ich DaBaby unbedingt fluchen hören will, sondern weil es einfach seinen Flow total stört und man schon irgendwie das Gefühl von Pfuscherei hat, weil es nachbearbeitet klingt. Hätte der Künstler selbst jugendfreie Texte gewollt, hätte er sie ja wahrscheinlich geschrieben. Was erschwerend hinzu kommt, sind die nervigen Producer Tags, die in so gut wie jedem Track dabei sind und so ungeführ den Coolnessfaktor von Werbebannern bei YouTube haben. Eigentlich sind solche Sachen ja Kleinigkeiten, doch wenn man bedenkt, dass die Stücke hier durchweg sehr kurz sind und es trotzdem immer mehrere Störfaktoren gibt, lenkt das einfach vom musikalischen Erlebnis ab. Und das ist ja an sich schon so eher mittelprächtig. Ich kann verstehen, dass DaBaby solche Sachen nicht zum Spaß macht und er am Ende des Tages wahrscheinlich genau diesen Mainstream-Appeal erreichen will, aber ich muss das deshalb noch lange nicht gut finden. Vor allem, da ihm offenkundig nicht das Talent fehlt, sich von der Masse abzusetzen und sein eigenes Ding zu machen. Und sicher wird das früher oder später auch passieren. Wenn sein Output in diesem Tempo weitergeht und er es schafft, weiterhin mehrere Alben pro Saison zu veröffentlichen, kann er schließlich beides tun: Eine hochwertige Story-Platte für die gute Presse aufnehmen und ein Pop-Mixtape für die Streamingzahlen. Ich wäre damit auf jeden Fall okay. Denn so kriege ich hoffentlich weiter gute Songs von ihm und er muss nicht gleich zu Quavo werden, damit die Knete stimmt. Was dann aber definitiv bedeuten würde, dass Sachen wie Blame It On Baby in die Ferner Liefen-Rubik abgeschoben werden. Denn schon diese Besprechung ist eigentlich eine zu viel.



Hat was von
Lil Pump
Harverd Dropout

Lil Yachty
Lil Boat

Persönliche Höhepunkte
Pick Up | Find My Way | Jump | Champion | Amazing Grace

Nicht mein Fall
Can't Stop | Find My Way | Rockstar | Blame It On Baby | Nasty


Dienstag, 21. April 2020

Switched-On Orwell

[ chaotisch | dystopisch | vielschichtig ]

Dass Enter Shikari in meinen Augen seit den letzten drei Jahren als Band nicht nur offiziell rehabilitiert sind, sondern tatsächlich ein kleines bisschen zu einem Leidenschaftsthema für mich geworden sind, liegt eigentlich eher an mir selbst als an ihrer Musik. Sicher, mit the Spark von 2017 strukturierte sich das Quintett aus Sheffield stilistisch neu und fand einen eingägigeren und spannenderen Sound, doch hätte bestimmt auch der nichts gebracht, hätte ich mich nicht proportional dazu aus meiner verachtenden Indie-Ignoranz ihnen und anderen Acts gegenüber begeben und wäre generell ein aufgeschlossenerer Musikhörer geworden. Gemeinsam mit Bands wie Bring Me the Horizon oder Beast in Black sind sie eine der großen Freuden, die mit meine neu gefundene Toleranz für pathetische Rockmusik beschert hat und tatsächlich fand ich im Endeffekt weniger the Spark plötzlich gut als dass ich Begeisterung für Teile ihrer Diskografie entwickelte, die ich vorher ziemlich dämlich fand. Dass ich deshalb gleich für jeden Mist zu haben bin, heißt das aber lange noch nicht. Und auch wenn ich Enter Shikari für ihren stilistischen Balanceakt zwischen Punkrock, Elektropop, Metalcore und Emo-Crunk mittlerweile sehr schätze, leben sie als Band, die sich kurzlebige Trends regelmäßig fünf bis zehn Jahre zu spät aneignet, doch gefährlich. Ihre Art von Musik ist 2020 eine schwierige Angelegenheit, denn zwischen off-brandigem Anti-Hipster-Geheimtipp und echtem Totalausfall ist es oft nur ein schmaler Grat. Und wo the Spark vor drei Jahren in seinen besten Momenten ersteres war, ist Nothing is True and Everything is Possible in vielerlei Hinsicht das Gegenteil. Was auch gerade daran liegt, wie ähnlich sich die beiden Platten in vielen Attributen sind. Genau wie auf dem Vorgänger basteln Enter Shikari hier an einem Narrativ herum, das sich sehr dystopisch-Black Mirror-mäßig liest und damit von vornherein sehr bedeutungsschwanger daherkommt. Das letzte Album löste das damit, dass es an gewissen Punkten fast eine Persiflage auf sich selbst war und stark überzeichnete, hier hingegen verpassen die Briten diesen Punkt. Mehr noch, mit sinfonischen, mehrteiligen Songkonzepten, opulenten Orchesterparts und Titeln wie Marionettes (Part Eins und Zwei, ugh!) oder Modern Living.... - passenderweise mit edgy Sonderzeichen und unsteter Groß- und Kleinschreibung verpasst - wollen sie hier plötzlich die ernsthafte Orwell-Nummer abziehen. Nur dass sie in dieser Rolle einfach nicht besonders gut dastehen. Ihre Songs sind weder besonders futuristisch noch besonders angepisst, ihre Inhalte klopfen ziemlich plakative  Boomer-Paranoia ab und mit den letzten beiden Platten von Twenty One Pilots ist schon allein ihr wesentlicher klanglicher Bezugspunkt ein denkbar mieser. Dabei ist es mit Enter Shikari eigentlich wie mit Muse: Das retrofuturistische 1984-Ding ist nichts, woran ihr musikalischer Ansatz prinzipiell scheitert, nur muss er richtig inszeniert sein. Wie das geht, sieht man an den Momenten, die positiv wie negativ herausstechen. Tracks wie the Great Unknown, Satellites * * oder thē Kĭñg (diese Titel, ernsthaft!) sind deshalb stark, weil sie einfach nur versuchen, gute kreative Popsongs zu sein und die Thematik ein bisschen abstrakter behandeln. Modern Living.... hingegen ist doof, weil es darin Zeilen wie "We're apocaholics, drinking gin and tonic" darin gibt, die klingen, als hätte sie ein Dreizehnjähriger geschrieben, nachdem er zum ersten Mal Fight Club gesehen hat. Und letzteres sind Sachen, die diese Band eigentlich nicht machen müsste. In der Vergangenheit hat sie ja bereits gezeigt, wie überraschend unpeinlich sie sich politischen Dystopien diverser Art widmen können, was sie hier plötzlich vergessen zu haben scheinen. Erschwerend hinzu kommt, dass sie auf Nothing is True... dermaßen viel Zeit damit zubringen, aufwändige Orchester-Scores und unnötige Interludes zu schreiben, dass ihr gutes Songwriting zu selten zum tragen kommt. Die ersten beiden Stücke der Platte sind zwar schwer in Ordnung und auch das letzte Drittel der Platte versöhnt mich mit einigen groben Schnitzern, doch vor allem im Mittelteil erlebt diese LP eine schwer pretenziöse und grauenvolle Durststrecke, die viel sein will, aber der einfach die kompositorische Substanz fehlt. Viele der klassischen Einflüsse wirken dabei deplatziert, mittelmäßige Hooks werden mit doppelten und dreifachen Reprisen hofiert und auch die eingespeisten Dancefloor-Beats helfen zumeist wenig. Die besten Momente bleiben tatsächlich die, in denen sich die Band wenigstens halbwegs zusammenreißt (ohne ein Mindestmaß an Frickelkram geht es bei ihnen ja nie) und dem ganzen Zinnober wenigstens einen gescheiten Song zugrunde legt. Und an sich sollte das als Grundformel ja nicht so schwierig sein, doch Enter Shikari sind schon immer eine Gruppe, die sich diese Tugend ab und zu wieder ins Gedächnis rufen muss. Wenn sie es tun, kommen großartige Hits dabei raus. Wenn nicht, kann es übel werden. Auf Nothing is True... geht die Nummer am Ende noch ziemlich glimpflich aus, aber man kann es als Warnsignal sehen: Diese Band ist nicht scheiße, aber sie kann es sehr schnell werden. Vor allem dann, wenn man es am wenigsten erwartet.



Hat was von
Twenty One Pilots
Trench

Bring Me the Horizon
Amo

Persönliche Höhepunkte
the Great Unknown | Crossing the Rubicon | T.I.N.A. | Satellites * * | thē Kĭñg | Waltzing Off the Face of the Earth (II. Piangevole)

Nicht mein Fall
Waltzing Off the Face of the Earth (I. Crescendo) | Modern Living.... | Apøcaholics Anonymøus | Elegy for Extinction | Marionettes (I. & II.)


Montag, 20. April 2020

Gravitative Zeitdilatation im Einzugsgebiet schwarzer Löcher

[ finster | psychedelisch | außerirdisch ]

Man muss Oranssi Pazuzu eines echt lassen: In den knapp 15 Jahren, in denen sie nun schon existeren, haben sie es wirklungsvoll geschafft, in der Welt des extremen Metal eine sehr individuelle musikalische Nische zu besetzen. Sicher, die potenzielle Zielgruppe für space-avantgardistischem Postpunk-Psych-Prog-Black Metal auf finnisch war und ist von vornherein keine besonders große und die Band ist allein durch ebendiese Ausrichtung schon ziemlich nischig, doch lässt sich nicht abstreiten, dass sie sich gerade mit diesem Alleinstellungsmerkmal in gewissen Kreisen einen Namen gemacht haben. Selbst im sehr viel bunter gewordenen Metal-Zirkus der letzten Dekade ist das Quintett aus Tampere mit seinem eigenwilligen Stilmix noch immer recht exotisch unterwegs und strotzt jeder Einordnung, was vor allem daran liegt, wie sie kompositorisch arbeiten. Im Gegensatz zu vielen Artverwandten bedeutet stilistische Vielschichtigkeit für sie nämlich nicht, diverse Genres einfach Mashup-mäßig aneinander zu leimen, sondern beginnt in der Substanz. Oranssi Pazuzus Sound ist mehr oder weniger ein komplettes Eigengewächs, das in jedem Moment unglaublich vieles ist. Und gerade diese Qualität hat die Gruppe seit ihrer Gründung erkannt und kontinuierlich weiterentwickelt, wobei mein persönlicher Höhepunkt dieser Metamorphose eindeutig ihr letztes Album Värähtelijä ist. Die finstere Suppe, die die Finnen bis zu diesem Zeitpunkt aus den Strukturen diverser Rock-Ausprägungen zusammenkochen, wird auf dieser LP von 2016 endgültig zum Urschleim, aus dem ein völlig neuer klanglicher Mutant ersteht, der einen Neuanfang für die Band repräsentiert. Wie man diesen in Genre-Begriffen treffend bezeichnet, ist mir vier Jahre später immer noch nicht ganz klar, Fakt ist allerdings, dass Oranssi Pazuzu damit eines der besten Metal-Alben der letzten Dekade gelingt, für dessen Nachfolger ich natürlich hohe Erwartungen hatte. Und nach fast schon wieder einem halben Jahrzehnt wurde es dafür auch echt Zeit. Wobei Mestarin Kynsi auf den ersten Blick alles ist, was ich von den Finnen nach Värähtelijä hören wollte: Klanglich wie kompositorisch beschreitet die Platte weiter die Pfade ihres Vorgängers und ist in vielerlei Hinsicht sowas wie dessen kleiner Bruder. Noch immer schreiben Oranssi Pazuzu langatmige, extrem düstere Spacerock-Jams, die Bilder von postapokalyptischen Sternenwüsten, schwarzen Löchern und außerirdischen Folterkammern hervorrufen, wobei viele der neuen Tracks noch ein bisschen tiefer ins experimentelle Knochenmark bohren. Die grandiose Arbeit mit Dissonanzen, die die letzte Platte schon leistete, wird hier nochmal erweitert und führt zu großartigen Momenten wie den expressionistischen Orchesterparts in Oikamelisten Sali oder Kuulen Ääniä Maan Alta. Auch ist Mestarin Kynsi wieder wesentlich klarer als Metal-Album auszumachen, was manche Stellen ein wenig an Bands wie Imperial Triumphant oder Artificial Brain erinnern lässt und ebenfalls echt Spaß macht. Es bedeutet aber auch - und das ist für Neugierige durchaus als Warung zu verstehen - dass vieles an dieser LP insgesamt noch unzugänglicher ist als zuvor. Das ist ein generelles Problem von Oranssi Pazuzu, bei dem ich auch als passionierter Fan zugeben muss, dass selbst eine Lieblingsplatte wie Värähtelijä manchmal etwas Zeit zum eingrooven braucht, und Mestarin Kynsi ist in dieser Hinsicht noch härter. Besonders die ersten beiden Stücke sind eigentlich nicht schlecht, verbringen aber sehr viel Zeit in angespannter Lauerstellung, was beim ersten Hören echt frustrierend sein kann. Ich sage das aber gerade deshalb, weil es sich trotzdem lohnt, dem Album die entsprechende Zeit zu geben und das Hörerlebnis beim zweiten und dritten Mal erheblich besser wird. Und wer die Geduld mitbringt, die Platte sozusagen atmen zu lassen, wird vor allem in der zweiten Hälfte mit ein paar echt epischen Momenten belohnt. Mestarin Kynsi ist also im Endeffekt mindestens genauso gut wie sein Vorgänger, es braucht nur etwas mehr Motivation und Zen, um in seinen Modus zu kommen. Vielleicht liegt das auch ein bisschen daran, dass es nicht den gleichen Überraschungsfaktor mit sich bringt wie die letzte LP. Was aber unterm Strich steht ist ein weiteres ziemlich geniales Gesamtwerk der finnischen Horror-Kosmonauten, mit dem sie mich ein weiteres mal fasziniert haben. Auch wenn es diesmal ein bisschen mehr Aufwand war.



Hat was von
Swans
the Seer

Imperial Triumphant
Vile Luxury

Persönliche Höhepunkte
Uusi Teknokratia | Oikamielisten Sali | Kuulen Ääniä Maan Alta | Taivaan Portti

Nicht mein Fall
-


Sonntag, 19. April 2020

the Dark Knight

[ düster | kriminell | antagonistisch ]

Dass es in den letzten vier Jahren eine ganze Menge junger und aufstrebender Deutschrap-Künstler*innen gab, die von allen möglichen Leuten als das große neue Supertalent des Marktsegments auserkoren worden, ist 2020 kein Geheimnis mehr und schon seit einer Weile ist das eigentlich auch nicht der Rede wert. Für die digitalen Hypebeasts der Szene gibt es inzwischen  so gut wie jede Woche irgendeinen austauschbaren Act, den man jetzt unbedingt im Auge behalten sollte und das Genre angeblich grundlegend verändert. Dass die meisten davon letztendlich nicht die große Welle schlagen und ihre 15 Minuten im Rampenlicht von den Fridl Achtens dieser Welt mittlerweile in Echtzeit gestoppt werden, liegt dabei in der Natur der Sache und ist in stilistischen Umbruchsphasen wie dieser auch irgendiwie normal. Ich für meinen Teil bin dennoch immer ziemlich froh, wenn ich mich aus dieser Sache raushalten kann und nehme dann auch gerne in Kauf, tatsächlich relevante Beiträge erst zu besprechen, wenn der Staub sich gelegt hat. Wobei auch ich in den letzten Jahren auf ein paar Pferde gesetzt habe. Mit Haiyti und Juicy Gay waren einige davon recht erfolgreich, andere wie Jace brauchen wahrscheinlich noch ein bisschen. Eine meiner größten Hoffnungen ruht seit etwa 2017 aber auf einem jungen Berliner MC namens Samra, der inzwischen auch lange kein unbeschriebenes Blatt mehr im Deutschrap-Kosmos ist. Vor einigen Jahren ausgerechnet von Bushido aus dem Prominenz-Lostopf gezogen, war er nach dessen Label-Querälen letztes Jahr Juniorpartner von Capital Bra auf dem großartigen zweiten Berlin lebt-Album und ist mittlerweile sowas wie der kleine Stiefbruder des Straßenrappers. Wobei er als solcher bisher wenig eigenes Material veröffentlicht hat. Unter eigenem Namen erschien 2019 lediglich eine EP, weshalb mein guter Eindruck von ihm bis hierhin wesentlich auf Features lastete. Die allerdings waren dann auch Eins A. Auf Berlin lebt 2 zeigte er sich als mindestens gleichwertiger Sparringpartner für Capital Bra und auf dem letzten Bushido-Album waren seine Parts sogar um Welten besser als die des Hauptakteurs. Und obwohl die Kritik, dass Samras Stil von seinen beiden musikalischen Ziehvätern vielleicht etwas zu stark beeinflusst ist, durchaus berechtigt ist, sehe ich das doch relativ. Zum einen könnte man nämlich sehr vielen deutschen Rapper*innen zurzeit vorwerfen, nach jeweils beiden klingen zu wollen und was dieser Typ hat am Ende daraus macht, hat wenigstens den notwenigen Charakter. Er versteht es wie wenige seiner Kolleg*innen, den zeitgenössischen Cloud-Vibe inhaltlich aufzunehmen und daraus ein ernsthaft spannendes Selbstporträt zu basteln, das dann auch wirklich tiefgründig ist. Besonders aus Perspektive der im Deutschrap omnipräsenten toxischen Maskulinität sind seine Texte extrem spannend, da ihm diese zwar auch anhaftet, er sie aber häufig als problematisch anerkennt und selbst zum zentralen Thema macht. Samra ist in seinen Songs häufig ein Scheißkerl, er sieht das aber auch ein und hadert hörbar damit. Das macht ihn vielleicht nicht gleich total woke und stellenweise bleiben auch hier viele Lyrics problematisch, aber künstlerisch wahnsinnig ist dieser Ansatz wahnsinnig interessant. In seinen bisherigen Tracks wie auch auf diesem Debüt baut er sehr geschickt das Image eines kaputten Antihelden auf, der gerne ein anderer sein möchte, aber immer wieder in alte Gewohnheiten rutscht. Was als Teig für so einen Erstling schon mal gar nicht schlecht ist. Nur hat Jibrail & Iblis leider das Problem, dass es von diesem Punkt aus nicht weiterkommt. Als reines Charakterportät ist vieles hier nicht so schmissig und euphorisch gehalten wie auf Berlin lebt 2 und auch wenn er insgesamt drei Features hat, gibt es diesmal eben nicht immer einen Capital Bra, der im Zweifelsfall die richtige Hook parat hat. Stattdessen gibt sich Samra hier fast durchweg düster und nachdenklich, was vor allem dann zum Problem wird, wenn er das in 22 Songs in über einer Stunde tut. Denn so gut aufgebaut sein Image auch sein mag, es reicht nicht, um alleinstehend ein Album dieser Größe zu füllen. Es gibt Tracks wie Zu Ende, Jolina oder den Titelsong, in denen der Rapper sich an dramatischem Storytelling versucht, doch findet das auch eher im Hintergrund der üblichen Parameter Koks, Depression, Religion und Streit statt. Es ist tatsächlich ein bisschen, als hätte Samra die schmalzigeren Nummern von der Berlin lebt-Platte genommen und sie einfach viele Male dupliziert. Und wo ich sie dort als abwechslungsreiche Moodsetter mochte, können sie hier keine komplette Dramaturgie stemmen. Und das ist echt schade, denn so scheitert Jibrail & Iblis nicht am fehlenden Talent dieses Künstlers, sondern an einer einseitigen Ausführung, die vermeidbar gewesen wäre. Klar ist es gut, dass Samra auf seinem ersten eigenen Album seinen musikalischen Charaker zementiert, aber dazu hätte auch ein Drittel der Songs gereicht. Die Aufgabe hier wäre gewesen, darauf aufzubauen und ihn zu erweitern, was definitiv zu kurz gekommen ist. Das heißt wenn das hier ein Film wäre, gäbe es zwar die Auszeichnung für den besten Hauptdarsteller, aber herbe Rügen für das lückenhafte Drehbuch. Und das will ja nun auch niemand sehen.



Hat was von
Capital Bra
Berlin lebt

Bushido
Black Friday

Persönliche Höhepunkte
95 BPM | Gebet | Jolina | Berlin | Mon Ami

Nicht mein Fall
Zu Ende | 510