Mittwoch, 23. Dezember 2020

the 2020 Expierience : Level 4 : Die 30 besten Songs


 


THE BETHS
I'M NOT GETTING EXCITED
AUS DEM ALBUM JUMP ROPE GAZERS
The Beths - I'm Not Getting ExcitedKeine drei Minuten brauchten die Beths aus Neuseeland dieses Jahr, um mich zu ihrem Fan zu machen und mich davon zu überzeugen, dass ihr neues Album den ganzen Hype wert ist. I'm Not Getting Excited ist einer der stärksten Opener einer Rockplatte, die ich in den letzten Jahren gehört habe und von der ersten Sekunde an ein Festakt an Energie und Spannung. Vor allem, wenn nach 30 Sekunden der Schlagzeugbreak kommt und aus einem leichten Zittern einen nachdrücklichen Puls macht. Im Song an sich geht es darum, im Angesicht des eigenen Erfolgs die Contenance zu bewahren und nicht die Beherrschung zu verlieren. Und obwohl auch die Performance von Sängerin Elisabeth Stokes hier atemberaubend ist, muss ich ihr doch widersprechen: Ja, ich bin excited. Anhören


RUN THE JEWELS FEAT. GREG NICE & DJ PREMIER
OOH LA LA
AUS DEM ALBUM RTJ4
Run the Jewels - Ooh LA LAViele haben in diesem Jahr wieder die Momente hervorgehoben, in denen Run the Jewels eine politische Band waren, was auch nach wie vor ohne Frage eine ihrer großen Stärken ist. Ich für meinen Teil mag sie aber noch immer dann am liebsten, wenn sie mal einen ordentlichen Partybanger fabrizieren. Und Ooh La La ist in dieser Hinsicht erneut ein echtes Highlight. Mit der Produktion von DJ Premier, der ultra eingängigen Hook und der perfekten Chemie zwischen beiden MCs ist das hier einer ihrer besten Tracks mit mächtig Schalk im Nacken. Einer, den früher jemand wie Action Bronson gemacht hätte, aber der macht Hedonismus ja inzwischen hauptberuflich. Anhören



MASERATI
A Warning in the Dark
aus dem Album Enter the Mirror
Maserati - Enter the Mirror Maserati sind im Optimalfall eine der Bands, die die Symbiose aus Elektropop und bratziger Rockmusik mit großer Harmonie vollziehen können und der Opener ihrer neuesten LP ist dafür mal wieder ein großartiges Beispiel. Retrofuturistische Vocoder-Parolen treffen auf kaltmechanische Blade Runner-VHS-Ästhetik, ein sündhaft grooviger Hair Metal-Gitarrenpart kommt im genau richtigen Moment (nämlich da, wo ich den Einsatz ich immer verpasse), peitschendes Liveschlagzeug mit ordentlich Phil Collins-Hall und zum krönenden Abschluss eines der besten Gitarrensoli der ganzen Saison. Maserati schaffen damit die perfekte Balance zwischen Achtziger-SciFi-Trash und postrockiger Atmosphäre. Und einen bombastischen Einstieg für eines der besten Alben dieser Saison. Anhören
 

DUA LIPA
Physical
aus dem Album Future Nostalgia
Dua Lipa - PhysicalDie Veröffentlichung von Physical war dieses Jahr der Moment, in dem Dua Lipa mich in der Tasche hatte. Ganz einfach, weil an diesem Song so vieles so gut funktioniert. Er ist tanzbar, er ist eingängig, er hat jede Menge Attitüde und jede Menge Klasse. Die Performance der Britin erinnert hier nicht von Ungefähr an das robuste Timbre einer Lady Gaga, die es ebenso gut versteht, maximalistisch zu arbeiten, und Dua Lipa kann vieles davon hier sogar noch toppen. Über seine gesamte Spieldauer brilliert der Song darin, immer noch ein bisschen größer und monumentaler zu werden, bis er am Ende vor Euphorie förmlich aus den Nähten platzt und die Sängerin fast selbst die Kontrolle darüber verliert. Aber eben nur fast. Anhören


 
ELDER
Omens
aus dem Album Omens
Elder - OmensEs ist immer herrlich zu hören, wenn eine Band ein gutes Gespür für Dynamik hat und auf ihrem neuen Album Omens werden die Psychrocker Elder darin zu wahren Meistern. Highlight der LP ist in meinen Augen definitiv der eröffnende Titelsong, der sich in reichlichen elf Minuten viel Platz einräumt, um alle Ebben und Fluten der kommenden knappen Stunde schon mal auf die Hörer*innen wirken zu lassen. Wellenbrechende Gitarrenriffs, minutiöse Soli, vernudelte Orgelpassagen, ausufernde Builds und Ruhemomente und alles in allem ein musikalisches Wechselbad, bei dem man jede Minute von neuem beeindruckt wird. Definitiv eine der besten Argumentation für schmuckvolle Psych-Gniedelei, die ich seit Jahren gehört habe. Anhören


THE SCREENSHOTS
Wir lieben uns und bauen uns ein Haus
aus dem Album 2 Millionen Umsatz mit einer einfachen Idee
Keine Ahnung, ob in den Neunzigern Tocotronic so einen Song geschrieben hätten, aber wahrscheinlich eher nicht. Auf ihr Aber hier leben, nein danke ist die Leadsingle des zweiten Screenshots-Albums die postironische Antwort mit voller Pulle Madsen-Refrain und Baumarkt-Musikvideo. Es ist definitiv ein bisschen sarkastisch, wenn es um die Erfolg-ist-kein-Glück-Parolen geht, man hat aber auch durchaus das Gefühl, dass ein bisschen von der besungenen Eigenheims-Harmonie hier gar nicht so unernst gemeint ist. Was es doppelt cool macht, denn dann kann man auf WG-Parties dazu genauso abgehen wie in der neuen Einfamilieninsel im verkehrsberuhigen Speckgürtel. Und mal darüber nachdenken, wie Punk Immobilienbesitz gerne wäre. Anhören
 
 
MURA MASA FEAT. GEORGIA
Live Like We're Dancing
Aus dem Album R.Y.C.
Mura Masa - R.Y.C Die Paarung von Georgia und Mura Masa, die ganz am Anfang dieser Saison für Live Like We're Dancing verantwortlich war, könnte nicht besser zusammen funktionieren. Beide sind sehr adoleszente Pop-Acts, beide können einen Hit schreiben wenn sie wollen, beide sind auf eine coole Weise sehr britisch und beide haben musikalisch ein Faible für die frühen Zwotausendzehner, das sie hier ein bisschen ausleben können. Besagter Song ist dabei keine offensive Dance-Nummer, sondern eher auf ganz softe Weise funky, die auch ein bisschen Melancholie zulässt und damit das perfekte Parkett für Georgias zentrale Gesangsperformance bietet. Ein Song, den die Ellie Goulding von vor zehn Jahren in ihrer schönsten Fantasie geschrieben hätte. Anhören


PÖBEL MC
Bildungsbürgerprolls
aus dem Album Bildungsbürgerprolls
Wenn man Pöbel MC heißt, ein Album mit dem Namen Bildungsbürgerprolls veröffentlicht und sein Artwork an ein Reclamheft anlehnt, kann es schnell passieren, dass man sich billigen Stereotypen hingibt, was der MC aus Rostock auf seinem Titelsong aber nicht nur clever umschifft, sondern geradezu konterkariert. Als definitives Statement seiner neuen LP ist das hier eine Kampfansage an Bildungsklischees im Rap, das die Mär des "Rap braucht kein Abitur" nicht unbedingt widerlegt, aber zumindest demystifiziert. Und das die Karrierelaufbahn des professionellen Musikers als das darstellt, was es ist: Einen Knochenjob mit ungewisser Zukunft. Ein erfrischend realistischer und pragmatischer Rapsong, der sich auch selbst nicht für zu schlau hält. Anhören
 
 
ASTROPHYSICS
Oneironaut
aus dem Album Apathy
Astrophysics - ApathyDieser Song zeigt, was im Optimalfall passieren kann, wenn melancholischer Synthpop auf New Wave-Gitarren, ein bisschen Future Funk-Ästhetik, Postrock und eine Prise Breakbeat trifft. In seinen etwas mehr als sechs Minuten ist Oneironaut, der brachiale Opener des vorletzten Astrophysics-Albums eine kleine galaktische Reise durch oszillierende Sternenexpolsionen und akustische Dimensionslöcher, die sich nicht zwischen atmosphärischer Weite und eingängigem Dancepop-Schmiss entscheiden muss. Hinter jeder Ecke dieses Songs lauert ein neues, noch spannenderes klangliches Segment und alles fühlt sich an, als würde man auf Pilzen durch einen Teilchenbeschleuniger geschossen. Definitiv eine der spannendsten und coolsten psychedelischen Abenteuer des ganzen Jahres. Anhören
 
STATIC-X
Hollow
aus dem Album Project Regeneration Vol. 1
Static-X - HollowEs war einiges spannendes dabei, als Static-X letztes Jahr noch einmal die alten Gesangstakes ihres verstorbenen Frontmanns Wayne Static durchstöberten, unter anderem dieser versteckte Riesenhit namens Hollow. Mitten im Revival des New Metal-Klischees fällt dieser Track trotzdem noch mächtig aus der Zeit, nicht zuletzt wegen der ziemlich genialen Deathgrowls im Refrain, aber altmodisch oder nicht, das Ding fetzt ein. Wäre das hier vor zwanzig Jahren rausgekommen, hätte es womöglich einen Platz unter den Let the Bodies Hit the Floors und Down With the Sicknesses dieser Periode gehabt, durch die Zeit im Archiv ist es stattdessen gereift wie Monster Energy im Eichenfass. Definitiv kein zeitloser Song, aber einer, der die Schokoladenseite eines Klischees präsentiert. Anhören


NAP EYES
Mark Zuckerberg
aus dem Album Snapshot of A Beginner
Nap Eyes - Mark ZuckerbergIm ersten Moment war dieser Song mit seinen verschwörerischen Lyrics und dem tanzenden CGI-Zuckerberg im Video natürlich ein ziemlich guter Gag, hängengeblieben ist daran am Ende aber was anderes. Unter allen Tracks des neuen Nap Eyes-Albums war dieser hier derjenige, der mich wirklich das ganze Jahr verfolgte, was damit zu tun hatte, dass ich ihn irgendwie unironisch fühlte. Die großartig eingängige Modest Mouse-Gitarrenline gleich am Anfang, die melancholischen Keyboardflächen und die herrlichen Streicher, die das Stück am Schluss ins ungewisse abdriften lassen. Und ja, am Ende auch irgendwie die Texte, die in all ihrem kryptischen Sarkasmus eine sehr weirde Poesie finden, die ich wunderbar rätselhaft finde. Anhören



HAIYTI
Sweet
aus dem Album Influencer
Haiyti - SweetDie letzten Jahre hatte ich den Zugang zu Haiyti ehrlich gesagt ein bisschen verloren, weil ich den Eindruck hatte, dass ihr Fließband-Output sich immer negativer auf die Qualität ihrer Songs auswirkte. Dann kam sie vor ein paar Monaten mit diesem Song und ich war von null auf hundert wieder angefixt. Banger-technisch ist Sweet vielleicht ihr bester Song seit etlichen Jahren und fast noch nie habe ich die Hamburgerin lyrisch so fokussiert gehört wie hier. Es gibt nicht nur großartige Punchlines, sondern in der zweiten Strophe auch eine echt fetzige Reimkette, die Hook ist Eins A und die Freestyle-Bridge zwischendurch haut den Song nochmal in eine komplett andere Richtung. Dank diesem Track glaube ich wieder an Haiyti. Anhören



SOCCER MOMMY
Circle the Drain
aus dem Album Color Theory
Soccer Mommy - Circle the DrainEs gab in den letzten Jahren und auch in dieser Saison viele Songs, die sich mit dem Thema mentaler Gesundheit auseinandersetzten und auch für Sophie Allison aka Soccer Mommy sind Dämonen des Inneren, vor allem Depressionen, wichtige Inspirationen auf ihrem neuen Album Color Theory. Circle the Drain ist dabei nicht nur der bei weitem eingängigste Song, sondern auch der, den ich persönlich 2020 am meisten gefühlt habe. Ganz einfach, weil er den Nagel wirklich auf den Kopf trifft. Die Art, wie Allison die eigene Unsicherheit, das verwahrloste Gefühl und ihre Hoffnungslosigkeit beschreibt, ist unangenehm akkurat und schwer verdaulich, aber alles in allem auch irgendwie sehr poetisch. "mood" sagt man dazu glaube ich im Internet. Anhören


POLIS
Tropfen
aus dem Album Weltklang
Polis - WeltklangWas brachialrockigen Lärm angeht, haben Polis 2020 auf Weltklang einen ordentlichen Zahn zugelegt und ein Song, der die Vorteile dieser Entwicklung deutlich aufzeigt, ist der Album-Opener Tropfen. Ohne den üblichen Prog-Poesie-Zinnober, den die Plauener sonst so lieben, zimmert er direkt ab dem ersten Takt ein Wahnsinns-Riff zurecht und hebt sich die nerdigen Parts für später auf. Was kein Problem ist, denn diese sind anschließend trotzdem umso geiler und winden sich durch eine fantastische Bridge nach der anderen, Keyboardsolo und verkitschter Kindergesang inklusive. Wie immer nimmt man auf lyrischer Seite dabei viel bedeutungsschwangere Esoterik mit, im Gegensatz zu manch anderer Stelle der LP funktioniert aber auch die hier richtig gut. Anhören


POP SMOKE
Gangstas
aus dem Album Shoot for the Stars, Aim for the Moon
Pop Smoke - Shoot for the Stars, Aim for the MoonEs ist streitbar, wie nachhaltig Pop Smoke während seiner kurzen Karriere das Bild von Hiphop prägen konnte, wenn es nach mir geht, hat er aber zumindest einen gigantischen Song in seiner Diskografie. Gangstas feiert ebenso den typisch düsteren Drill-Style des Rappers, der seine letzten Alben klanglich prägte, hat seine Wurzeln aber auch ganz klar in den klassischen Szene-Motiven der Neunziger und fühlt sich damit vielleicht sogar ein kleines bisschen zeitlos an. Ich persönlich muss hierbei immer irgendwie an Dr. Dre denken, allerdings daran, wie heutzutage eine Platte wie 2001 möglicherweise klingen würde. Auf jeden Fall ein Track, der seinem bedeutungsvollen Namen vibe-technisch alle Ehre macht. Rest in Power, Pop! Anhören


HAYLEY WILLIAMS
Roses/Lotus/Violet/Iris
aus dem Album Petals for Armor
Hayley Williams - Petals for Armor Es gibt definitiv Songs auf Hayley Williams' Debüt Petals for Armor, die offensichtlichere Singles oder größere Hits gewesen wären, trotzdem ist Roses/Lotus/Violet/Iris in meinen Augen ganz klar der bemerkenswerteste darunter. Einfach weil er am besten zeigt, wie sehr Williams hier als Songwriterin gewachsen ist. In den fünfeinhalb Minuten, die der Track geht, hört man unglaublich viele Facetten und Windungen heraus, die super spannend sind und mit denen auch der Track selbst immer weiter wächst. In seinem unfassbar detaillierten Spurendschungel hört man dabei nicht von ungefähr Teile heraus, die sehr an Radiohead, Björk oder Mitski erinnern und definitiv zeigen, dass diese Frau hier ernst macht. In meinen Augen das bisherige Highlight ihrer Karriere. Anhören


ZUGEZOGEN MASKULIN
Sommer vorbei
aus dem Album 10 Jahre abfuck
Zugezogen Maskulin - 10 Jahre Abfuck Den einen, definierenden Superhit hatte das neue Album von Zugezogen Maskulin eigentlich nicht, eher viele sehr gute Deep Cuts. Sommer vorbei ist für mich trotzdem ein exemplarischer Track für diese Saison, weil er irgendwie ein bisschen für das steht, was 2020 für viele war. Im Sinne ihres üblichen apokalyptischen Narrativ besingen Grim und Testo hier das Ende der optimistischen Weltanschauung Europas, beide mit viel sozialkritischem und seelischem Ballast. Es ist ein bisschen der Track, der die Gedanken dieser gesamten Platte zu bündeln versucht, was natürlich nur oberflächlich gelingt, aber trotzdem für eine ziemlich gute Testversion dessen reicht, was eine*n auf 10 Jahre Abfuck erwartet. Anhören



ICHIKO AOBA
アダンの島の誕生祭
aus dem Album アダンの風 (Adan No Kaze)
青葉市子 [Ichiko Aoba] - アダンの風 (Windswept Adan) Die 50 teilweise doch sehr stillen und schüchternen Minuten des neuen Ichiko Aoba-Albums lohnen sich in meinen Augen schon allein deswegen, weil am Ende des ganzen dieses grandiose Finale steht, das mich noch vor einer Woche komplett verzaubert hat. Vorsichtig zieht die japanische Songwriterin auf diesem Track nochmal alle Register der pittoresken Folklore, baut Stück für Stück um Celli, Geigen, Flöten und Glockenspiele eine dichte Atmosphärik auf und findet sich am Ende in einer kleinen eigenen Traumlandschaft wieder. Sogar das ambiente Meeresrauschen nach dem eigentlichen Ende des Stücks finde ich absolut magisch. Wer die volle Expierience will, sollte zwar definitiv die LP hören, für die Fünf-Minuten-Gänsehaut raucht aber auch dieser eine Song. Anhören


R.A.P. FERREIRA
U.D.I.G. (United Defenders of International Goodwill)
aus dem Album Purple Moonlight Pages
R.A.P. Ferreira - Purple Moonlight PagesDass ich Rory Ferreira aka Milo aka R.A.P. Ferreira für einen guten Lyriker halte, ist keine wirklich neue Information und obwohl U.D.I.G. auch textlich gesehen wieder ziemlich klasse ist, steht der Rapper diesmal ausnahmsweise mal der Musik wegen hier. Dass sein neues Moniker mehr kompositorische Finesse und performative Action an den Mann bringt, ist eine der großen Stärken der neuen LP vom Winter und hier spürt man das besonders. Spätestens nach dem Schlagzeug-und-Piano-Break nach etwa einer Minute ist das hier nicht nur ein guter Rap-Song, sondern auch eine ziemlich stabile Jazznummer, die nicht nur der inhaltlichen Verweise wegen an Leute wie A Tribe Called Quest und De La Soul erinnert. Hoffentlich der Beginn eines spannenden neuen Kapitels für Rory Ferreira. Anhören


COUTNEY MARIE ANDREWS
Burlap String
aus dem Album Old Flowers
Courtney Marie Andrews - Old Flowers Ich habe dieses Jahr gelernt, dass Courtney Marie Andrews eine Künstlerin ist, die keine großen Schmalz-Gesten braucht, um eine richtig gute Countryballade zu schreiben. Wenn sie es allerdings doch tut, wird es mitunter noch besser. Burlap String, der Opener ihrer neuen LP Old Flowers, macht das sehr brilliant. Es sind nicht mehr als ein paar gut akzentuierte Backing Vocals, Klavierakkorde und Pedalsteel-Licks, die sie braucht, um diesem Song noch einmal einen ordentlichen Schuss Drama zu verpassen, den Rest erledigt das tolle Songwriting und ihre geniale Performance als Sängerin. Die logische Konsequenz ist ein Track, der mich 2020 einfach nicht losgelassen hat und so lange in meiner Hirnrinde festsaß, bis ich ihn auf diese Liste geschrieben habe. Anhören


KHRUANGBIN
Pelota
aus dem Album Mordechai
Khruangbin - PelotaDas Instrumental ist aus lateinamerikanischem Psychpop, nordafrikanischem Desertrock, Flamenco und Little Dragon-Versatzstücken zusammengeklaut, der Sound schlecht gemachter Retro-Blödsinn und das spanisch von Sängerin Laura Lee bestenfalls auf Einsteigerniveau, aber drauf geschissen: Pelota war 2020 ein absolut unfickbarer Jam für jede Gelegenheit. Es könnte gut sein, dass ich in den letzten sechs Monaten keinen Song so oft (und so oft hintereinander) gehört habe wie diesen hier und ich bin mir absolut sicher, dass ich damit auch nach Ende diesen Jahres erstmal nicht aufhören will. Einen offensiven Hit wie diesen schreiben Khruangbin ja leider eher selten, aber wenn, dann zumindest richtig. Anhören


FINCH ASOZIAL fEAT. TAREK K.I.Z.
Onkelz Poster
veröffentlicht als Single
Finch Asozial &  Tarek K.I.Z - Onkelz PosterAls jemand, für den Zugezogen Maskulins Plattenbau O.S.T. nach wie vor einer der definierenden Songs der letzten Dekade ist und der selbst der berüchtigen dritten Generation Ost angehört, scheint das hier natürlich ein logischer Pick, es war aber auch Überzeugungsarbeit. Gerade jemand wie Finch Asozial, der mir sonst eher suspekt ist, tut hier sehr gut daran, seine kaffige brandenburgische Prolligkeit wenigstens mal sehr teuer zu verkaufen und als Sparringpartner könnte Tarek von K.I.Z. nicht besser sein, auch wenn er nur die Hook singt. Abgesehen davon mag ich die Idee, hier Klischees von Zwotausender-Deutschrap mit offensiven Hardstyle-Einflüssen zu verbinden und das hier am Ende irgendwie auch zu einem richtigen Banger zu machen. Anhören


LIAM GALLAGHER
Stand By Me
aus dem Album MTV Unplugged live at Hull City Hall
Liam Gallagher - MTV UnpluggedSicher, es ist ein bisschen geschummelt, hier eine alte Oasis-Nummer aus den Neunzigern aufzulisten, die Frontmann Liam zwanzig Jahre später marginal umarrangiert als Live-Leadsingle aus dem Hut zaubert. Doch bin ich einfach beeindruckt, was für eine Drehung der Track in dieser Bearbeitung macht. War das Original auf Be Here Now noch eine hoffnungslos verkokste Vanitas-Powerballade, die einfach zu viel von sich wollte, ist diese Version mit den geschmackvollen Streicher-Passagen und der ehrlich ergreifenden Performance von Liam wesentlich intelligenter, schöngeistiger und emotionaler. Einer der seltenen Fälle, in denen ein Song bei MTV Unplugged tatsächlich besser wird, und dass das ausgerechnet dieser Typ schafft, hat mich dann doch überrascht. Anhören


DISCLOSURE feat. AMINÉ & SLOWTHAI
My High
aus dem Album Energy
Disclosure, Aminé & slowthai - My HighEs sind Songs wie diese, deretwegen ich manchmal glaube, dass Disclosure irgendwann die neuen Chemical Brothers werden und rein aus Crossover-Perspektive ist das hier eine Wonne. Der hektische Beat und der pumpende Bass sind UK Garage aus dem Lehrbuch, gleichzeitig ist das hier aber auch ein absolut genialer Hiphop-Track, mit Animé als US-geprägten Klassiker und Slowthai (der dieses Jahr ja irgendwo auf dieser Liste auftauchen musste) als rotzigen Grime-Klumpen. Von jeder der hier beteiligten Parteien geht eine Lastwagenladung Charisma aus und vor allem Disclosure zeigen ein weiteres Mal eine wahnsinnig gute Nase für gute Gastperformances. Wäre 2020 ein Jahr für Clubs gewesen, hätte dieser Song womöglich alles abgeräumt. Anhören


TAYLOR SWIFT
BETTY
aus dem Album Folklore
Es gibt viele Songs auf Folklore, die mich für Taylor Swift als Lyrikerin noch glühender begeisterten als ihre früheren Alben ohnehin schon und eine ganze Handvoll davon, die ich hier auflisten könnte. Am meisten von allem packt mich nach wie vor aber Betty, eine Ballade über Verfehlungen der Jugend, Streit, Freundschaft Versöhnung und lange gehegten Groll und Schuldgefühle, die nach Jahren endlich ausgesprochen werden. Swift ist dabei mehr als eine unglaublich starke Erzählerin, sondern verkauft den Song auch wie ein eigenes Erlebnis und schreibt den Text dieses Stücks am Ende sogar direkt an die Titelfigur, was extrem stark ist. Nicht nur ein sehr guter, sondern wahnsinnig erwachsener Track, der sich traut, an den hässlichen Stellen seine schönsten Seiten zu zeigen. Anhören


BLOND
SAnifair Millionär (Cypher)
veröffentlicht als PR-Track
Blond - Martini SpriteSich für die Tour-Edition einer Albumsingle nochmal ein paar freshe Gäste auf den Track zu holen und ein gesondertes Video zu drehen ist in der deutschen Popmusik seit Jahren übliche Handhabe, Blond aus Karl-Marx-Stadt wollen aber anscheinend den neuen Weltrekord in dieser Rubrik holen. Mit nicht weniger als 17 Gästen streckt die Band ihren Deep Cut Sanifair Millionär hier auf stattliche achteinhalb Minuten und bringt Szene-Prominenz wie Fatoni, Cashmiri, Zugezogen Maskulin, Von Wegen Lisbeth und Kummer dazu, Texte über Raststättenklos zu schreiben. Die Tour dazu gab es am Ende logischerweise nicht, aber schön, dass sich hier soviel Mühe gemacht wurde und definitiv nicht nur der Quantität wegen klasse. Anhören



RMR
Rascal
von der EP Drug Dealing is A Lost Art
RMR - RascalEs war diesen März eine Lieblingsbeschäftigung von mir, Reaction-Videos amerikanischer Rap-Kanäle anszusehen, die in Rascal wohl den neuesten Soundcloud-Banger vermuteten und völlig am Rad drehten, als sich hinter dem fiesen Gangsterrap-Thumbnail eine schmerzerfüllte Countryballade versteckte, die für die vielleicht beste Bild-Ton-Schere des Jahres verantwortlich ist. Dennoch war das hier nicht nur ein großartiges Meme, sondern tatsächlich ein Track, der clevere stilistische Brücken schlägt. Parallelen zwischen den Narrativen alter amerikanischer Volksmusik und Gangster-Attitüde werden hier gesucht und gefunden und ein völlig neues Amalgam dieser Ästhetiken gebildet. Im Optimalfall nur der Startschuss für einen sehr spannenden Ansatz an kriminelles Songwriting. Anhören


HALSEY
3AM
aus dem Album Manic
Halsey - ManicWäre Halseys neues Album Manic ein Film, dann wäre 3AM die Szene, in der die Protagonistin im tiefsten Moment ihrer Krise steckt und sich im absoluten Wahn alleine im Hotelzimmer bewusstlos säuft. Es zeigt im Gegensatz zum großen Rest der LP nicht die stillen, geheimen Momente einer problematischen Psyche, sondern die kaputten und verhaltensauffälligen, die unkontrollierten Ausbrüche. Was auch passt, denn auf eine schräge Weise ist 3AM mit seinem rotzigen Punk-Spirit auch ein Partysong, nur eben keiner, der besonders gute Laune macht. Er steht eher für ungesunden Exzess, schlechte Entscheidungen und hedonistische Betäubung, was auf jeden Fall auch eine Facette mentaler Probleme sein kann und hier sehr treffend aufgegriffen wird. Anhören


FLORENCE + THE MACHINE
Light of LOve
veröffentlicht als Single
Florence + The Machine - Light of LoveLight of Love ist für Florence Welch ein weiterer Eintrag in die seit Beginn ihrer Karriere laufende Saga abstrakt-biografischer Songs, die vom Überstehen der Krise und dem Aufstehen und Weiterkämpfen handelt. Und wie schon ein Shake It Out oder Dog Days Are Over ist auch das hier wieder ein Stück Musik, das die Menschheit einfach gebraucht hat und das viele Momente vielleicht ein bisschen weniger beschissen machte. Zentrum dieses Tracks ist dabei die Bestätigung, dass niemand allein auf dieser Welt ist und jedem Individuum an sich (also auch dir!) eine inspirierende Stärke innewohnt, die der größten Hoffnungslosigkeit trotzt. Ein Song, der seinen Hörer*innen die Hand reicht und eine Packung Taschentücher reicht. Und gerade 2020 waren solche Tracks ja immer wieder wertvoll, amirite? Anhören


MYRKUR
Vinter
aus dem Album Folkesange
Myrkur - FolkesangeAmalie Bruun ist schon immer eine Künstlerin, deren Musik ich nicht trotz, sondern wegen der verklärenden skandinavischen Romantik in ihren Songs höre und Vinter ist dahingehend in vielerlei Hinsicht ein weiteres Meisterstück. Eine schubertsche Klavierballade wie aus einem richtig schlechten Märchenfilm, inklusive kleinen Choralparts und schneeflockigem Staccato in den Spitzen, der irgendwo zwischen besinnlich und naiv spagatet. Blickt man hinter die heimelige Fassade, ist es vielleicht ein etwas billiger Song, aber ich liebe ihn gerade deswegen ohne Unterlass. Weil er so herrlich nach verschneiten Wäldern, Eisblumen an Fenstern und Kaminfeuern klingt. Sachen, die es in Wirklichkeit wahrscheinlich gar nicht mehr gibt. Anhören



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