Montag, 28. Dezember 2020

the 2020 Expierience : Finale : die 30 besten Alben des Jahres

 




2020 war ein Jahr, welches in so gut wie jeder Hinsicht davon geprägt war, dass viele Dinge sehr plötzlich und in sehr großem Umfang stillstanden und es wäre dämlich zu behaupten, dass Musik ganz generell von diesem Stillstand nicht betroffen gewesen wäre. Konzerte fielen aus, Albumreleases wurden verschoben, für einige große Musiker*innen endete die Infektion mit Covid-19 tödlich und nach wie vor sind durch die Pandemie Existenzen im Bereich des Musikmarktes bedroht. Der Faktor Corona hat in die Welt der Musik eine ebenso große Kerbe geschlagen wie in so gut wie allen anderen Bereichen des Lebens. Doch trotz all dieser Rückschläge war es eben auch immer ein Segen zu wissen, dass alle Lockdowns, Infektionen und Beschränkungen uns die Musik selbst eben nicht wegnehmen konnten. Und dass es wenigstens das Mittel der Konserve gab, um der Einsamkeit, dem Abstand, dem Lagerkoller und natürlich allen anderen beschissenen Sachen, die 2020 auch unabhängig von Corona passiert sind, ein bisschen Einhalt zu gebieten. Wenn man mich fragt, war dieses Jahr sogar eines, in dem man ganz besonders gut gemerkt hat, dass eine Sache wie Musik es schaffen kann, dass die Welt als Ort ein bisschen weniger beschissen wird und eine irgendwie geartete verbindende, stärkende Kraft hat. Obwohl ich eigentlich niemand bin, der ob der Pandemie besonders gerne sentimental wird, muss ich doch mal meine Freude darüber bekunden, dass neue Musik 2020 weiterhin existiert hat. Und wo dieser Post für mich jedes Jahr ein Anlass ist, die Vorzüge des Formats Album zu feiern, empfinde ich das dieses Jahr ganz besonders so. Das hier sind meine 30 liebsten davon.

Ein paar kleine Disclaimer:

1. Diese Liste ist zu 100 Prozent subjektiv und reflektiert nicht mehr und nicht weniger als meine eigene Auffassung. Wenn etwas hier nicht auftaucht, kenne ich es entweder nicht oder ich fand es nicht so nennenswert, dass es hier auftaucht

2. Diese Liste ist nicht endgültig. Es kann vorkommen, dass ich meine Meinung zu Einträgen hier ändere oder hinterfrage.

 
 
 
 
 
 
❸⓿
 
 Sun Ra Arkestra - Swirling
 
SUN RA ARKESTRA
Swirling
Jazz
 
Sein legendärer Ruf als kolossaler Freak und Vollblut-Weirdo ist nur eines der Vermächtnisse, welche der große Jazzvisionär Sun Ra dieser Welt hinterlassen hat, doch anscheinend eines, das über seinen Tod hinaus Geltung hat. Fast 30 Jahre nach seinem Ableben und zwei Dekaden nach ihrem Debüt ohne den Meister findet hier aus heiterem Himmel das berüchtigte Arkestra ein weiteres Mal ins Studio und macht mir nichts dir nichts eines der fesselndsten Jazzalben der ganzen Saison. Unter der Leitung des fast hundertjährigen Marshall Allen morpht dieses scheinbare Relikt einer vergangenen Ära in alten Songs mit neuen Arrangements und Kompositionen eine Brücke zwischen passierter und stattfindender Realität des Genres, zwischen Lebenden und Ahnen, zwischen Sternenstaub und Mutterboden. Gleichsam eine fantastische Ehrerbietung an einen der genialsten und verrücktesten Musiker, den die Welt des Jazz je gesehen hat und die Findung einer neuen Stimme für dessen Lebenswerk. Weil Gegenwart und Vergangenheit noch nie Grenzen waren, für die sich ein Sun Ra interessierte.

Das beste daran: Den würdevollen Platz, den Saxofonist Marshall Allen den ewig geschmähten EWI-Instrumenten einräumt.
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clipping. - Visions of Bodies Being Burned
 
 CLIPPING.
Visions of Bodies Being Burned
Rap

Früher waren Clipping eine Band, deren musikalische Genialität einem ins Gesicht sprang, weil sie laut und aggressiv war. Spätestens mit diesem Album muss man sie vielleicht ein wenig suchen. Was aber nicht bedeutet, dass sie überhaupt nicht mehr da wäre. Visions of Bodies Being Burned, das zweite Horror-inspirierte Album ihrer Karriere nach There Existed an Addiction to Blood vom letzten Jahr, ist eher lauernd und bedrohlich als pumpend und schrill, bringt mich dafür aber umso mehr dazu, beim Hören unwillkürlich immer wieder hinter meinen Rücken zu schauen, den kürzesten Weg nach Hause zu nehmen und vielleicht doch lieber das große Licht anzumachen. Gerade das großartige, cineastische Sounddesign hilft dieser LP dabei, wirklich eine vollumfängliche Erfahrung zu sein, über die Daveed Diggs anschließend seine wie immer grandios finsteren Bars flüstert. Ein Album, das nicht durch bombastische Industrial-Brecher, Turboflows oder grantige Banger überzeugt, sondern durch eine unglaublich dichte Atmosphäre, die genau das schafft was sie soll: Angst machen.
 
Das beste daran: Wenn in Pain Everyday nach dreieinhalb Minuten die Streicher einsetzen und den Song ein bisschen schwerelos machen.
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Against All Logic - 2017 - 2019

AGAINST ALL LOGIC
2017 - 2019
Techno
 
 Hätte ja niemand ahnen können, dass ausgerechnet die etwas schüchtern unter dem Pseudonym Against All Logic laufende kleine House- und Techno-Werkschau, die Nicolas Jaar vor drei Jahren veröffentlichte, innerhalb kürzester Zeit eines der beliebtesten Alben seiner Karriere werden und nochmal ein völlig neues Publikum für seinen Output interessieren würde. Aber 2020 war er besser vorbereitet: 2017 - 2019, das Sequel zum Überraschungserfolg, begnügt sich nicht mehr damit, willkürliche Atbeitsskizzen des New Yorkers auf eine LP zu pressen, sondern ist ein richtiges Album mit durchdachten Dynamiken, genialen klanglichen Flows, einen wesentlich dichteren Sound und einem stilistischen Spektrum, das sich nicht mehr ausschließlich auf House beschränkt. Von Jaars sonstigem Material hebt es sich aber trotzdem nach wie vor ab, und zwar vor allem dadurch, dass es vordergründig Spaß machen und vielleicht auch ein bisschen tanzbar sein soll. Wobei man letzteres vielleicht doch lieber nochmal im Praxistest erprobt.

Das beste daran: Wenn Faith den bratzigen Mittelteil der Platte mit schnuffligem Minimal House wieder abkühlt
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Dua Lipa - Future Nostalgia

DUA LIPA
Future Nostalgia
Pop

Das Vakuum der Pop-Sensationen sorgte 2020 ein bisschen dafür, dass diese Saison kommerziell das große Jahr für Dua Lipa wurde. Future Nostalgia lediglich als durch schwache Konkurrenz bedingten Quotenretter zu verstehen, würde seine eigentliche Qualität aber weit verfehlen. Vordergründig ist es nämlich die LP, mit der Dua Lipa zur ernstzunehmenden Künstlerin wird und eine Version von Popmusik für sich findet, die mehr ist als nur Futter für die Streamingdieste. Die 13 Songs auf diesem Album sind auch noch nach dem tausendsten Mal so frisch wie beim ersten und die Detailarbeit, die hier vor allem in der Produktion geleistet wurde, ist nicht die eines fix geschusterten Hit-Albums, sondern die eines zeitlosen Klassikers. So ist Future Nostalgia 2020 für die Britin womöglich das, was einst ein Thriller für Michael Jackson oder ein Fame Monster für Lady Gaga war. Ein Album, das nicht nur deshalb bleibt, weil es irgendwann mal extrem erfolgreich war, sondern weil es auch danach nicht schlechter wird.

Das beste daran: Wie die Platte in Love Again tatsächlich einen ganz passablen Elektrowing-Refrain versteckt.
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Courtney Marie Andrews - Old Flowers

COURTNEY MARIE ANDREWS
Old Flowers
Country

Auf den letzten Metern von 2020 kam dieses Album, das ich den Großteil des Jahres eher für ein angenehm gemütliches Countyfolk-Projekt hielt, nochmal mit Vollgas auf mich zugerast. Ganz einfach, weil so viele dieser Songs eben doch so wenig gemütlich sind und einen nach vielen Hördurchläufen immer noch so richtig gehen lassen. Und so gut wie alles dabei hat mit Courtney Marie Andrews ergreifender Performance und ihrem strahlenden Songwriting zu tun, die hier einen unglaublich großen Raum einnimmt. Was sonst gäbe es auch? Die Instumentierung ist minimalistisch auf genau die richtige Weise, die Messages sind genau deshalb so prägnant, weil sie so umfänglich bekannt sind und die Stimme dieser Sängerin ist keine besondere, nur eben voller Leidenschaft und Herzschmerz. Das sind am Ende die Dinge, die von diesem Album immens nachhallen und sich so am Ende des Jahres nochmal wirkungsvoll zu mir durchgekämpft haben.

Das beste daran: Die gaaanz vorsichtigen Piano-Akzente im Hintergrund von If I Told.
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ADRIANNE LENKER
Songs
Singer-Songwriter

Sie tut es einfach schon wieder. Auch das dritte Jahr in Folge, in dem irgendwo in dieser Liste eine LP von Adrianne Lenker auftaucht, ist der Grund dafür jene besondere Art von intimen, pittoresken Indiefolk-Vignetten, die nicht aufhören großartig zu sein. Nach den etwas breiter aufgestellten Big Thief-Band-Alben U.F.O.F. und Not von 2019 ist Songs wieder minimalistischer und kleiner gehalten, aber deshalb nicht weniger überzeugend. Mit Lenkers Performance ist der wichtigste Anteil daran wieder voll am Start und faszinierend wie eh und je. Wobei es letztendlich auch die Konsistenz ist, die die New Yorkerin langsam aber sicher zu einer der durchweg überzeugstendsten Künstlerin der vergangenen Jahre macht und wie ihre Art zu singen und zu schreiben eine ganz eigene Magie hat. Und ich bin mir fast sicher, dass wir in diesem Lauf noch lange nicht das Ende gehört haben. Der Platz in meinen Top 30 ist zumindest schon mal halb reserviert.

Das beste daran: Wie der Closer My Angel sich nach fast zwei Minuten doch noch aus den improvisierten Gitarrenvignetten schält und dadurch vielleicht noch dreimal schöner wird.
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Deftones - Ohms
 
DEFTONES
Ohms
Metal
 
 Die wichtigste Sache, die mir dieses Album 2020 beigebracht hat ist, dass die viel gelobte Beständigkeit der Deftones nicht darin besteht, dass jede ihrer Platten unfehbar ist, sondern eher, dass sie auch nach über drei Dekaden Karriere noch zu so einem Album fähig sind. Stand jetzt gehört Ohms für mich zu den besten Sachen, die der Katalog der Kalifornier hergibt und nachdem die Band in den Zwotausendzehnern etwas zu routiniert für meine Begriffe wurde, kontert diese LP zu Beginn ihres vierten Jahrzehnts mit der doppelten Dosis Herzblut und Leidenschaft. Vor allem Sänger Chino Moreno beeindruckt mich hier mit einer seiner spannungsintensivsten Performances überhaupt und musikalisch gesehen sind selbst die Ruhemomente des Albums noch voller Struktur, kribbeliger Lauerstellung und hart wie Granit. Ein finsterer, schmerzhafter und massiver Brocken von einem Longplayer, der aber endlich wieder mal das Optimum aus dem Konzept Deftones herausholt. Womöglich sogar eine späte Bestform, die sie selbst in ihren Hochzeiten nicht erreicht haben. Aber sagt das letzte nicht ihren Fans.

Das beste daran: Das fast zweiminütige Synth-Outro von Pompeji, das die Schwungmasse des Songs nochmal richtig nachwirken lässt.
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Touché Amoré - Lament

TOUCHÉ AMORÉ
Lament
Hardcore
 
Die meisten Hardcore-Bands sind solche, die in ihrer frühen Karriere am besten sind, wenn ihre Musik noch frisch und aufgekratzt klingt und ihre Jugend eine gewisse Naivität rechtfertigt. Nicht so Touché Amoré, die auf Lament nach fast 15 Jahren und vier Alben ihre besten Songs schreiben und besser werden, je weiter sie sich von ihrem ursprünglichen Sound entfernen. Ihre Reflektionen über persönliche Unsicherheiten, emotionale Abgründe, den Tod geliebter Menschen und die Hürden des Lebens klingen 2020 nicht mehr angepisst und ängstlich, sondern nuanciert und erwachsen, wobei sie es sogar schaffen, ein bisschen versteckten Optimismus zu finden. Auch wächst dieses Album sehr daran, dass Touché Amoré hier nicht mehr eine vordergründig lyrische Angelegenheit sind, sondern ihr Songwriting ernsthaft kreativ ausgestalten, inklusive Gastperformances und Klavierballaden. Lament ist eine LP, die auf tolle Weise echtes Wachstum zeigt und eine Band, die deswegen nicht gleich jegliche Reibung verliert. Vielleicht das Album, auf das ich bei ihnen so lange gewartet habe.

Das beste daran: Wenn Jeremy Bolm in A Forecast ganz am Ende seinen inneren Comedian entdeckt.
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Maserati - Enter the Mirror

MASERATI
Enter the Mirror
Postrock

Ich will ja gar nicht sagen, dass Enter the Mirror im Vergleich zu anderen Instrumentalrock-Platten ein gewisser Cineasmus abgeht. Wäre das hier allerdings ein Soundtrack, dann am ehesten für einen hektisch geschnitten Actionfilm, der wenig Platz für ätherische Momente lässt und auch eher anstrengend anzusehen ist. In seinen knapp 40 Minuten ist dieses Album ständig in Bewegung, schlägt sich selber einen ambitionierten Arbeitspuls vor und groovt sich immer wieder neu in einen performativen Affenzahn ein, der definitiv nicht zum sinnieren und relaxen gedacht ist. Es passt dabei, dass Enter the Mirror über große Teile klingt wie von einer retrofuturistischen Maschine geschrieben, die mithilfe von Mogwai, Jaki Liebezeit, Blade Runner und Mr. Roboto gelernt hat, wie Rockmusik funktioniert. Maserati kommen damit zwar um ein paar käsige Sci-Fi-Metaphern mal wieder nicht herum, was aber auch ein bisschen Absicht sein dürfte. Denn zur Maschine werden sie hier langsam selbst.

Das beste daran: Der erste Gitarrenakkord von Warning in the Dark, bei dem ich den Einsatz jedes Mal verpasse.
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Halsey - Manic

HALSEY
Manic
Pop
 
 Manic ist im weitesten Sinne der Idee ein Album über mentale Gesundheit, in dem sich Halsey mit ihren inneren Dämonen auseinandersetzt. Statt aber in gedrückter Stimmung und minimalistischem Ambiente ein leisetreterisches, gefühlsbetontes Depri-Projekt zu machen, hört man auf dieser LP eine Frau, die kämpft und schreit und blutet, und im wahrsten Sinne musikalisch das illustriert, was der Titel vermuten lässt: Eine Manie. Ich will damit nicht sagen, dass diese Platte authentischer ist als irgendeine andere zu diesem Thema, doch ist die Perspektive, die sie hier wählt, für mich neu und ungewohnt. Psychische Probleme sind nicht immer still und nach innen gekehrt, sondern manchmal eben laut, zehrend und exzessiv. Und genau darum scheint es Halsey hier zu gehen, was künstlerisch klasse umgesetzt wurde. Nicht nur durch die kribbelnde klangliche Dynamik des Albums, sondern vor allem auch durch die Texte, mit denen sie sich nicht nur von ihrer auswechselbaren Frühphase absetzt, sondern eher einen gewaltigen Satz nach vorne macht und zu einer der interessantesten Mainstream-Künstlerinnen wird, die dieses Jahr aktiv waren.

Das beste daran: Die Hymne, die Halsey in 3AM an ihr inneres Chaos schreibt.
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The Naked and Famous - Recover

THE NAKED & FAMOUS
Recover
Pop

Es ist eine gute Sache, dass the Naked & Famous als Band bis heute durchgehalten haben, denn sonst wäre dieses Album sicher niemals passiert. Und es ist auch gut, dass ich nach wie vor hier bin, um es zu erleben, denn so hat sich das Dranbleiben über die lange Zeit weiteres Mal alles gelohnt. Dass die verlässichste Pop-Schmiede aus Neuseeland zehn Jahre nach ihrem halb vergessenen One Hit-Wonder-Erfolg mit Young Blood ihr vielleicht bestes Album macht, ist aber letztendlich nur verwunderlich, wenn man in der Zwischenzeit nicht dabei war. Denn was an Recover toll ist, ist das Resultat von konsequentem Wachstum und der weisen Entscheidung, nach dem flüchtigen  Erfolg nicht den leichtesten Weg zu nehmen. Was unterm Strich bedeutet, dass the Naked & Famous irgendwie zu einer Popband mit Vorbildfunktion geworden ist, die mit extrem viel Weitsicht und gutem Geschmack ihren Weg durch die moderne Mainstream-Landschaft findet, auch ohne dafür bekannt zu sein. Weshalb es mich nicht wundern würde, sie vielleicht auch noch in zehn Jahren hier zu sehen.

Das beste daran: Wie sie in Bury Us doch nicht ganz von ihrem früheren schrillen Synthpop-Selbst loslassen können.
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Morwan - Zola-zemlya

MORWAN
Зола-Земля
Postpunk
 
Зола-Земля ist in erster Linie ein ziemlich gutes Postpunk-Album, das sich mit einigem Erfolg an den einflüssen postsowjetischer Genre-Impulse gütlich tut. Es darauf zu reduzieren wäre jedoch ein großer
Fehler, denn was das Projekt aus Kiev hier leistet, transzendiert diese Definition tatsächlich ein ganzes Stück weit. Zum einen, weil es großzügig Einflüsse aus arabischer und nordafrikanischer Volksmusik einarbeitet, die den Sound von Morwan herrlich groovig machen, zum anderen weil es für ein Album aus diesem Bereich verboten partytauglich ist. In seinen knackigen 29 Minuten gönnt es sich keine Verschnaufpause, ballert einen Riesenhit nach dem anderen aufs Parkett und ist dabei obendrein noch unverschämt rotzig. Alles Faktoren, die ich in einem guten Punk-Projekt suche, ob nun Post- oder nicht. Und damit definitiv eine Platte, die ihren größten Trumpf aus ihrer Jugendlichkeit zieht und in meinen Augen einen Künstler zeigt, der vielleicht weniger einnehmend ist, wenn man ihn nicht jetzt und hier gehört hat.

Das beste daran: Dass der Bass auf diesem Album das wichtigste Instrument ist.
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King Gizzard and the Lizard Wizard - Chunky Shrapnel

KING GIZZARD & THE LIZARD WIZARD
Chunky Shrapnel
Psychrock

Klar hätten King Gizzard es sich einfach machen, einfach eines ihrer vielen guten Konzerte aufnehmen und es als offizielles erstes Livealbum veröffentlichen können, aber wie gewohnt müssen die Australier auch in diesem Bereich eine Extrawurst braten. Was in diesem Fall bedeutet, dass sie 2019 fast ihre komplette Tour aufnehmen, auf Bandcamp insgesamt sieben Komplettaufnahmen dieser Konzerte zum kleinen Preis veröffentlichen und schlussendlich auf einer Art Compilation namens Chunky Shrapnel die allerbesten dieser Performances vereinen. Die vorliegende LP ist dabei nicht nur das handverlesen beste Material, das King Gizzard an Konzertmitschnitten hatten, sondern auch noch nachträglich so genial zusammengeschnitten, als würde die Band alle Songs darauf direkt hintereinander zocken, was technisch atemberaubend ist. Wobei am Ende alle Fans zufrieden sein dürften: Die Purist*innen kriegen über ein halbes Dutzend gut gemachte, einheitliche Live-Dokumente und alle anderen diesen Knüller, der zum happigen Doppelvinyl-Preis dann auch wirklich nur die Sahneschnitten serviert. 

Das beste daran: Wie im Closer A Brief History of Planet Earth ein Medley unterschiedlicher Songs von drei Konzerten nur durch nachträgliche Bearbeitung zu einem gemacht wird.
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Oranssi Pazuzu - Mestarin kynsi

ORANSSI PAZUZU
Mestarin Kynsi
Avantgarde Metal

Das wichtigste, was ich vom neuen Oranssi Pazuzu-Longplayer gelernt habe, ist diese Band nicht mehr primär als eine Metal-Angelegenheit zu verstehen. Weil es spätestens hier nicht mehr das wichtigste ist, wie laut und fett produziert sie klingen, wie sehr ihre Riffs brettern oder wie entmenschlicht ihre Vocals sind. Auf Mestarin Kynsi dominieren eher die bedrohlichen Dissonanzen, die psychedelischen Horror-Harmonien und die außerirdischen Frequenzbereiche, die auch ruhig mal verhaltener sein können, aber deshalb nie weniger gehaltvoll sind. Was genau man stattdessen dazu sagen soll, ist letztendlich mal wieder die andere Frage, zumal es allgemein trotzdem noch sehr lärmig und brachial ist. Aber bei Musik wie dieser kann man sich schon mal den Luxus erlauben, die Genre-Tags über Bord zu werfen und sich einfach darauf zu einigen, wie unverschämt gut es ist. Macht diese Band ja schließlich nicht zum ersten Mal.

Das beste daran: Wenn der psychedelische Anfang von Uusi Teknokratia seine Hörer*innen ohne Vorwarnung in ein klangliches schwarzes Loch einsaugt.
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Yaotl Mictlan - Sagrada tierra del jaguar 

YAOTL MICTLAN
Sagrada Tierra del Jaguar
Black Metal
 
Sagrada Tierra del Jaguar ist nicht nur ein gutes Black Metal-Album, es hat mich dieses Jahr auch sehr viel darüber nachdenken lassen, welches emanzipatorische Potenzial Black Metal als kultureller Standpunkt haben kann. Die Musik von Yaotl Mictlan, die ursprünglich aus Mexiko kommen, ist stark verbunden mit dem Paganismus der indigenen Bevölkerung ihrer Heimat, vor allem der der Maya. Die Texte hier sind teilweise in deren Stammessprache geschrieben, es kommen volkstümliche Instrumente zum Einsatz und zentrales Thema dieser wie anderer Platten ist das Aussterben des indigenen Kulturerbe unter dem Einfluss des Kolonialismus. Ein Ventil, dass durch Black Metal, traditionell die Musik des vorchistlich-altertümlichen, optimal bedient. Zwar wäre diese LP auch ohne solchen ethnologischen Überbau klasse, doch ist dieser Aspekt einer, der das hier von einem coolen Stück Musik zu einem Statement macht. Und der es hoffentlich auch langfristig hängenbleiben lässt.

Das beste daran: Das geniale Gitarrenmotiv an der Spitze von Nuevo Fuego.
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Elder - Omens

ELDER
Omens
Psychrock

Wenigen Bands in der Geschichte des Metal tat es meiner Meinung nach gut, den Faktor der Härte in ihrer Musik herunterzuschrauben und gerade Mal bei einer Handvoll davon würde ich sagen,
dass sie dadurch besser wurden. Elder aus Massachussets gehören seit diesem Frühjahr dazu. Im sukzessiven Übergang vom Sludge Metal zum psychedelischen Jamrock präsentieren sie sich auf Omens in ihrer bis dato leichtesten und fluffigsten Inkarnation, in der sie allerdings auch mehr denn je strahlen. Mit durchschnittlich elf Minuten pro Song ist das hier ein Album, das vor allem durch den Raum brilliert, die es den nudeligen Eskapaden dieser Band lässt, die diesen auch mit maximaler Wirkung ausnutzen und freier atmen als zuvor. Großartige Breaks, Exkurse in Richtung Post- und Progrock, herrliche Grooves und Sounds, die den Platz zwischen Himmel und Erde einnehmen wollen. Ein Stück Musik, das den Bombast aus der Formel streicht und dafür echte Größe findet.

Das beste daran: Wenn Halcyon nach vier Minuten Postrock-Intro einen seichten Absacker antäuscht, der in Wirklichkeit aber die Break zum epochalen Riff-Teil des Songs ist.
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❶❹
 
Shabaka and The Ancestors - We Are Sent Here by History

SHABAKA & THE ANCESTORS
We Are Sent Here By History
Jazz

Dass südafrikanischer Jazz 2020 in der Szene gefühlt ein bisschen das Ding der Stunde war, ist nicht unwesentlich auf die Aufmerksamkeit zurückzuführen, die jemand wie Shabaka Hutchings bereits in den letzten Jahren auf dieses Phänomen lenkte. Und während seine musikalischen Extravaganzen immer mehr Fans finden, begibt er sich gemeinsam mit seiner Band the Ancestors immer tiefer in die Wirrungen dieser Stilistik. Im Gegensatz zu seinen breitbeinigen, farbenfrohen letzten Alben ist We Are Sent Here By History eher verhalten und düster, hält die treibenden Rhythmen bewusst im Hintergrund und gibt sich Virtuosität und Experiment hin. Sowohl Instrumente als auch Gesang des Kollektivs scheinen auf dieser LP in eine tiefe Trance gehüllt zu sein, spinnen über infektiöse Grooves immer größere Schlaufen an manischer, sakraler Improvisation und bauen im Fluss der Geräusche schaukelnde Boote, die ihre Botschaften über Panafrikanismus, Diaspora und spirituelle Rückführungen weitertragen. Kein so unterhaltsames Album wie die letzten von Hutchings, aber dafür ein magisches.

Das beste daran: Immer dann, wenn die Bläsersätze auf They Who Must Die in den perkussiven Groove der Songs einrasten, nur um anschließend mit doppelt so viel Elan das Eröffnungsriff zurückzubringen.
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Bryson Tiller - A N N I V E R S A R Y

BRYSON TILLER
Anniversary
R'n'B
 
Bryson Tiller ist auch 2020 auf seinem dritten Album nicht der größte Visionär seiner Zunft, er erforscht in seinen Songs keine komplexen Themen und sein Sound ist eher kommerziell als kreativ. Dennoch muss ich sagen, dass er auf Anniversary meiner Meinung nach seinen Entwurf von Rap und R'n'B ein Stückweit perfektioniert hat. Vom Songwriting über die Gesangslinien bishin zum Mastering ist auf dieser LP alles optimal abgestimmt und einfach handwerklich krass gut gemacht. Was gerade in einem Jahr wie diesem cool ist, wo der Trend eher dahin geht, sich vorschnell in experimentelle Hakenschläge zu verwickeln und darüber die Basics zu vergessen. Und obwohl das prinzipiell nichts schlechtes sein muss, überzeugt mich Tiller als kompletter Gegenentwurf zu diesen Platten, der vielleicht manchmal ein bisschen ein Dude-Bro ist, aber dafür die Kernkompetenzen gut gemachter R'n'B-Musik zu schätzen weiß. Vielleicht macht das Anniversary zu einem Retro-Album, vielleicht ist es aber auch nur eine parallele Auslegung der Gegenwart eines Genres.

Das beste daran: Der ebenso grandiose wie flüchtige Hiphop-Moment des Timeless Interlude.
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 Fleet Foxes - Shore
 
FLEET FOXES
Shore
Folk

Auf der einen Seite ist es Ehrensache, dass ein Album der Fleet Foxes für mich eines der besten 30 Alben des Jahres ist, Shore leistet aber auch wieder mächtig Überzeugungsarbeit. Nach dem subtilen, minimalistischen Crack-Up 2017 klingen Robin Pecknold und seine filigrane Folk-Maschine hier so bunt und groovig wie selten zuvor, finden eine bei ihnen selten gesehene positive Energie und machen - auf ihre eigene Art und Weise - eine fluffige Sommerplatte. Es ist schön zu hören, wie die Band hier ihr großes Talent für feingliedrige und monumentale Arrangements dazu nutzt, eine spannungsvolle Euphorie zu erzeugen, anstatt in romantische Melancholie zu investieren und gerade in einem Jahr wie 2020 erscheint ein Album, das so nach Ferien, Freiheit und optimistischer Lebenseinstellung klingt, vielleicht ein bisschen fehl am Platz. Gerade deswegen kann Shore aber auch sehr wertvoll sein und im allermindesten macht es Hoffnung, dass eine Zeit kommt, in der das Setting für diese LP adäquater ist.

Das beste daran: Wie der Refrain von Maestranza richtig Serotonin ballert.
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Klô Pelgag - Notre-Dame-des-Sept-Douleurs

KLÔ PELGAG
Notre-Dame-des-Sept-Douleurs
Indiepop
 
 Chloé Pelletier-Gagnon aka Klô Pelgag ist in jeder Hinsicht ein schillerndes Gesamtkunstwerk mit mannigfaltigen Talenten und ihre Songs kontextuell lediglich ein Bruchteil dessen, was ihr Output eigentlich bedeutet. Dennoch reichen hier 12 davon, um ganz auf sich allein gestellt etwas unglaublich faszinierendes abzubilden. Notre-Dame-des-Sept-Douleurs, das dritte Album der Kanadierin, ist mal sinfonisch, mal eingängig, mal melancholisch-poetisch und mal bombastisch, aber immer beeindruckend. Pelgag ist hier grandios als Sängerin, Komponistin, Arrageurin und Instrumentalistin und hat definitiv eine ästhetische Vision, die trotz ihrer vielen Widersprüche extrem kohärent ist. Ein bisschen ist sie auf dieser LP die Erschafferin surrealer Traumwelten, die gleichzeitig euphorisch und zutiefst düster werden können und die immer etwas anderes sind, als sie zunächst scheinen. Musikalisch eine Platte, die nicht immer groß sein muss, es aber trotzdem ist und lyrisch ein filigranes Monument, bei dem ich froh bin, französisch doch nicht gleich nach der zehnten Klasse abgewählt zu haben.

Das beste daran: Wie erhaben diese Frau selbst dann klingt, wenn sie nur sinnfreie Vokalisen singt.
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WILLIAM RYAN FRITCH
the Letdown
Jazz

Es spricht eindeutig für das immense Talent des William Ryan Fritch, dass er mit diesem Album für einen Moment aus dem Kokon seiner üblichen Ambient-Folk-Klanglandschaften ausbricht und mal eben so eine der besten Jazzplatten des ganzen Jahres macht. Zwar tut er dabei auch nicht mehr als seine sonstige Kompositorik der flirrenden Flächen und huschenden Phasen auf ein neues Instrumentarium zu übertragen, aber auch dieses Umdenken braucht Hirnschmalz und Kreativität. Und spätestens wenn man bedenkt, dass Fritch auch noch alle Instrumente selber einspielt, wird das hier sehr beeindruckend. Von der eigentlichen Struktur der Songs her mag the Letdown keinen großen Unterschied zu anderen Highlights seiner Diskografie machen, faszinierend ist es aber vor allem deshalb, weil der Musiker sich hier einer komplett neuen Klangsprache bedient, um diese Ideen zu kommunizieren. Und eine seiner spannendsten und klanglich durchtriebensten Platten ist es natürlich obendrein.

Das beste daran: Den kleinen Einschlag von Latinjazz, den Free Radical hat.
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Moses Sumney - Græ

MOSES SUMNEY
GRÆ
Soul
 
 Schon auf seinem 2017 veröffentlichten Debüt Aromanticism mahnten viele zur Vorsicht, jemanden wie Moses Sumney bloß nicht zu schnell in irgendwelche Schubladen zu stecken. Und wenn Græ uns dieses Jahr eines gezeigt hat, dann dass es inzwischen sogar noch schwieriger sein dürfte. Musikalisch wie persönlich ist es quasi das Leitbild dieser LP, das Konzept Identität an sich in Frage zu stellen und singuläre Charaktere immer wieder aufzusplitten und neu zu rekonstruieren. Dass die Platte dabei stilistisch extrem sprunghaft ist, ist da fast schon die kleinere Überraschung. Sumney zieht hier Inspiration aus Soul, Gospel, elektronischer Musik, Klassik und Indierock, ist aber nie eine Sache vollkommen, sondern immer ein undefiniertes Mischwesen, das Permanent Form und Inhalt verändert. Es gibt auf diesem Album keinen Stillstand und keine festen Grenzen, nur ein Spektrum von Schönheit, und das ist in jedem Moment beeindruckend.

Das beste daran: Wie viel besser Sumney als Sänger nochmal geworden ist.
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Car Seat Headrest - Making a Door Less Open

CAR SEAT HEADREST
Making A Door Less Open
Indietronic
 
Die Entdeckung der Tanzbarkeit durch Will Toledo war 2020 keine Sache, die von all seinen Fans mit großem Wohlwollen aufgenommen wurde und auch ich muss zugeben, dass sie alles andere als vorhersehbar war. Doch bin ich auch nachhaltig davon überzeugt, wie der Songwriter aus Seattle elektronische Einflüsse hier in seinen muffeligen, awkwarden Indierock-Sound einbettet. Wie ein James Murphy oder ein Julian Casablancas hat er die Fähigkeit, selbst einen Dancefloor-Kracher wie Hymn oder Can't Cool Me Down unfassbar lethargisch und bockig klingen zu lassen und auch mit weniger lyrischen Statements nicht an Attitüde zu verlieren. Stattdessen gewinnt seine Ästhetik mit dieser LP ein gewisses Element von Unberechenbarkeit und Subversion, das mich musikalisch total fasziniert. Und das mir endgültig auch das immense Talent zeigt, welches in diesem Kerl schlummerte. Auf Making A Door Less Open erleben wir es erstmals in voller Blüte, wenn man mich fragt.

Das beste daran: Toledos Hass-Hymne an den kalifornischen Lebensstil in Hollywood.
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$uicideboy$ - Stop Staring at the Shadows
 
$UICIDEBOY$
Stop Staring at the Shadows
Traprap
 
 Ihre Verbundenheit zu den musikalischen Traditionen des Südstaaten-Hiphop verkündeten die $uicideboy$ schon auf früheren Alben stolz, rein musikalisch jedoch ist Stop Staring at the Shadows ihr bisher vielleicht größtes Statement in diese Richtung. Jeder Song auf den gerade Mal 26 Minuten dieses Tapes atmet und schwitzt das Vermächtnis von Southern Rap, mit einem tiefen Verständnis für die Nuancen individueller Szenen und lokalen Prägungen. Der Style ihrer Heimatstadt Memphis ist dabei genauso vertreten wie Bounce aus New Orleans, dreckiger Trap aus Florida oder die klassische Atlantaer Schule, wobei immer auch der Bezug zur Gegenwart bleibt, in der die beiden Musiker sich selbst wiederfinden. Denn ein nostalgisches Album ist das hier nicht, lediglich eines mit viel Wissen um die Geschichte dessen, was gerade der Sound des Mainstream ist.

Das beste daran: Dass selbst die Produktion hier ein bisschen nach den frühen Zwotausendern klingt.
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070 Shake - Modus Vivendi
 
070 SHAKE
Modus Vivendi
R'n'B
 
 Danielle Balbuena ist 2020 ja noch eine relativ junge Künstlerin und an vielen stellen ist der Sound, den sie auf ihrem Debüt Modus Vivendi präsentiert, noch nicht zu hundert Prozent ausgereift. Allein daran, was hier alles zu finden ist, zeigt sich aber schon das gigantische Talent, das diese Künstlerin mitbringt. Trotz der strukturellen Unordnung (die wahrscheinlich sowieso Absicht ist), sind die 14 Songs hier kompositorisch sowohl kreativ als auch catchy und zeigen einen Charakter, der bereits in diesem Stadium Größe ausstrahlt. Unter den vielen hoffnungsvollen Acts, die in der letzten Dekade aus dem Förderprogramm des Kanye West kamen, ist diese junge Frau für mich trotz ihres vergleichsweise kleinen Portfolios eine der größeren Entdeckungen und hat in meinen Augen das Potenzial, in Zukunft mal ähnliches zu leisten wie heute ein Travis Scott oder Kid Cudi. Mit einem Debüt wie diesem ist aber ein großer Teil ihrer Verheißungen auch schon erfüllt.

Das beste daran: Wie der Closer Flight319 sich traut, noch mal richtig episch zu werden und am Ende sogar das Motiv von ganz am Anfang zurück bringt.
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Zugezogen Maskulin - 10 Jahre Abfuck

ZUGEZOGEN MASKULIN
10 Jahre Abfuck
Rap

Alles brennt war 2015 das Album, mit dem Zugezogen Maskulin die Tür zum Mainstream einrannten, 10 Jahre Abfuck kehrt fünf Jahre später die Scherben auf. Damit ist es nicht nur die Rückkehr von Testo und Grim zur damaligen Topform, sondern in vielen Belangen nochmal das intelligentere Stücke Musik. So gut wie keine Strophe hier kommt ohne doppelten Boden aus, vieles ist herrlich um die Ecke gedacht, lyrisch sind die beiden auf ihrem bisher besten Niveau und die kleinen Schönheitsfehler, die die ersten drei Platten noch hatten, werden hier zum Großteil ausgemerzt. Abfuck ist aber vor allem deshalb intelligenter, weil die beiden Protagonisten andere sind. Zwei vom Musikbusiness und dem gesellschaftlichen Umbruch der letzten Dekade geschwächte und resignierte Künstler, die ernsthafte Zweifel an allem anmelden, was sie selbst und ihre Umgebung in den letzten Jahren ausmachten und selbst von der Realität schockiert sind, die sie so lange prophezeihten. Was dieses Album finster macht, aber auch zu einem noch besseren Zeitdokument. Und Zugezogen Maskulin mal wieder zu einer Band, die mir aus der Seele sprechen.

Das beste daran: Wie Testo in Echte Männer seine ganz eigene Interpretation von Sidos Arschficksong findet.
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Soccer Mommy - Color Theory

SOCCER MOMMY
Color Theory
Indierock

Auf den ersten Blick war dieses Album dabei nicht mehr als der logische Nachfolger des ersten Soccer Mommy-Albums von 2018, über die Wochen und Monate dieses Jahres hat Color Theory mich aber auf immer neuen Ebenen begeistert und ist für mich inzwischen eine komplett andere Sache geworden am Anfang. Hinter den soften Adoleszenz-Hymnen von Sophie Allison versteckt sich nicht selten ein Songwriting, das auf wirklich schmerzhafte Weise inneren Dämonen begegnet die Songwriterin die finstersten Orte ihrer Psyche erforschen lässt. Und seltsamerweise steht das in überhaupt keinem Widerspruch zu den fluffigen Emo- und Indierock-Moods, die diese LP musikalisch verströmt, sondern wird dadurch sogar noch verstärkt. Mit gerade Mal 23 Jahren macht Allison damit eine Platte, die durchaus als ein Opus Magnum bezeichnet werden kann und die nach kreativer wie inhaltlicher Erfüllung klingt. Nicht, dass es mich bei einer so talentierten Künstlerin an sich wundert, doch nie im Leben hätte ich so früh damit gerechnet.

Das beste daran: Was für eine unglaubliche Mood der Refrain von Circle the Drain dieses Jahr war. Oh mein Gott.
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The Beths - Jump Rope Gazers

THE BETHS
Jump Rope Gazers
Indierock

Es gibt viele tolle und bemerkenswerte Sachen, die mich an diesem Album begeistern, am meisten bin ich aber nach wie vor von der Präzision beeindruckt, die die Beths hier an den Tag legen. Mit zehn Songs in 38 Minuten ist diese LP absolut auf den Punkt komponiert, hat kein Gramm Fett zu viel im Songwriting und ist dafür in jedem Ton und jeder Nuance wahnsinnig tight gespielt und klanglich optimal abgestimmt. Jeder Backgroundgesang, jedes Schlagzeugfill, jeder Gitarreneffekt und jeder Basslick scheint hier mikroskopisch genau platziert worden zu sein und trotzdem klingen alle Songs am Ende angenehm locker und unkompliziert. Und mit Elizabeth Stokes ist hier noch dazu eine unfassbar begnadete Sängerin am Werk, die für diese Art von Musik eigentlich viel zu raffiniert ist. Wenn es also darum geht, wie viel Perfektion man in ein nostalgisches Indierock-Album stecken kann, ist diese Gruppe aus Neuseeland der Makellosigkeit hier unheimlich nah und auch nach Monaten kann ich von Jump Rope Gazers einfach nicht genug kriegen. Am Ende ist es ja auch nur ein Rockalbum wie viele andere in den letzten Jahren, aber was für eins.

Das beste daran: Was für ein genialer Closer Just Shy of Sure ist
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Neil Young - Homegrown

NEIL YOUNG
Homegrown
Folkrock
 
 Es ist sicherlich ein Wagnis, in meinen Top Ten des Jahres 2020 ein Archivrelease aufzuführen, das Mitte der Siebziger geschrieben und aufgenommen wurde, manche würden vielleicht sogar sagen, dass es geschummelt ist. Doch kann ich einfach nicht anders, als Homegrown hier aufzuführen. Denn nach aktuellem Stand ist es nicht weniger als das beste Album, das ich von Neil Young je gehört habe. Hand aufs Herz. Entstanden in seiner stärksten Phase als Solokünstler kann es in meinen Augen nochmal ein ganzes Stück mehr als ein Harvest oder After the Gold Rush und präsentiert Young durch eine fiese Scheidung angeknackst, aber in einem dadurch motivierten kreativen Lauf, der das beste in ihm hervorbringt. Mit einem klanglichen Spektrum, in dem intime Folk-Momente genauso überzeugen wie Countryballaden, Blues-Nummern oder fetzige Rockbretter. Ein geniales Album, das den klassischen Neil Young in einer musikalischen Hochform zeigt und in meinen Augen schon lange ein Klassiker sein könnte, hätte es nicht so lange im Archiv geschimmelt.

Das beste daran: Dass Mexico keine zwei Minuten braucht, um eine stärksten Balladen dieses Albums zu sein.
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The Microphones - Microphones in 2020
 
THE MICROPHONES
Microphones in 2020
Singer-Songwriter
 
 Es ist mittlerweile vielleicht keine Überraschung mehr, dass ich so empfinde, aber auch 2020 geht der Pott für das besten Album an einen Musiker, der sehr viel redet. Dass die Musik von Phil Elverum bemerkenswert ist und in den meisten Fällen etwas transformierendes an sich hat, habe ich in den letzten Jahren auf eindrückliche Weise gelernt, dennoch setzt der Songwriter mit dieser LP noch einmal eine Schippe obendrauf. In einem einzigen, meditativen und sich windenden 45-minütigen Song erzählt der Kanadier hier die Geschichte seines ersten Projekts the Microphones, dessen Namen er für dieses Projekt passenderweise erstmals seit fast 20 Jahren reaktiviert. Auf den ersten Blick ist das vor allem Nostalgie für Nerds, in seiner ihm eigenen Weise gelingt es Elverum hier aber erneut, dieses Album auch zu einem transzendierenden Statement über das Mysterium der Zeit, die Erforschung der Vergangenheit und das Leben an sich zu machen. Das ist dann in erster Linie innere Katharsis, lyrisch wie musikalisch. Und hat in seinem Wechselspiel aus Daten, Erzählungen, sentimentalen Monologen und akribischen Beschreibungen eine Magie, die zwischen den Zeilen noch tausend mehr Dinge sagt als der Musiker selbst in dieser ganzen Geschichte. Weshalb ich nicht sagen kann, dass ich das hier verstehe. Nur dass ich es großartig finde.

Das beste daran: Wie Elverum am Anfang sieben Minuten auf zwei Akkorden hängen bleibt und eine fast unaushaltbare Spannung aufbaut.