Dienstag, 29. Oktober 2019

Rosa Rausch

[ atmosphärisch | brachial | dynamisch ]

Es wurde in den letzten Jahren so oft gesagt, dass man es eigentlich schon wieder nicht mehr hören kann: Das klassische Rockalbum ist in einer Krise, das dominanteste Genre des letzten Jahrhunderts schafft sich ab, es gibt keine neuen Impulse mehr, Rock wird der neue Jazz, der Zahn ist gezogen. So oder so ähnlich argumentierten zuletzt viele, mich mitunter eingeschlossen, die Aufmerksamkeitsverschiebung, die sich gerade in der Popmusik vollzieht. Und man kann es ja auch schlecht abstreiten: Die Zwotausendzehner sind der erste größere Zeitabschnitt seit den Fünfzigern, in der es ziemlich mau aussieht für Rock als Innovationskraft. Was aber noch lange nicht heißt, dass es die entsprechenden Innovationen überhaupt nicht gab. Denn wann immer ich darauf angesprochen werde, dass es in den letzten zehn Jahren kein Rockalbum gab, das künstlerisch Dinge in Bewegung setzte und stilistische Grenzen sprengte, kann ich zumindest immer auf ein Gegenbeispiel verweisen: Sunbather von Deafheaven. Die eine Platte, deretwegen man im Metal mittlerweile in ein "davor" und "danach" unterscheiden muss und die nicht nur einen Trend setzte, sondern die kurzzeitig Diskussionen darüber auslöste, was hier am Ende nun dazu gehört und was nicht. Es wäre dabei unfair zu behaupten, Deafheaven hätten diese Umwälzung im Alleingang gestaltet. Es gibt eine ganze Reihe von Bands wie Wolves in the Throne Room, Krallice, Alcest, Lantlôs, Liturgy oder Agalloch, deren Input teilweise bis in die Zwotausender zurückreicht und die als Wegbereiter unabdingbar waren, doch war Sunbather letztendlich der Angelpunkt, der Nevermind-Moment, an dem das Rinnsal zum Strom wurde. Das wiederum liegt vor allem daran, dass die Kalifornier die ersten waren, die sich auch um das ganze Drumherum machten. Ein Teil des Erfolgs dieser LP ist sehr wahrscheinlich auf den genialen Etikettenschwindel zurückzuführen, den Deafheaven hier mit ihrem Artwork betreiben. Das elegant blassrosane Cover mit dem minimalistisch stilisierten Albumtitel erfüllt nämlich gleich zwei Kriterien auf den ersten Blick: Es ist der direkte Affront mit den Szene-Purist*innen auf der einen Seite, auf der anderen holt es die im Metal so seltene Laufkundschaft ab. Als ich im Sommer 2013 Sunbather zum ersten Mal zu hören anhub, ging ich davon aus, hier gleich Indiepop oder R'n'B vorgesetzt zu kriegen, nur um dann direkt mit der ersten Break in Dream House von der Klippe gestürzt zu werden. Von diesem Moment an war ich in das Album verliebt. Es war zum einen der clevere Prank, zum anderen das direkte Outing der Band: Das hier ist keine normale Black Metal-LP. Und dass Deafheaven dieses versprechen halten, zeigten dann ja auch die restlichen 59 Minuten. Sunbather ist eine Art mystisches Zwischenwesen, an dem klare Stilzuweisungen immer ein bisschen abperlen. Die Dynamik und Aggressivität hat es vom Black Metal, die Psychedelik und den raumgreifenden Klang vom Shoegaze, die Komposition vom Postrock, die Dringlichkeit vom Screamo und ein paar Elemente kann man sogar im Drone und Kammerpop verorten. Dennoch wirkt es nicht wie ein Flickenteppich aus Stilen, sondern wie aus einem Guss, als wäre diese Kombination das logischste der Welt. Das ist insbesondere erstaunlich, weil gerade die beiden Hauptattribute, Black Metal und Shoegaze, in ihrer Ästhetik eigentlich völlig konträr sind. Was selbstverständlich ebenso viele bewundernde wie abfällige Reaktionen hervorrief. Sunbather war eines der wenigen Metal-Projekte des Jahrzehnts, das auch von szenefremden Formaten als übergreifende Sensation gefeiert wurde. Publikationen wie Noisey und Pitchfork waren ganz vorne mit dabei, die Band zu promoten, die Platte landete in den US-Charts und ein Publikum, das sonst eher Hiphop und Elektro hörte, hatte plötzlich einen Berührungspunkt mit einem Genre, das eigentlich sehr stolz auf seine Existenz als Nischenphänomen war. Das rief natürlich über kurz oder lang die Szenepolizei auf den Plan. Die waren schnell dabei, die "Hipsterschwuchteln" aus Los Angeles kollektiv zu exkommunizieren und warfen ihnen (teils berechtigterweise) künstlerische Plagiate vor. Andere wiederum stießen sich daran, dass ausgerechnet Deafheaven nun die Posterboys einer Stilbewegung waren, die ihre Ursprünge eigentlich ganz woanders hatte. Und mit steigendem Erfolg wurde auch der Druck größer: Als eine der ersten Bands wurden die Kalifornier Opfer journalistischer Hexenjagden, die bei Black Metal-Acts Verbindungen ins NSBM*-Lager an der Haaren herbeizogen. Es wurde viel mit Dreck geworfen, zumeist sicherlich aus Missgunst. Doch das was blieb, war die Veränderung, die Deafheaven eingeleitet hatten. Innerhalb weniger Jahre bildete sich ein ganzer Haufen an sehr ähnlich klingenden Gruppen wie An Autumn for Crippled Children, Sun Worship, Sannhet oder Ghost Bath, die den Stil weitertrugen. Andere wie Der Weg einer Freiheit oder Downfall of Gaia sprangen auf die atmosphärische Ästhetik auf, sodass wenig später von "Atmospheric Black Metal" als Subgenre die Rede war. Aber auch indirekt hatte die Platte Effekte. Sie rückte die Metal-Szene ein Stück ins Licht und gab vor allem Grenzgängern die Chance, sich darin zu profilieren. Acts wie Myrkur, Oranssi Pazuzu, Oathbreaker oder Zeal & Ardor wären ohne die Nachwirkungen von Sunbather wohl wesentlich weniger erfolgreich geworden. Der eingeschlafene Untergrund, der seit Jahren so furchtbar konservativ geprägt war, wittert Morgenluft und lotet seine Möglichkeiten aus. Das alles geschieht freilich nicht allein durch dieses eine Album dieser einen Band, aber man kann schon sagen, dass Sunbather Symbolcharakter hat. Wenn eine Rock-LP aus dem vergangenen Jahrzehnt das Zeug dazu hat, ein Klassiker zu werden, dann mit Sicherheit diese hier. Denn sie hat die Gemengelage des Metal gewaltig verschoben und sie ist verdammt gut. Mehr Argumente braucht es in meinen Augen auch nicht.

Klingt ein bisschen wie
My Bloody Valentine
Loveless

Der Weg einer Freiheit
Stellar

Persönliche Highlights: Dream House | Irresisteable | Sunbather | Please Remember | Windows | the Pecan Tree

* NSBM = National Socialist Black Metal, ein Subgenre internationaler Black Metal-Bands, die offen rassistische, homophobe und teils antisemitische Inhalte propagieren.