Dienstag, 6. November 2018

Was ist Musik?





















Die ganz coolen Indiekids sind sich inzwischen schon ziemlich lange einig, dass Julia Holter eine der Stimmen gehört, auf die man im aktuellen Artpop definitiv hören sollte. In den letzten fünf Jahren hat die Künstlerin bereits zwei medial umgarnte Soloprojekte veröffentlicht, die beide dazu beigetragen haben, dass sie 2018 jemand ist, deren Namen man nicht ohne einen gewissen Respekt ausspricht. Loud City Song von 2013 und Have You in My Wilderness von 2015 sind Platten, die wahnsinnig filigran orchestrierten Kammerpop, selbstbewusstes Songwriterinnentum, großartigen Sound und veredelte Indie-Attitüde vereinen und die, nachdem ich sehr lange mit ihnen zu hadern hatte, inzwischen auch mir musikalisch ziemlich viel geben. Zwar halte ich Holter noch immer lange nicht so hoch wie einige meiner Kolleg*innen, aber ich kann eine gewisse Faszination nicht länger leugnen. Was ich an dieser Musikerin vor allem toll finde ist, mit welcher Geschicklichkeit sie sehr verschiedene kompositorische Elemente verbindet, konsequent gleichzeitig zuckersüßen Indiepop und entrückten Avantgarde-Kram macht und wie sorgfältig sie Songs strukturiert. Nichts bei ihr wirkt irgendwie zufällig, simpel oder unkoordiniert. Und wenn mal etwas ungeschliffen klingt, dann nur, weil das vorher so ausführlich geplant war. Mit diesem Rezept hat Holter insbesondere auf Have You in My Wilderness eine sehr starke Ästhetik geschaffen. Deshalb ist es einigermaßen verwunderlich, wie lumpig sie auf ihrem neuen Album Aviary damit umgeht. Eigentlich war ich ja darauf eingestellt, hier das bisherige Opus Magnum der Kalifornierin zu hören. Mit anderthalb Stunden Spielzeit, fast drei Jahren Entstehungsphase und großartigen Singles wie Shall I Love 2 und Words I Heard in der offenen Flanke war die Promophase der letzten Wochen predestiniert dafür, große Hoffnungen zu machen. Tatsächlich ist das hier am Ende jedoch eher Julia Holters Experimentalprojekt geworden, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die umfangreiche Spielzeit sowie fast zehnminütige Tracks sind nicht der Tatsache geschuldet, dass die Künstlerin hier große sinfonische Epen ausgearbeitet hat, sondern viel mehr die Folge der Alles-kann-nichts-muss-Haltung dieser LP. In einem kompositorischen Kontext verhält sich die Musikerin auf Aviary ein bisschen wie antiautoritär erzogenes Kind mit Hochbegabung, das hier jenseitig aller Konventionen einfach mit klanglichen Elementen um sich wirft, einfach weil niemand es verboten hat. Die Frage, die sie dabei im wesentlichen voranstellt ist, "Was passiert, wenn ich da draufdrücke?". Holter steht für deren Beantwortung dann allerdings auch gefühlt ein halbes Orchester zur Verfügung, das sie ausgiebig zerstückelt und dabei versucht, die Handhabung klassischer Instrumente, Synthesizer und nicht zuletzt ihrer eigenen Stimme komplett neu zu interpretieren. Natürlich gibt es dabei auch gewöhnliche Strukturen und ganze Songs, die "normal" klingen, diese sind aber nicht mehr als Bindeglieder und Fingerübungen auf einem Album, das vor allem einen Prozess beschreiben will. Konzeptuell ist Aviary dabei vielleicht in sich gekehrt, allerdings auf sie schrillste, kreativste und bunteste vorstellbare Art und Weise. Everyday is An Emergency verharrt minutenlang auf einem schrillen Trompetenton, Another Dream experimentiert mit synthetischen Bässen, auf Turn the Light On provoziert Holter bewusst den stimmlichen Kontrollverlust: Diesen exzessiven Tracks zuzuhören, ist mitunter brutal. Und es drängt selbstverständlich die Frage auf: Kann diese Arbeitsweise, so interesssant sie auch ist, überhaupt in einem guten Album resultieren? Auch ich bin mir noch immer nicht ganz sicher. Dass es auf dieser LP Momente gibt, die anstrengend, ekelhaft, gar enervierend sind, steht außer Frage. Doch sind es gerade diese Stellen, die auch viel von der Energie dieser Platte ausmachen und die sicherlich am spannendsten sind. Und hätte ich die Wahl, ob ich statt Aviary lieber noch eines dieser filigranen Indiepop-Projekte gehabt hätte, würde ich mich definitiv für ersteres entscheiden. Klar wirft Julia Holter hier ein ausgeklügeltes Songwriting-Konzept über den Haufen, im Austausch dagegen mutiert sie jedoch zu ihrer bisher intensivsten Form, verlässt die Gefilde der gewöhnlichen Popmusik und begibt sich auf die Suche nach der Erkenntnis und dem Sinn den Musikmachens an sich. Und wenn das nicht die ultimative kompositorische Transzendenz ist, dann weiß ich auch nicht. Aviary ist ein fehlerhaftes Album, das aber auch genau das sein muss, sonst wäre der Weg ja völlig umsonst gewesen. Es ist eine Kontemplation über das Experimentierens an sich und damit vielleicht ein Archetypus für ein Experimentalalbum überhaupt. Meine Vermutung, hier das bisherige Opus Magnum der Julia Holter zu bekommen, war also so falsch nicht. Nur ist es das eben auf eine gänzlich andere Weise als erwartet.






Persönliche Highlights: Turn the Light On / Voce Simul / I Shall Love 2 / Underneath the Moon / Colligere / In Gardens Muteness / I Would Rather See / Words I Heard / I Shall Love 1

Nicht mein Fall: Whether

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