Montag, 31. Mai 2021

Satire seine Mutter

K.I.Z - Rap über HassK.I.Z
Rap über Hass
Vertigo Berlin
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ vulgär | asozial | hässlich | großartig ]
 
Es ist im Mai 2021 keine Neuigkeit mehr, dass K.I.Z eine Band ist, die musikalisch gerne mal über die Strenge schlägt. Seit mittlerweile über 20 Jahren sind sie in der ganzen Bundesrepublik für ihre vulgären und asozialen Texte berühmt und berüchtigt, von denen explizite Gewalt, schlechte Manieren und grausame Bildsprache quasi der hauptsächliche Selling Point sind. Und es ist auch nichts neues, dass Leuten das ab und zu übel aufstößt, wie man hier gleich im Intro des titelgebenden Openers hört. Was mir im Zuge dieses neuen Albums jedoch das erste Mal aufgefallen ist, ist dass Kritik an ihnen inzwischen auch zunehmend aus dem Spektrum kommt, aus dem sie selbst stammen. Insbesondere junge Linke wettern im Internet aktuell gegen die Berliner und Rap über Hass, was mich ehrlich gesagt ein bisschen verwundert. Erstens deshalb, weil diese Inhalte ja absolut nichts neues sind und zweitens deshalb, weil ich dachte, dass solche Nörgeleien der konservativen Mutti-Fraktion dieser Welt vorbehalten sind. Sicher sind die Jokes und Lyrics von K.I.Z nicht für jedes Gemüt was und ich kann durchaus verstehen, dass man vieles davon vielleicht geschmacklos findet, ihnen ernsthaften Problematismus zu unterstellen, passt in meinen Augen allerdings nicht ganz. Es ist absolut offensichtlich, dass die Musik auf Rap über Hass, genauso wie die Musik dieser Band früher - ein ekelhaftes Zerrbild von Rap- und Horrorcore-Klischees ist und primär dazu dienen kann, Sachen wie Misogynie, Gewaltherrlichkeit und Hassrede in der Szene zu begegnen, die Andere Künstler*innen wesentlich ernster meinen. Und zu sagen, K.I.Z wären deshalb problematisch, hat für mich etwas von dem Argument aus den Neunzigern, dass Killerspiele und Marylin Manson verantwortlich für Amokläufe seien. Sicher gibt es einige, die Musik wie diese in den falschen Hals bekommen, doch sehe ich das zu kritisierende Element dabei nicht in der Band dahinter, sondern in den besagten Hörer*innen. Ich sage das, weil ich das Gefühl habe, hier einen sehr positiven Eindruck verteidigen zu müssen, den anscheinend wenige dieser LP entnehmen. Was ich auch irgendwie verständlich finde, denn nach einer ganzen Weile des provokativen Rückzugs ist Rap über Hass eine Platte, die ganz bewusst an diese Grenze geht. Und von der ich finde, dass sie K.I.Z als Gruppe wieder sehr viel interessanter macht. Nachdem die letzten beiden Alben der Berliner ja verhältnismäßig zaghaft waren und mit Hurra die Welt geht unter sogar einen ziemlich unkontroversen Konsens-Hit produzierten, dachte ich, man wäre aus der pubertären Troll-Phase heraus und würde jetzt doch endlich die Pop-Lorbeeren abgreifen. Zumal im letzten Dezember mit Und das Geheimnis der unbeglichenen Bordellrechnung ja die asoziale Pöbel-Seite von K.I.Z schon auf einem Mixtape von der Leine gelassen wurde und die Vermutung nahelegte, dass solche Inhalte auf dem richtigen Album eher die zweite Reihe einnehmen würden. Stattdessen ist die fertige LP aber nicht weniger als ein Meisterwerk des überzogenen Psychopathen-Rap geworden, den ich bei ihnen so lange vermisst habe. So gut wie jeder Song hier holt aus dem Konzept der zugekoksten, gewaltbereiten Hartkanten-Ästhetik das absolute Maximum raus und liefert dabei geniale Punchlines ohne Ende. Der Unterschied zum eher skizzenhaften Bordellrechung-Tape ist dabei, das auch noch fast alle Songs riesige Banger sind. Mit Tracks wie Ich ficke euch (alle), Unterfickt und geistig behindert (dessen Hook richtig gut bei den Beastie Boys geklaut ist), Mehr als nur ein Fan und dem fast hymnischen Kinderkram kriegen es K.I.Z ein weiteres Mal hin, Texte an den Außengrenzen des schlechten Geschmacks mit einer fast schon verbotenen Eingängigkeit zu vereinen, die sicherlich auch in entsprechenden Chartplatzierungen resultiert. Wobei auch die Stücke in der zweiten Reihe definitiv alles andere als Deep Cuts sind und selbst halbe Interludes wie Ja oder 2 Nicos gehörig ballern. Zum ersten Mal muss ich bei dieser Band außerdem sagen, wie cool ich die musikalische Ausarbeitung und die Produktion hier finde. K.I.Z waren für mich früher immer eine Band, die Beats, Hooks und gutes Mastering irgendwie als schmückendes Beiwerk betrachteten, was selbst ihre besten Texte oft ein bisschen dürftig präsentierte. Auf Rap über Hass allerdings nimmt das Thema Instrumentals erstmals eine zentralere Rolle ein und wird auch direkt richtig gut gemacht. Sicher ist die Musik dann nicht gleich auf Kanye West-Niveau (klangästhetisch eher auf dem der letzten Orsons-Sachen), doch klingt sie weder so öde noch so altbacken und tumb wie auf vielen alten Platten. Nimmt man letztlich also alles zusammen, was dieses Album ausmacht, so muss ich ehrlich gestehen, wie sehr mich seine Qualität doch überrascht. Eigentlich alles, was an diesen Songs gemacht wurde, wurde richtig gut gemacht und auch als konzeptuelles Gesamtwerk haut das hier vorne und hinten hin. Es fühlt sich zwar in diesem Moment noch ein bisschen komisch an, das hier als eines meiner bisherigen Highlights von ganz 2021 zu bezeichnen, zumal ja schon die Bordellrechnung bei mir richtig abräumte, praktisch ist es das aber ganz einfach. Und kontrovers finde ich das für mich persönlich eigentlich kein bisschen. Zumindest solange mich dieses Album nicht zum Töten von Menschen motiviert.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢10/11

Persönliche Höhepunkte
Rap über Hass | Ich ficke euch (alle) | VIP in der Psychatrie | Unterfickt und geistig behindert | Bitte sag's nicht meiner Freundin | 2 Nicos | Definition von Glück | Ja | Mehr als nur ein Fan | Filmriss | Was ist los | Kinderkram

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Zugezogen Maskulin
Kauft nicht bei Zugezogenen

Die Orsons
TourLife4Life


Sonntag, 30. Mai 2021

Bennyssaince

Benny the Butcher & 38 Spesh - Trust the SopranosBENNY THE BUTCHER & 38 SPESH
Trust the Sopranos
Trust Music | Air Vinyl
2021
 
 



 
 
 
[ progressiv | eingängig | charismatisch ]

Dass mir die Jungs von Griselda wichtig sind, merke ich selbst schon allein deshalb immer wieder, weil ich hier ständig über sie schreibe, obwohl es mich eigentlich schon ein bisschen nervt. Irgendwann in diesem Frühjahr hatte ich mir vorgenommen, ihre Alben nur noch zu besprechen, wenn diese mich wirklich interessieren und ich darin einen ersthaften Mehrwert oder eine künstlerische Veränderung sehe. Seitdem habe ich allerdings in jedem Monat Artikel über sie verfasst, bin mit diesem hier sind das nun schon schon genauso viele wie 2020 in der gesamten Saison. Zugegeben, keiner dieser Posts war besonders positiv gestimmt und es ging mir darin vor allem darum, die klangliche Umbruchsphase des Kollektivs zu dokumentieren, doch war diese bis dato zumindest nicht uninteressant. Auch wenn man sagen kann, dass die Wegbewegung der New Yorker vom gemeinsamen Label-Sound und die Ausarbeitung klarerer individueller Ästhetiken 2021 doch eher noch durchwachsen war. Und gerade Benny the Butcher war dabei in meinen Augen ein besonderer Sorgenfall. Mit seinen beiden jüngst veröffentlichten Alben Burden of Proof und the Plugs I Met 2 gewöhnte er sich eine ziemlich glamouröse Klangbegleitung an, die meiner Meinung nach nicht wirklich zu ihm passte. Eigentlich wäre meine Hoffnung an dieser Stelle gewesen, dass er es mal mit einem festen Producer versucht, der ihn über die Spanne eines ganzen Albums unterstützt, doch auch das ging auf letzterer LP schon ziemlich schief. Als er vor einigen Monaten sein neues Projekt mit Beatmaster 38 Spesh ankündigte, rechnete ich also mit wenig Veränderung und einer weiteren eher lahmen Platte von Benny, über die ich mal nicht schreiben müsste. Stattdessen habe ich mit Trust the Sopranos sein sicherlich bestes Album seit mindestens 2018 bekommen, über das ich definitiv schreiben muss. Wobei es nicht nur die Zusammenarbeit mit Spesh ist, die das hier besser macht, sondern auch eine überraschend offene Herangehensweise vom Butcher selbst, die beide die Sache mit dem Pop-Appeal ernsthaft anpacken wollen. Die Beats sind dabei auf jeden Fall das ausschlaggebende Element, das für eine komplett andere Stimmung sorgt. Statt einfach nur mit etwas aufpolierteren Jazz- und Soul-Samples zu arbeiten, bringt Trust the Sopranos einen fast schon elektronischen Sound ins Spiel, der mich sehr an die späten Neunziger-Platten von Puff Daddy erinnert (Minus der fetten Hooks) und dabei viel seriöser und düsterer ist als die letzten beiden LPs es waren. Und obwohl sich die Parts von Benny und seinen vielen Gästen (es gibt hier keinen einzigen Track ohne Feature) nicht gleich ins Terrain des Melodischen trauen, hört man in Tracks wie Corner oder Love Left eine zaghafte Hinwendung zu gesungenen Passagen, die der Platte extrem gut stehen. Diese beiden Faktoren machen Trust the Sopranos zu einer Art Pop-freundlichem Projekt, das nicht nach billiger Politur müffelt, sondern irgendwie Identität und Attitüde hat. Dass sie gleichzeitig auch die beste Rap-Platte von Benny seit langem ist, macht sie für mich doppelt gelungen. Thementechnisch ändert sich dabei nicht viel zu seinen letzten Sachen, mit dem Unterschied, dass gerade die Storytelling-Parts, die auf den Vorgängern immer nicht so gut klappten, hier richtig genial sind. So sind Long Story Short oder Blue Money beeindruckend emotionale Gangsterromantik-Stücke, Immunity der perfekte Moodsetter für ein so erwachsenes Albumerlebnis und Love Left ein absolutes Hiphop-Gesamtkunstwerk mit klassischem Neunziger-Vibe, einer genial souligen Hook und vor allem einem grandiosen Part von Kollegin Che Noir. Was aber jeder der zehn Tracks hier schafft ist, sowohl ein bisschen experimentell als auch ziemlich eingängig zu sein und vor allem einen souveränen Charakter aufzubauen. Wo ich Griselda-Platten vorher oft eher als Vibe-Erlebnisse mit guter Gesamtästhetik wahrnahm, überzeugt mich das hier zusätzlich dadurch, dass alle Songs ein cooles Eigenleben haben und ich von einzelnen Detail beeindruckt bin. Und das ist tatsächlich eine Sache, die in diesem Kollektiv bisher nur einer geschafft hat. Benny the Butcher zieht sich mit diesem Album also nicht nur am eigenen Zopf aus dem Sumpf (mit tatkräftiger Hilfe von 38 Spesh natürlich!), er zeigt auch, wie eine effektive Griselda-Ästhetik für 2021 aussehen kann. Eine die vom Ursprung des Hypes abweicht, aber trotzdem nicht nur existiert, im krampfhaft anders zu sein. Und ich hoffe inständig, dass Benny sich der Kraft dieser Ideen bewusst ist und ihre Fährte weiterverfolgt. Denn wenn er das tut, hat er in meinen Augen eine ziemlich ernstzunehmende künstlerische Zukunft, auch die auch ich Bock habe.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
Immunity | Price of Fame | Tokyo Drift | Long Story Short | Love Left | Blue Money | Silent Death

Nicht mein Fall
-


Hat was von
A$ap Rocky
Testing

Puff Daddy & the Family
No Way Out


Samstag, 29. Mai 2021

Retro-Review: On A Beau Dire

Jacques Brel - Marieke JACQUES BREL
No. 5 (Marieke)
Philips
1961

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ trocken | elegisch | expressiv | poetisch ]

Als ich mich vor wenigen Jahren für die Liste meiner Lieblingsplatten des Jahres 1961, die dieses Album von Jacques Brel anführte, das erste Mal mit der Musik des Belgiers beschäftigte, staunte ich doch nicht schlecht über die Vielzahl von Informationen und Analysen, die über seine Arbeit im Internet zur Verfügung standen und die eine Tiefe aufzeigen, die mir bei popkulturellen Themen selten begegnet. Sicher ist das auch gerechtfertigt, wir sprechen hier immerhin von einer bewährten Größe des frankophonen Chanson, der über drei Jahrzehnte hinweg relativ erfolgreich war und in der Welt ein gewisses Erbe hat, doch findet das, was beispielsweise die Wikipedia über ihn geschrieben ist, auf einem völlig anderen Level statt als ich das bei Popmusik üblicherweise kenne. Mehr als seine Biografie und sein Werdegang wird sich online damit beschäftigt, wie Brel seine Texte schrieb, welche Metren er verwendete, welche Attribute seinen Gesangsstil auszeichneten und welcher Bildsprache er sich lyrisch bediente. Ein Verständnis von Musik, das mich beim lesen eher an eine Literaturanalyse aus dem Deutschunterricht erinnerte als an Pop, mich als Nerd aber auch wahnsinnig erfreute. Hier wurde effektiv das Werk eines Schlagersängers auf die Bedeutungsebene gehoben, die sonst Leuten wie Friedruch Dürrenmatt oder Albert Camus vorbehalten ist. Und wenn man sich der Wissenschaft hingibt und sich ansieht, was da eigentlich analysiert wird, merkt man auch, wieso dem so ist. Denn sowohl als Lyriker als auch als Performer ist dieser Musiker eine unglaublich spannende Angelegenheit, die mich nachhaltig fasziniert hat. Leider auch mit zwei wesentlichen Hindernissen. Zum einen das der Sprachbarriere (Brel singt auf französisch, manchmal auch flämisch), die für mich natürlich immer erst überwunden werden muss (auch wenn ich nach eigenem Ermessen ein etwas eingerostetes, aber akzeptables französisch vorweisen kann), zum anderen die Tatsache, dass ich bis dato noch immer viele Teile seines Katalogs  nicht online gefunden habe. Die meisten Streaming-Anbieter konzentrieren sich im wesentlichen auf Greatest-Hits-Alben seines Outputs, auf Youtube findet man zusammengestückelte Playlisten, die nicht immer aus den Originalaufnahmen bestehen und physische Rereleases sind rar gesät und teuer. Die hier vorliegende LP ist eine der wenigen von vor 1966, die es in allen Varianten gibt, dabei ist sie rein Release-technisch eine der verwirrenderen. Denn von den bisher drei Auflagen, die davon erschienen, ist keine wie die andere, schon was die bloße Bennenung angeht. Ein kurzer Abriss: Die Original-Vinyl (eine 10-Inch!) von Philips erschien 1961 noch unter der schlichten Nummerierung No. 5 und wurde wie fast alle Alben von Brel einfach titellos gelassen. Eine kanadische Columbia-Pressung der Platte wurde aber wenig später als Jacques Brel No 3, also unter anderer Nummerierung, veröffentlicht (in den Sechzigern war das noch häufiger der Fall, weil Plattenfirmen in Amerika oft eigene Kataloge europäischer Künstler*innen produzierten). Das einzige offizielle Rerelease von 2003 (wieder bei Philips) umging indes alle Zahlendreher und benannte die LP nach ihrem Opener Marieke, was ohnehin schon immer ihr Spitzname bei den Fans war. Auch in Sachen Tracklist sind sich die unterschiedlichen Editionen nicht ganz einig. Zwar sind die acht Songs des Originals auf allen Versionen in der gleichen Reihenfolge vertreten, doch gibt es bei den beiden späteren Auflagen jeweils andere Zusatznummern, die für das entsprechende Album exklusiv sind. Wenn ich an dieser Stelle zu einer Variante raten kann, dann entweder zur ursprünglichen No. 5-LP oder zum Marieke-Rerelease. Letzteres ist vor allem deshalb cool, weil es einige Songs der Platte nochmal mit einer flämischen Textversion enthält sowie das fantastische Laat Me Niet Alleen, das meines Wissens nach auf keinem anderen regulären Tonträger von Brel zu finden ist. Aber kommen wir endlich mal zur Musik und damit zu dem, was diese Songs wirklich interessant macht. Mit gerade Mal 28 Minuten gibt es davon zwar gar nicht mal so viel, doch passiert darin jede Menge. Wobei es erstmal wichtig ist, sich mit Jacques Brel als Performer auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zum größten Teil seiner Zeitgenoss*innen aus dem Bereich Chanson (oder Chanson à Texte, wie man die etwas weniger schlagerige, liedermacherige Variante davon nennt), ist er wesentlich mehr ein Erzähler als ein tatsächlicher Sänger. Generell muss man sagen, dass sein Talent als Vokalist nicht das allergrößte ist und er immer etwas hart und unwirsch klingt. In wesentlichen Teilen seiner Songs sprechsingt er eher vor sich hin und rezitiert seine Texte wie bei einem Gedichtvortrag oder einer Rede. Nur ist es gerade diese Performance, die er beherrscht wie kein zweiter. Viele seiner Songs sind dramatisch und akzentuiert wie ein guter Shakespeare-Monolog, nur eben mit Musik. Und nimmt man die Fähigkeiten dazu, die er als Lyriker hatte, ergibt alles noch viel mehr Sinn. Denn in seinen Texten wälzt Brel zum Teil großartige Poesie, die sehr konkret und bildhaft ist. Mit wenigen Sätzen und geschickten Wortspielen gelingt es ihm, eine Idee auf sehr fesselnde Weise festzuhalten, wobei er immer ein bisschen mehr macht, als nur romantisch oder witzig zu sein. Selbst in oberflächlich schlagerigen Songs wie Le Moribond (das 12 Jahre später unter dem Titel Seasons in the Sun von Terry Jacks zum Hit wurde) oder Les Prénoms de Paris gibt es immer ein kantiges Element, das die Schatten ein bisschen härter zieht und das Geschehnis ein Mü dramatischer beleuchtet. Und spätestens in den melancholischen Tracks wie Marieke oder Le Prochain Amour zahlt sich das so richtig aus. Wenn Brel in ersterem die Kulisse seiner flämischen Heimat beschreibt, hat man förmlich die trostlosen, grauen Kirchtürme vor Augen, von denen er spricht und im resignierten, abgekämpften Vivre Debout scheint jede Zeile ein kleiner Konflikt zu sein. Aber auch in den zackigeren Nummern des Albums erkennt man viel lyrische Cleverness, wie die animalischen Begriffe, die in Les Singes zur Beschreibung junger Pariser*innen dienen oder die kleine soziale Studie von L'Ivrogne. Cool ist auch, dass die Themen der einzelnen Stücke immer sehr gut von der Musik mitgenommen werden. Marieke ist von einem melancholischen Klavier dominiert, das hedonistische On N'Oublie Rien klingt ein bisschen nach Zirkusmusik, Clara überzeugt als hektische Tanznummer, L'Ivrogne klingt nach Kneipe. Das eigentlich besondere und coole ist aber, dass diese unterschiedlichen Ästhetiken nie mit zu viel Hingabe eingegangen werden und immer etwas spärlich ausgestaltet sind. Wenn man so will, sind sie sehr funktional gehalten und damit genau das, was die Lyrik von Brel unbedingt braucht. Die klangliche Ausgestaltung sind wenige Instrumente, die die Szene setzen, in welche die Texte und der Vortrag dann das eigentliche Leben bringen. Ein bisschen wie auf einer Theaterbühne. So funktioniert dieser Künstler wahrscheinlich am besten. Mit Sicherheit kann ich das leider nicht sagen, denn noch immer habe ich den Output von Jacques Brel gerade Mal angeschnitten und bin noch immer auf der Suche nach mehr. Es ist aber auf jeden Fall dieser Platte zu verdanken, dass ich mich auf diese Suche überhaupt erst begeben habe und Interesse an diesem Musiker gefunden habe, das über eine LP hinaus geht. Ganz einfach, weil ich von diesen Songs trotz Sprachbarriere und Release-Verwirrung arg beeindruckt bin. Und während ich noch weiter in die Diskografie des Belgiers einsteige, wird dieses Album auch nicht schlechter. Eher im Gegenteil. Das ist wahrscheinlich auch der Hauptgrund dafür, dass ich nach zwei Jahren Fandom noch mal unbedingt diesen ausführlichen langen Artikel schreiben wollte. Weil ich es einfach so besonders finde und wahnsinnig viel darüber zu sagen habe. Wahrscheinlich auch in Zukunft noch. Ganz zu schweigen von Jacques Brel an sich, der ein unglaublich spannender und toller Künstler war, bei dem es für mich noch viel zu entdecken gibt. Weshalb ich hoffe, dass ich vielleicht einige mit dieser Abhandlung etwas begeistern und meine Begeisterung teilen konnte. Das letzte Mal wird es ganz bestimmt nicht sein.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡🟢10/11

Persönliche Höhepunkte
Marieke | Vivre Debout | On N'Oublie Rien | Clara | Le Prochain Amour | Les Prénoms de Paris

Nicht mein Fall
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Mittwoch, 26. Mai 2021

Das wurde auch Zeit

Lambchop - ShowtunesLAMBCHOP
Showtunes
Merge | City Slang
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ kunstig | verschroben | erhaben ]

Ich habe in der Vergangenheit bereits an anderer Stelle darüber berichtet, wie die Band Lambchop aus Nashville auf diesem Format so etwas wie meine liebsten Sorgenkinder sind. Im Sinne einer an und für sich krass talentierten Gruppe von Musikern, die auch schon seit locker dreieinhalb Dekaden existiert, seitdem ich sie kenne aber niemals das eine Album gemacht hat, dass mich wirklich vollends überzeugen konnte. Und dabei haben diese Jungs echt schon alles versucht. Von Alt-Country bis Neoklassik und von Jazz bis Autotune hat die Formation in den letzten zehn Jahren jede Menge wilde Einflüsse in ihren Sound aufgenommen, die auch meistens ziemlich kreativ ausgeführt waren. Leider nie mit dem Resultat, ihrem riesigen Potenzial gerecht zu werden. Sicher waren die meisten Versuche dabei grundsätzlich gelungen, wie auf dem schwermütigen Mr. M von 2012, dem amerikanesken Flotus von 2016 oder auch dem gehaltvollen Doppelalbum Aw, C'mon / No You C'mon von 2004, den letzten Schritt zum persönlichen Favoriten, den sie definitiv in sich hatten, schafften Lambchop für mich aber nie. Und neben ihren guten Sachen gab es eben auch immer wieder Totalausfälle wie This (Is What I Wanted to Tell You) von 2019 oder dürftige Sachen wie Trip aus der letzten Saison, die meine Hoffnungen zwischendurch komplett zunichte machten. Doch bin ich eben auch jemand, der bei so einer Band stoisch abwarten kann, bis diese vielleicht doch noch diese eine große Platte macht. Zum Glück, möchte ich sagen, denn 2021 habe ich diese nun auch von dieser Formation bekommen. Wenn auch nicht auf die Art, wie ich mir das vielleicht vorgestellt hatte. Denn mit Showtunes machen die Amerikaner nicht weniger als ihre seltsamste und kunstigste LP seit Ewigkeiten. Nicht, dass Lambchop nicht schon vorher irgendwie quirky waren und ein bisschen Schalk im Nacken für ihre musikalischen Konzepte auch nötig war, doch habe ich zumindest in der guten Dekade, die ich ihre Songs jetzt höre, keine solche Breitseite gehört. Das hier ist ein Album, das größtenteils über Sachen wie klare Songstrukturen, harmonische Melodiefolgen und kompositorischen Fokus hinauswächst und sich bisweilen eher im Raum eines verschrobenen Klangkunstwerks bewegt. Zwar irgendwie noch immer mit einer starken Atmosphärik und gewissen klassischen Schönheitsmomenten, die aber höchstens als Elemente einer verzerrten Collage auftreten, an deren Ästhetik man sich erstmal gewöhnen muss. Vom Sound her hat Showtunes in erster Linie viel gemein mit den letzten Releases von Leuten wie Leonard Cohen und Nick Cave, was stilistisch auf jeden Fall eine stringente Entwicklung für Lambchop ist. Von der Struktur der Stücke fühle ich mich hier aber eher an Sachen wie Destroyer, Xiu Xiu oder Julia Holter erinnert, wenn auch in wesentlich weniger aggressiv. Dass diese LP sehr experimentell und ungewöhnlich ist, heißt lange nicht, dass sie gleich ungemütlich sein muss. Selbst Sachen wie die operettigen Vocals in the Last Benedict, der krude Beat in Drop C oder die boniveresken Autotune-Effekte, die Kurt Wagner ständig auf seine Gesangsparts packt, stören die erhabene Ästhetik vieler Songs nicht, sondern treiben sie nur in eine andere, überraschende Richtung. Mit dem Effekt, dass Showtunes zwar ein sehr unberechenbares Album ist, dabei aber auch bewundernswert kohärent bleibt. Es sind viele kleine Elemente, die die Songs hier immer wieder zusammenschweißen und über die vielen Holperpfade letztlich doch einen sehr logischen Bogen spannen. Mit dem Nebeneffekt, dass die LP sehr ruhig bleiben kann, zwischendurch nie spröde oder monoton wird. Es ist somit nicht nur beeindruckend, wie gut hier ingesamt alles klingt, es ist mir auch schleierhaft, wie zum Teufel Lambchop das fertig gebracht haben. Was das Ergebnis letztlich doppelt beeindruckend macht. Und ich will ehrlich sein: Gerade nach den ziemlich dürftigen letzten beiden Platten hatte ich mit so einem redemption ark bei dieser Band nicht gerechnet. Aber das ist eben das schöne an Talent: Wenn es da ist, dann kommt es irgendwann auch zum Vorschein. Manchmal muss man nur ziemlich lange warten.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡⚫⚫ 09/11

Persönliche Höhepunkte
A Chef's Kiss | Drop C | Papa Was A Rolling Stone Journalist | Fuku | Unknown Man | Blue Leo | Impossible Meatballs | the Last Benedict

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Nick Cave & the Bad Seeds
Ghosteen

Leonard Cohen
Thanks for the Dance


Dienstag, 25. Mai 2021

Das wichtigste ist, dass das Feuer nicht aufhört zu brennen

Jan Delay - Earth, Wind & FeiernJAN DELAY
Earth, Wind & Feiern
Vertigo Berlin
2021











[ soulig | routiniert | chillig ]

Es fühlt sich ein bisschen dämlich an, 2021 so ausführlich über ein Album von Jan Delay zu schreiben, irgendwie sehe ich es aber auch als meine Pflicht. Erstens deshalb, weil der Hamburger in meiner musikalischen Biografie einer der ersten Musiker war, die ich wirklich besonders fand, zweitens weil es eben doch immer noch ein Ereignis ist, wenn der Eißmeister dieser Tage eine Soloplatte macht. Schon allein die Tatsache, dass seine letzte richtige LP Hammer & Michel sieben Jahre her ist und es dazwischen ein ziemlich erfolgreiches Beginner-Comeback gab, gibt einem Projekt wie Earth, Wind & Feiern (sehr delayesker Titel auch wieder) eine gewisse Prestige und nach über 20 Jahren im Sonnenglanz des Deutschpop ist dieser Typ mittlerweile auch einfach ein kommerzielles Schwergewicht. Angesichts dessen ist es aber auch nicht verwunderlich, dass Delay es inzwischen nicht mehr für nötig befindet, mit seinen Alben irgendwelche musikalischen Statements zu setzen. Nachdem die beiden Vorgänger Hammer & Michel und Wir Kinder vom Bahnhof Soul (letztere ist an diesem Punkt auch schon zwölf Jahre her) noch den Versuch unternahmen, Eißfeldt als genre-hoppenden Konzeptmusiker zu verkaufen, der mit jeder LP eine neue Stilistik erforschte, dachte ich, dass das hier im besten Fall weitergehen würde. Cover und Titel suggerierten ja auch vorsichtig eine Hinwendung zu traditionellem Funk oder Afrika-Bambaataa-Hiphop, was in der Ausführung aber definitiv nicht der Fall ist. Stattdessen ist Earth, Wind & Feiern irgendwie eine Mischung aus Back to the Roots-Zwotausender-Delay, trappiger Pop-Anbiederung und einer halbkonsequenten Variante von Afrobeat geworden. Was an sich ja noch nichts schlechtes sein muss. In über 20 Jahren Jan Philip Eißfeldt habe ich gelernt, dass dieser Typ mannigfaltige Inspirationsquellen hat und mit diesen auch oft gut umgehen kann. Als Beweis dafür schafft er es auch auf diesem Album, eine ziemlich tighte Backing-Instrumentation zu versammeln und in Sachen Sound und Komposition etwas zusammenzubauen, das überzeugend ist. Zwar finde ich auch, dass seine frühen Platten das besser machten und gerade seine Cloud- und Autotune-Motive fühlen sich selten geschmackvoll an, doch gerade in Bezug auf die Übersetzung klassischer Ideen von Funk, Reggae, Disco und den neuen Afrobeat-Einflüssen ist er hier voll in seinem Element. Mit Saxofon gelingt ihm sogar mal wieder eine ziemlich anständige Ska-Nummer. Was auf Earth, Wind & Feiern viel eher zum Problem wird ist die Performance des Hauptakteurs selbst, die einfach nur noch ziemlich peinlich ist. Man muss dazu sagen, dass Jan Delay noch nie ein Musiker war, dessen Output komplett cringefrei zu genießen war und gerade auf den letzten beiden Platten erreichten die schwierigen Momente teils gefährliche Level. Wo es da aber immer noch coole Momente wie Large, St. Pauli oder Hoffnung gab, fehlen mir die auf dieser LP zu großen Teilen. Einen wirklichen Hit kann Earth, Wind & Feiern bei aller Mühe nicht vorweisen und selbst Songs mit Potenzial wie Nich' nach Hause, Tür'n knall'n oder Saxofon bleiben entweder zu zahm oder leisten sich zu viele Fettnäpfchen, um wirklich zufriedenstellen zu sein. Ein Teil des Problems liegt dabei bei Jan Delay als Texter, was an sich nichts neues sein dürfte, erstmals bin ich hier aber auch an vielen Stellen genervt von seinem Gesang, der an vielen Stellen einfach etwas zu schmierig und nölig geworden ist. Und gerade in Tracks wie Wassermann, Alexa oder Zurück fehlt mir auch einfach die Action. Ich würde Earth, Wind & Feiern deshalb nicht gleich als kompletten Totalschaden beschreiben, denn viele der Zwischenstufen sind auch nicht schlimmer als die letzten paar Male. Was der Platte aber effektiv fehlt, sind die offensichtlichen Highlights, die die Platte an den entscheidenden Stellen aus dem Sumpf ziehen und wenigstens für ein paar starke Songs sorgen. Mehr als effektiv mies fühlt sich alles hier vor allem unmotiviert und dröge an, was bei so einem Titel definitiv das Gegenteil des versprochenen Erlebnisses ist. Und ja, im direkten Vergleich zu Eißfeldts bisheriger Diskografie ist das hier schon das schwächste Album. Dass man deswegen aufhören sollte, über ihn zu reden, finde ich trotzdem nicht. Dafür scheitert er mir hier doch zu ehrlich.

🔴🔴🔴🟠🟠⚫⚫⚫⚫⚫⚫ 05/11

Persönliche Höhepunkte
Intro | Tür'n knall'n | Saxofon | Nich' nach Hause

Nicht mein Fall
Kinginmeimding | Alexa | Zurück | Gestern | Wassermann


Hat was von
Daft Punk
Random Access Memoires

Flo Mega
Die wirklich wahren Dinge


Montag, 24. Mai 2021

Nicht euer Mainstream: Gedanken zum Eurovison Songcontest 2021

Ich bin mir tatsächlich nicht ganz sicher, warum ich den nun folgenden Text geschrieben habe. Ich habe an dieser Stelle nichts wichtiges und nichts weltveränderndes kundzutun und eigentlich ist ein solcher Bezug zu aktuellen Ereignissen die Art von Inhalt, die ich auf diesem Format vermeiden möchte. Die einfache Antwort darauf, warum ich das hier also schreibe ist am ehesten, das mir irgendwie danach war. Das ESC-Finale, welches vorgestern Abend im Ahoy in Rotterdam stattfand, beschäftigt mich an diesem Wochenende irgendwie und allein das ist schon etwas, dass es bei mir die vorherigen Jahre nicht gab. Die komplexe Antwort beinhaltet letztendlich die Gründe, warum das so ist und warum sich mein Verhältnis zu dieser Veranstaltung nach diesem Jahr vielleicht nachhaltig verändern könnte. Wobei der Grundgedanke des ganzen ist, wie positiv überrascht ich von der ganzen Angelegenheit war. So sehr, dass ich an dieser Stelle ein vorsichtiges Plädoyer dafür abgeben möchte, sich in Zukunft intensiver damit zu beschäftigen. Und sei es auch nur an mich selbst gerichtet. 
 
Ein kurzer Disclaimer: Ich habe für diesen Text ziemlich viel recherchiert, dabei vor allem aber auch festgestellt, wie viel über den ESC ich noch nicht weiß und wie groß und komplex dieses Thema ist. Was ich hier äußere, stellt also höchstens einen winzigen Bruchteil dieser Veranstaltung dar und ich berufe mich keineswegs auf Vollständigkeit. Ohnehin soll es hier eher darum gehen, einen persönlichen Eindruck zu geben als eine historische Abhandlung durchzuführen. Falls ich also irgendetwas falsch wiedergebe, macht mich gerne darauf aufmerksam.

Dass mein bisheriges Verhältnis zum ESC ein eher ambivalent-unterkühltes war, ist bei einem nörgeligen Indie-Snob wie mir sicherlich keine große Überraschung. Musikalisch war diese Veranstaltung lange wenig progressiv, hing regelmäßig den Trends von vor fünf Jahren hinterher und war vor allem ein riesengroßes Spektakel mit verhältnismäßig wenig Mehrwert. Die Unsummen, die Saison für Saison für ein pompöses Fernseh-Event ausgegeben wurden, das im besten Fall ein flüchtiges One-Hit-Wonder produzierte und für einen Abend Quotenrekorde sauviel Energie verprasste, findet ein Teil von mir sehr ungerechtfertigt und extrem dekadent. Auch ist der europäische Vereinigungsgedanke dahinter für mich nie ein wirkliches Argument gewesen, da a) politische Querälen in der Geschichte des ESC immer wieder in den Weg der Kunst gerieten sind und b) die Veranstaltung an sich auf ziemlich zynischer Kaltkriegs-Propaganda basiert und vor 1990 tatsächlich sehr wenig gesamteuropäisch war. Dass ich ein absoluter ESC-Hasser war, würde ich trotzdem nicht behaupten. Ähnlich wie bei der Fußball-WM, Olympia, den Grammys oder den Oscars ist der Song Contest etwas, das als Medienereignis irgendwie mehr ist als Politik und bei dem auch ich selbst dazu neige, mal über den riesengroßen Sumpf dahinter hinweg zu sehen. Einfach weil es am Ende doch zu viel Spaß macht und es sowieso alle schauen. Nicht dass ich stolz darauf wäre.
Zum ersten Mal schaute den ESC nach meiner Erinnerung 2009, danach immer mal wieder. Ich verfolgte live den Sieg von Lena Mayer-Landrut 2010 in Olso, bekam den von Conchita Wurst 2014 zumindest lebhaft mit und cringte mich zwischendurch durch so manche grauenvolle Kandidatur, vor allem auch von deutschen Kandidat*innen. Insgesamt habe ich in den letzten zwölf Jahren warscheinlich fünf mal zugesehen, das letzte Mal war allerdings auch schon 2016. Mein Empfinden über die Veranstaltung war dabei eigentlich lange ähnlich: Ich mochte die Extravaganz und den Pomp an vielen Stellen, war musikalisch aber irgendwie ernüchtert. In vielen Jahren waren selbst die verhältnismäßig guten Songs gerade so okay und das meiste einfach nur sehr langweilig. Ein paar persönliche Favoriten gab es zwar durchaus (Fairytale von Alexander Rybak, Rändnajad von Urban Symphony und Ovo Je Balkan von Milan Stanković just to name a few), doch in über einer Dekade kann ich die immer noch an einer Hand abzählen. Es mag vielleicht daran liegen, dass ich inzwischen fünf Jahre nicht mehr zugeschaut hatte und mein musikalischer Radar sich seit den frühen Zwotausendzehnern doch sehr verändert hat, doch war mein Eindruck am vorgestrigen Abend zum ersten Mal dramatisch anders. Von den 26 Songs, die im Finale performt wurden, fand ich mindestens zwei Drittel ziemlich gut, einige sogar echt klasse. Zumindest im Verhältnis zu dem, was ich von davor gewöhnt war. Dass ESC-Songs lyrisch in den meisten Fällen etwas radebrechend sind und gerne auch mal grobe Abziehbilder von erfolgreichen Songkonzepten aus Übersee sein können (looking at you, Malta und Zypern!) muss man hinnehmen, aber war immerhin wenig langweiliges dabei. So gut wie alle Teilnehmer*innen des Contests hatten irgendwie Charakter, eine kreative Grundidee und gaben mir vor allem nicht das Gefühl, eine schlechtere Version der Charts von 2017 zu hören. Natürlich könnte es auch Zufall sein, dass dieses Jahr das Raster relativ hochwertig war, doch in meinen Augen könnte es auch was damit zu tun haben, wie der ESC sich mittlerweile selbst versteht und immer mehr eine eigene Identität als Event entwickelt. Eines, das ich bei allem Kitsch und allen Widersrüchen durchaus angenehm finde. Vor allem eine Sache ist mir dabei das erste Mal so richtig positiv aufgefallen: das umfangreiche Fehlen eines in der Popkultur allgegenwärtigen Machismo und bescheuerten Heteronormaivitäts-Paradigmen, die sehr nervig sind. Wie nervig, man merkt vielleicht erst, wenn man sie einmal größtenteils aus der Formel entfernt sieht. Eine Frauen*-Quote von über 50 Prozent (zumindest bei den Performenden) ist für so eine Veranstaltung das selbstverständlichste der Welt, nicht wenige darunter sind BPOC-Personen und über die generelle Bedeutung des ESC als queeres Mekka muss ich sicherlich nicht groß referieren. Das wirklich tolle dabei ist aber nicht nur, dass das so ist (das sollte 2021 eigentlich kein Achievement mehr sein), sondern wie es über lange Zeit von selbst gewachsen ist. Wo die Echos, Oscars und Grammys dieser Welt seit etlichen Jahren Debatten um Repräsentation, Gleichstellung, Privilegien und Industriestandards führen müssen, ist der Eurovision Song Contest spätestens ab den Neunzigern von selbst diverser geworden und eckte weniger an alten Gepflogenheiten an als vergleichbare Veranstaltungen. Hier brauchte es keine Skandale und Besetzungswechsel in den Führungspositionen, um modern zu sein und mit der Zeit zu gehen. Ein Trend, der sich seit Jahren auch in den teilnehmenden Interpret*innen spiegelt. Mit Dana International gewann bereits 1998 eine Transperson den Wettbewerb, mit Verka Serduchka und Conchita Wurst waren danach noch zwei weitere sehr erfolgreich. Und wo das beim ersten Mal noch irgendwie eine Kontroverse und ein Durchbruch war, machte man spätestens bei Wurst nur noch deshalb ein Fass auf, weil sein Song eine monumentale Metapher für queeres Selbstverständnis war. Dieses Jahr hat mit Måneskin aus Italien wieder eine Band mit LGBTIQ-Hintergrund gewonnen, ein Thema war das aber überhaupt nicht mehr. Sowohl gendertechnisch als auch herkunftsmäßig wirkt der ESC der Zwotausendzwanziger mehr oder weniger komplett fluid und zeigt eine praktizierte Toleranz, die nicht die Idee von irgendwelchen Managements war, sondern aus der Sache selbst entstanden ist. Die wirkliche Neuigkeit ist, dass sich diese Diversität langsam auch in der Musik zu zeigen scheint. Nicht in dem Sinne, dass hier plötzlich superviel Kunst und Hochkultur gemacht wird, sondern darin, dass sich nicht mehr plump an einem gefühlten Mainstream orientiert wird, sondern an den Anforderungen eines ESC. Und die sind nun mal anders, weil Gemeinschaft und Publikum hier wahrscheinlich auch Andere sind als Cishet-Anne und Thomas von nebenan, die Bausa und Helene Fischer cool finden. Bester Beweis dafür ist, wie Flo Ridas Gastauftritt im Song von San Marino mit läppischen 13 Publikumspunkten abgestraft wurde oder auch der sehr konservative Pick der deutschen Delegation um Jendrik. Die Gunst des Publikums ging stattdessen an New Metal aus Finnland, folktronischen Schamanismus aus der Ukraine, klassischen Chanson aus Frankreich, tanzende Nerds aus Island und an vier verkokst-androgyne junge Römer mit einem Garagenrock-Titel. Für einen Contest, der zu großen Teilen durch ein Publikumsvoting entschieden wird, ist das ein ziemlich cooles und vor allem vielseitiges Resultat. Und es zeigt zumindest für dieses Jahr, dass genau dieses Publikum darauf Bock hat. Ein Umstand, der mich ziemlich hoffnungsvoll auf das blicken lässt, was 2022 passiert und der mich vielleicht gerade zu einem ESC-Fan gemacht hat. Zumindest bis auf weiteres.


Sonntag, 23. Mai 2021

Take the Wheel

Olivia Rodrigo - SOUR OLIVIA RODRIGO
Sour
Olivia Rodrigo PS
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ adoleszent | melodramatisch | herzschmerzend ]

Wenn man den reinen Zahlen glaubt, dann ist Olivia Rodrigo schon lange der größte Popstar des Jahres 2021. Ihre allererste richtige Single Drivers License von Anfang Januar hat in den Staaten bis zum jetzigen Zeitpunkt diverse Verkaufs- und Streamingrekorde purzeln lassen, sie selbst ist dort schon seit Monaten in aller Munde und ihr vor wenigen Tagen erschienenes Debüt Sour wurde von Fans und Presse mehr als sehnsüchtig erwartet. Natürlich kommt dieser plötzliche Riesenerfolg nicht einfach so aus dem Nichts, viel eher wurde er wahrscheinlich seit Jahren antizipiert und unterstützt. Ähnlich wie vor ihr schon Justin Timberlake, Britney Spears, Ariana Grande oder Miley Cyrus ist Rodrigo Teil der niemals müde werdenden Teeniestar-Rampe des Disney-Channels, bei dem sie seit ihrer frühen Jugend wichtiger Teil von gleich zwei quotenstarken Produktionen war. Anders als besagte Sternchen scheint ihr Erfolg als Musikerin aber nicht direkt an diese Art von Kaderschmiede anzuschließen, zumindest nicht im Sinne einer ausgebufften Reißbrett-Strategie von irgendwelchen Manager*innen. Sicher, es gibt im Hintergrund dieses Albums ein anscheinend ziemlich komplexes Gossip-Universum um sie und ihre ehemaligen Co-Stars von Disney (die ganz zufällig auch alle ein Debüt in der Pipeline hatten oder haben), das irgendwie sehr soapig wirkt. Doch finde ich es unabhängig davon beeindruckend, wie Olivia Rodrigo sich gerade als Künstlerin aufbaut und von Anfang an sehr unabhängig macht. Auf kreativer Ebene erscheint sie dabei eher als die natürliche Konsequenz als Leuten wie Lorde oder Billie Eilish, die in der vergangenen Dekade eine angenehm selbstbestimmte Variante des Teen-Popstars etabliert haben, die aus eigener Kraft heraus enststeht. So ist die musikalische Persönlichkeit Olivia Rodrigo, die vor allem über ihren eigenen Tiktok- und Instagram-Kanal kommuniziert und promotet, ganz klar abgetrennt von der Olivia Rodrigo bei Disney, Sour erscheint darüber hinaus auf einem eigenen Sublabel mit größerer kreativer Kontrolle und wurde zum größten Teil mit nur einem Co-Songwriter und Produzenten realisiert. Unabhängig davon, wie ich diese Platte musikalisch finde, möchte ich also erstmal meinen Respekt für dieses Businessmodell ausdrücken, das anscheinend auch immer mehr junge Pop-Künstler*innen für sich entdecken und das sehr wahrscheinlich auch cooler von einem Standpunkt der mentalen Gesundheit ist. Dass wir mit Olivia Rodrigo in wenigen Jahren ein Brintey Spears 2007-Szenario erleben, ist von Anfang an eher unwahrscheinlich und das finde ich gut. Über die Musik auf Sour kann ich das leider nur teilweise sagen. Wobei ein positiver Aspekt auf jeden Fall ist (und auch das hat mit dem Aufbau dahinter zu tun), das diese Stücke definitiv klingen, als würde die Künstlerin sie ernst meinen. Es fällt mir sehr angenehm auf, dass dieser LP vermutlich niemand dahinter stand, der Sachen sagte wie "ich höre da noch keine Single" oder "so was trauriges wollen die jungen Leute nicht hören". Was auch quatsch gewesen wäre, denn nicht nur ist der besagte megaerfolgreiche Promo-Hit eine schmonzettige Storytelling-Ballade, die sich kein bisschen nach einem Hit anfühlt, sie ist auch einfach ein ziemlich guter Song. Je öfter ich Drivers License in den letzten Wochen gehört habe, desto mehr konnte er mich in seine Welt einverleiben und noch immer bin ich mir sehr sicher, dass er eines der besten Stücke auf Sour ist. Im wesentlichen allerdings auch deswegen, weil der gleiche Song auf dem Album noch in mindestens zehn sehr ähnlichen Varianten auftaucht und dabei nie wieder so gut klingt wie beim ersten mal. Das Konzept der adoleszenten Trennungsballade scheint Rodrigos wesentliche Inspiration für ihr Debüt gewesen zu sein, lediglich der erste und der letzte Song handeln von etwas anderem als Herzschmerz und Ärger mit dem Ex. An sich wäre das auch okay so, Platten mit dieser Thematik gibt es viele sehr gute. Nur ist Sour keine LP, die dieses Grundgefühl in verschiedenen Songs auch auf verschiedene Arten austragen. Die Story hier ist stattdessen immer die gleiche: Er hat sie verlassen, sie war traurig, er findet blitzschnell eine neue, sie ist sauer. Die meisten dieser Tracks sind dabei in sich gut geschrieben und singen kann Rodrigo auf jeden Fall, doch nachdem man nun schon Drivers License für mehrere Monate ständig hörte, verliert diese Art von Leier hier doch sehr schnell ihren Reiz. Was schade ist, denn dass diese Frau prinzipiell über etwas anderes schreiben kann, zeigen die beiden besagten Ausnahmen ziemlich gut. Der Closer Hope Ur Ok behandelt das Entkommen aus einer schweren Kindheit und Brutal den nervtötenden Struggle des Erwachsenwerdens. Vor allem letzteren Song mag ich dabei besonders, weil er sehr rockig und rotzig geschrieben ist und zusammen mit dem klangästhetisch ähnlichen Good 4 U ein bisschen Action unter die vielen Klavier- und Akustikballaden bringt. Solche Momente zeigen mir dann immer, dass Rodrigo eigentlich eine ziemlich vielfältige Songwriterin sein könnte, hier aber trotzdem immer wieder den einen bewährten Weg geht. Für den Moment ist das nicht dramatisch, da sie a) anscheinend etwas zu verarbeiten hat und b) das hier ihr erstes Album mit gerade Mal 18 Jahren ist. Doch würde ich es in Zukunft definitiv schön finden, mehr von dieser Kreativität zu hören. Denn grundsätzlich sehe ich durchaus ein gewisses Talent in dieser jungen Frau, das mich neugierig macht. Und wahnsinnig erfolgreich ist sie ja sowieso schon.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Brutal | Drivers License | 1 Step Forward, 3 Steps Back | Good 4 U | Hope Ur Ok

Nicht mein Fall
Traitor | Happier


Hat was von
Harry Styles
Harry Styles

Taylor Swift
Fearless