Samstag, 31. Juli 2021

Rich Against the Machine

Willow - Lately I Feel EverythingWILLOW
LATELY I FEEL EVERYTHING
Roc Nation
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ adoleszent | angstig | eingeschnappt ]

Natürlich hat es ein bisschen etwas lachhaftes, wenn ausgerechnet Willow Smith, die wie wenige Künstler*innen ihrer Generation die Aura eines angeborenen goldenen Löffels mit sich trägt, hier den Entschluss fasst, eine Emorock-Platte aufzunehmen. Eine Platte, auf der sie 26 Minuten lang darüber singt, wie unfair die Welt ihr gegenüber ist und wie schwer sie zu leiden hat. Sicher, auch sie hatte insofern bestimmt keine leichte Kindheit, als dass sie quasi seit ihrer Geburt eine Person des öffentlichen Lebens ist und stellenweise geht es hier auch um Probleme in Beziehungen und den Struggle des Älterwerdens, den wahrscheinlich jeder Mensch in ihrem Alter teilt. Doch kommt man einfach nicht umhin, an irgendeinem Punkt dieses Albums den Gedanken zu denken, dass Willow Smith ja eigentlich die letzte ist, die sich irgendwie beschweren kann. Und neu ist dieser Gedanke ja auch keineswegs. Sowohl in ihrem eigenen früheren Output als auch in dem ihres Bruders Jaden (der in seinen Songs ja auch durchaus zu jammerigen Narrativen neigt) erwische ich mich immer wieder dabei, die glamouröse Ausgangsposition der KünstlerInnen sehr wichtig zu nehmen. Und an und für sich fand ich das bisher auch immer eine relevante Eigenschaft, die im Kontext zur Musik viel aussagte. Was sich auf Lately I Feel Everything aber erstmals ändert, da Willow hier als erstes Smith-Kind das Kunststück fertig bringt, ihre Musik von alledem unabhängig zu machen und einfach gute Songs zu schreiben. Klar hat man am Anfang noch die eben angesprochenen Hintergedanken bezüglich ihres Kinderstar-Daseins, des langens Schatten von Papa Will auf ihrer Karriere oder ihres nicht weniger bekannten Bruders, die man die letzten Jahre immer hatte. Doch schafft es dieses Album in seinen 26 Minuten sehr erfolgreich, diese Gedanken dadurch zu zerstreuen, indem es konsequent für sich selbst spricht. Und wenn man mich fragt, dann wird das auch Zeit. Lately I Feel Everything ist nun inzwischen das vierte Album der Zwanzigjährigen, und bis dato hatte die Beschäftigung vieler Leute mit ihr eher wenig mit Musik zu tun. Dass das diesmal anders ist, hat sicherlich vor allem damit zu tun, wie clever Willow hier einen Stilbruch inszeniert, doch ist das musikalisch keinesfalls alles. Denn hinter der angstigen Pose und dem edgy Drumherum, das die Kalifornierin hier aufbaut, stecken in vielen Momenten tatsächlich echt starke Songs. Neu ist das nicht wirklich, schon auf früheren Platten strahlte hier und da jede Menge kompositorisches Potenzial durch und im Gegensatz zu ihrem leider völlig talentfreien Bruder sehe ich bei ihr ein grundsätzliches künstlerisches Gespür, das eben nur richtig verwoben werden musste. Lately I Feel Everything ist nun das Album, das genau das hinkriegt. Was Willow in dieser knappen halben Stunde an Material zusammenbringt, fühlt sich nicht nur an wie ein vollwertiger Longplayer, sondern hat auch viele interessante und kreative Spitzen. Da gibt es die abgebrühte Leadsingle t r a n s p a r e n t s o u l, mit der gleich zu Anfang die schönsten Emorock-Klischees angespielt werden, das düstere XTRA mit dem coolen Gastpart von Tierra Whack, der Schulterschluss mit Kindheitsheldin Avril Lavigne auf G R O W oder auch das etwas dämliche, aber durchaus amüsante Interlude F**K You ziemlich zu Beginn. Dass Willow dabei lyrisch gerne etwas melodramatisch auf dem Putz haut und auch mal grobe Plattitüden bemüht, passt dabei irgendwie sogar zur musikalischen Ausgestaltung und die Botschaften über mentale Selbstbestimmung, emotionales Wachstum und das Anerkennen eigener Schwächen sind so oder so wertvoll. Zwar würde ich weiten Abstand davon nehmen, dieses Album als ernsthaft 'rebellisch' oder 'unkonventionell' zu bezeichnen, da sich Willow am Ende doch sehr in den Grenzen gängiger Trends bewegt, doch kann man zumindest nicht sagen, dass sie dabei einfach Dienst nach Vorschrift macht. Vergleicht man das hier zum Beispiel mit einem sehr ähnlich angedachten Stilbruch vom letzten Jahr, Tickets to My Downfall von Machine Gun Kelly, ist Lately I Feel Everything mit weitem Abstand die kreativere, mutigere und spannendere Platte. Und das, obwohl Willow Smith gute zehn Jahre jünger als MGK ist und nur auf zwei Songs Travis Barker als Kreativpartner bemühen muss. Wenn es also einen Moment gibt, an dem der Kinderstar Willow Smith zur ernstzunehmenden Pop-Künstlerin Willow Smith werden könnte, dann ist das in meinen Augen am ehesten diese LP hier. Und ich schreibe das mit der großen Hoffnung, dass selbige nicht nur eine flüchtige Schnapsidee war.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
t r a n s p a r e n t s o u l | F**K You | Gaslight | Don't Save Me | naïve | Come Home | 4ever | XTRA | G R O W | ¡BREAKOUT!

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Machine Gun Kelly
Tickets to My Downfall

Avril Lavigne
Let Go


Freitag, 30. Juli 2021

Der DJ ist tot. Es lebe der DJ.

U-Roy - Solid GoldU-ROY
Solid Gold
BMG
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ prominent | anthologisch | ehrwürdig | eingängig ]

Am 17. Februar dieses Jahres verstarb in Kingston nach längerer Krankheit mit 79 Jahren der Reggaemusiker Ewart Beckford alias U-Roy, wovon die meisten Leute außerhalb der unmittelbaren Szene - inklusive mir selbst - eher wenig Notiz nahmen. Und wo man solche verhaltenen Reaktionen gegenüber Traditions-Künstler*innen aus Jamaika (von denen in den letzten Jahren leider schon einige abgetreten sind) irgendwie kennt, hätte man bei diesem besonderen Charakter vielleicht erwarten können, dass sein Tod ein paar höhere Wellen schlägt. Schließlich ist er als Wegbereiter für das Selbstverständnis der modernen Popmusik doch nicht ganz unwesentlich. Gemeinsam mit der ewigen Dub-Legende King Tubby, in dessen Soundsystem er seit den Sechzigern tätig war, gilt er als einer der Pioniere sowohl ursprünglicher Deejaying-Techniken als auch des sogenannten Toastings, einer im Reggae üblichen Form des Sprechgesang und Vorform des Rap, was ihn ziemlich unumstritten zu einem direkten Urahnen der gesamten musikalischen Idee von Hiphop und damit zu einem der vielleicht einflussreichsten Musiker der letzten 70 Jahre macht. Zwar war er das anders als King Tubby voerdergründig in einem Live-Kontext und eher weniger auf Platte - weshalb von ihm nie ein wirklich bestimmendes oder Szene-relevantes Album erschien, doch finde ich es trotzdem schade, wie er in diesem Frühjahr doch so sang- und klanglos dahinschied. Eine LP wie Solid Gold zu besprechen, sehe ich deshalb quasi schon als heilige Pflicht im Sinne eines Andenkens an ihn. Dass sie eines der besten Reggae-Alben ist, die ich in den letzten Jahren gehört habe, ist aber letztendlich der Hauptgrund. Denn wenn diese zwölf Tracks eines ganz wunderbar zeigen, dann eine gemeinsam empfundene Leidenschaft für das Erbe von U-Roy und im weiteren Sinne für das Medium Reggae an sich. Und in vielerlei Hinsicht hat das hier auch etwas sehr definitives und umfassendes, das mich immens beeindruckt. So als ob es hier darum ginge, das Wesen dieses Genres an sich auf einem Longplayer zusammenzufassen und damit nicht nur einem Künstler, sondern einer ganzen Kultur ein Denkmal zu setzen. Wobei man der Fairness halber sagen muss, dass das sogar ziemlich gut gelingt. Die Idee von Solid Gold, prominente Figuren aus den Landschaften des Reggae, Dub und Dancehall die MC-Funktion einnehmen zu lassen und mit vorhandenen Aufnahmen des Hauptakteurs zu kombinieren, ist dabei ebenso clever wie naheliegend. Und wenn man sich ansieht, wer hier alles den Ruf hörte, ergibt sich nicht weniger als ein generationsübergreifendes Aufgebot genre-relevanter Superstars. Da singt Ziggy Marley zur Eröffnung den Trenchtown Rock von Papa Bob, Santigold veredelt eine weitere geniale Version des Szene-Standards Man Next Door, Clash-Gitarrist Mick Jones ist im 15-minütigen Opus Every Knee Shall Bow zu hören, Dub-Legende Scientist baut einen fantastischen Remix des gleichen Songs und selbst der ewig verlachte Shaggy steuert in Rule the Nation einen Part bei, der weit mehr als nur ziemlich gut ist. Dass viele der Stücke auf Solid Gold dabei neue Versionen von Klassikern des kingstoner Kanons sind, macht die Tragweite und Erhabenheit dieses Releases natürlich noch ein bisschen spürbarer, auch wenn das hier in keinem Moment ein melancholisches oder in sich gekehrtes Album ist. Viel eher ist es im Geiste dort, wo U-Roy Zeit seines Lebens seine größte kreative Kraft entfaltete: In irgendeiner Straßenecke in Trenchtown, eingepfercht zwischen mehrstöckigen Boxentürmen und in Aktion. Im Sinne einer Erinnerung und einer Verbeugung vor dem Schaffen dieses Künstlers könnte Solid Gold in meinen Augen deshalb besser nicht sein und dass es an manchen Stellen schon fast wieder ein Tribute-Release ist, funktioniert in diesem Fall tatsächlich Mal zu seinem Vorteil. Denn es ist eben nicht das Produkt eines zynischen Labels, dass so schnell wie möglich nochmal Profit aus dem Erbe eines verstorbenen Musikers schlagen will, sondern die Zusammenkunft einer ganzen Szene, die einen ihrer wichtigsten Impulsgeber feiert. Und auch wenn das sicher nicht mehr die Aufmerksamkeit generiert, die ich der Erinnerung von U-Roy gewünscht hätte, ist es doch ein ziemlich schöner Abschied, der ihm würdig erscheint. Auch wenn die Welt des Pop sicher nie so richtig schätzen lernen wird, was sie an diesem Typen hatte.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Trenchtown Rock | Man Next Door | Rule the Nation | Tom Drunk | Stop That Train | Soul Rebel | Queen Majesty / Chalice | Small Axe | Every Knee Shall Bow | Every Knee Shall Bow (Scientist Dub)

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Bob Marley & the Wailers
Confrontation

Thievery Corporation
the Temple of I & I


Mittwoch, 28. Juli 2021

Walking On A Thin Line

Leon Bridges - Gold-Diggers SoundLEON BRIDGES
Gold-Diggers Sound
Columbia
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ modern | poppig | klar ] 

Es ist wahrscheinlich die Art und Weise gewesen, wie Leon Bridges selbst für die eh schon soften Verhältnisse des zeitgenössischen Neo-Soul ein sehr zaghafter Künstler war und wie oft er in den letzten Jahren eine gefällige Gemütlichkeit einer klaren Emotionalität vorzog, aber für mich persönlich ist er eigentlich immer eher ein Jazz- als ein Soul-Musiker gewesen. Zwar würde keiner seiner bisher drei Longplayer (wenn man seine Kollaboration mit Khruangbin vom letzten Jahr mitzählt) diese Assoziation technisch nahelegen, eigentlich spielt der Texaner sogar eine recht traditionell inspirierte Musik in der Tradition von Sam Cooke und Ben E. King. Doch fehlte mir dazu auf der einen Seite meist ein wenig die passionierte Inbrunst, die ihm selbst die chilligsten Kolleg*innen voraus hatten, auf der anderen zeigte sich an deinen Songs schon immer eine sehr umfassende Liebe zu vertrackten Jazz-Motiven und auch ein wenig zu dessen schlichter Eleganz. Insbesondere sein letzten Album Good Thing hatte darüber hinaus sehr oft ganz klare Bezüge zu aktuellen Szene-Geschehnissen und wurde nicht zuletzt von vielen Jazz-Fans seiner kompositorischen Chops wegen gefeiert. Dass Bridges drei Jahre später mit Gold-Diggers Sound ein ziemlich modernes R'n'B-Album gemacht hat, ist aber trotzdem irgendwie logisch. Denn die größte Bekanntheit erlangte er in der Zeit seit Good Thing vor allem durch Auftritte abseits seiner Alben. Hauptsächlich durch die besagte EP mit Khruangbin, aber auch durch Feature-Spots bei den Avalanches, Kacey Musgraves, Diplo und Noah Cyrus hat Bridges mittlerweile eine ziemlich solide Reputation als Pop-Künstler gefunden, die er ebenso zu zelebrieren scheint wie sein Jazz-Faible. Was das hier vor allem zu einem Album macht, das viele verschiedene Dinge auszubalancieren versucht. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Wobei die Basis irgendwie die eines sehr minimal und sauber gehaltenen R'nB- und Neosoul-Sounds ist, der Bridges' klanglichen Charakter weiter auf seine wesentlichen Bestandteile reduziert. Wie schon auf seinen letzten Platten steht der Texaner auch hier nicht auf zu wilde vokalistische Ausbrüche oder gar rustikale Produktion, sondern ist sehr geradlinig und stoisch unterwegs. Wo das auf den Vorgängern aber immer irgendwie ein kleines Manko war, passt es diesmal wesentlich besser zum Songwriting und erschafft einfach eine klare, ordentliche Ästhetik, mit der sich selten verkalkuliert wird. Keiner der elf Tracks hier hat auch nur ein Gramm unnötiges Fett an sich und auch wenn es unter Umständen Gastparts, größere Instrumentale Arrangements oder Songlängen von fast sieben Minuten gibt, wirkt nichts davon maximalistisch. Eher hat man das Gefühl, dass solche Elemente notwendig sind, um den Stücken überhaupt etwas Volumen zu geben. Klanglich gesehen finde ich diese Herangehensweise echt cool, da alles hier einen sehr festen kompositorischen Kern hat, der dann mit allerhand stilistischen Exkursen umspielt werden kann. Und an diesen Stellen ist Gold-Diggers Sound dann doch recht vielschichtig und bunt geworden. Mit Born Again und Sweeter gibt es hier zwei sehr sinnliche Soul-Nummern, in denen Bridges seine Connections in die Jazz-Bubble spielen lässt (auf den Songs gibt es jeweils Gastparts von den Szene-Promis Terrace Martin und Robert Glasper), Steam und Motorbike sind sehr lockere R'n'B-Tracks, die mich schon fast an Leute wie FKA Twigs oder Moses Sumney erinnern, in Don't Worry und Why Don't You Touch Me wiederum klingt der gleiche Songwriting-Entwurf auch schnell mal sehr kommerziell und radiopoppig. Wobei vor allem beeindruckend ist, wie Bridges das alles nicht widersprüchlich wirken lässt. Mehr als eine Zusammenraffung verschiedener stilistischer Ausflüge ist das hier für mich einfach eine Aufstellung der gesamten ästhetischen Bandbreite dieses Künstlers. Und der ist anscheinend kein Typ, der seine Liebe für Jazz, Soul und Pop in verschiedene Tätigkeitsbereiche einordnet, sondern sie zu vereinen versucht. Und obwohl das auch bedeutet, dass Gold-Diggers Sound weniger deutliche Hits und keinen so starken Punch hat wie sein Vorgänger, bin ich doch zumindest von der Kohärenz dieser Platte beeindruckt. Denn sie kann auf jeden Fall die Basis für eine Art von Pop-Songwriting sein, das ebenso kommerziell wie kreativ Erfolg verspricht. Die notwendigen Gäste und Producer*innen kann sich Bridges inzwischen auch leisten, die Weichen in die richtige Richtung sind also auf jeden Fall gestellt. Jetzt liegt es nur noch an ihm selber.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡⚫⚫⚫⚫ 07/11

Persönliche Höhepunkte
Steam | Magnolias | Gold-Diggers (Junior's Fanfare) | Sho Nuff

Nicht mein Fall
Why Don't You Touch Me


Hat was von
Moses Sumney
Aromanticism

Kehlani
It Was Good Until It Wasn't


Dienstag, 27. Juli 2021

Durchbruch im Schlafzimmer

Clairo - SlingCLAIRO
Sling
Republic Records
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ intim | soft | ausufernd ]

Schon als im Sommer 2019 mit Immunity das gefeierte Debüt von Claire Cottrill aka Clairo erschien, war es eigentlich quatsch, besagte Platte als "Durchbruch" oder "Newcomer-Hoffnung" zu betiteln, war die Künstlerin dahinter doch schon lange eine ziemlich große Nummer auf diversen Internet-Plattformen, inklusive zweier DIY-Longplayer unter bürgerlichem Namen. Dass Immunity trotzdem nochmal ein gewaltiger Schritt ins Rampenlicht war, lässt sich trotzdem nicht kleinreden. Nicht nur in der Bedroompop-Softgirl-Indiebubble, für die Clairos Songs maßgeschneidert waren, ging das Album ordentlich durch die Decke, sondern erwischte generell eine ziemlich gute Phase, um als starkes Moodpiece der Generation Z die maximale Wirkung zu entfalten. Und das, obwohl es in einem großen Pool solcher Alben künstlerisch kaum herausstrach. In einem musikalischen Umfeld, in der zur gleichen Zeit sensationelle Acts wie Soccer Mommy, Big Thief und Jessica Pratt ihre besten Platten machten, war Immunity kein schwaches Stück Musik, nur eben nicht im Ansatz so bemerkenswert. Weshalb es für mich auch schwierig war, eine Erwartungshaltung an seinen nun erschienenen Nachfolger zu formulieren. Wenn überhaupt, erhoffte ich mir von Sling, dass es ein bisschen mehr Persönlichkeit aus Clairo herausholte und sie im weiten Feld des schnuffligen Schlafzimmer-Indiepop eigenständig machte. Wobei ich auch nicht ganz wusste, wie genau dieser Schritt eigentlich funktionieren sollte. Die gute Nachricht: Der Ansatz, den Cottrill hier findet, findet den Weg dahin meistens selbst und zeigt vor allem eine neu gefundene Kreativität bei der Künstlerin, die mich sehr anspricht. Kompositorisch behält Clairo dabei sehr viel von der huschligen Intimität bei, die schon auf dem Debüt das beste war, schafft es aber, diese bunter auszugestalten. Vor allem in Sachen Instrumentierung merkt man Sling eine wesentlich breitere Aufstellung an, die sogar vor knackigen Funk-Motiven (in Ameoba) oder aufwändiger Orchestrierung (an vielen Stellen, aber besonders in Zinnias) nicht zurückschreckt. Größtes klangliches Vorbild ist dabei eindeutig die frühe Zwotausender-Phase von Sufjan Stevens, aber auch Big Thief, Joanna Newsom und Elliott Smith strahlen an vielen Stellen durch. Das macht Clairo hier zwar auch alles andere als originell, gibt ihr aber einen Sound, der ihrem Songwriting unglaublich gut steht. In seinen ersten beiden Tracks ist Sling dabei noch etwas holprig unterwegs und vor allem Ameoba geht mir persönlich ein bisschen zu sehr nach vorne, doch entfaltet sich spätestens mit Zinnias die ganze Kraft, die Clairos Konzept hier kompositorisch hat. Songs wie das hauchzarte Blouse, das groovige Joanie oder das progressiv-verschachtelte Harbor sind in vielen Punkten unglaublich faszinierend und zeigen unmissverständlich, wie sehr diese Frau künstlerisch gewachsen ist. Ein gewisser Teil der Schönheit dieser LP ist sicherlich auch dem fantastischen Mix von Jack Antonoff zu verdanken (der nach Rostam Batmanglij auf Immunity das zweite Produktions-Schwergewicht ist, das mit Clairo zusammenarbeitet), doch sollte man seine Rolle hier definitiv nicht überschätzen. Er kleidet die hier stattfindende Musik wahnsinnig toll aus, geschrieben wurde sie aber von der Hauptakteurin, die sich hier einfach wesentlich mehr traut als noch auf dem Vorgänger. Mit dem Ergebnis, dass ich in Sling aktuell all das Potenzial sehe, das ich vor zwei Jahren auf Immunity so vermisste. Wo das gefeierte Debüt in meinen Augen an vielen Stellen noch zu zaghaft und inkonsequent war, ist das hier ein Album, auf dem Clairo künstlerisch groß wird und nicht als Teil einer Bewegung überzeugt, sondern unabhängig davon. Was nicht zuletzt heißt, dass ich meine Erwartungen an sie jetzt deutlich präziser Stellen kann: Bitte mehr davon. Und gerne auch mit noch mehr kompositorischer Dreistigkeit. Die mittlere Portion auf dieser LP hat mich auf jeden Fall hungrig gemacht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Partridge | Zinnias | Blouse | Wade | Harbor | Just for Today | Joanie | Management

Nicht mein Fall
Amoeba


Hat was von
Sufjan Stevens
Illinois

Big Thief
U.F.O.F.


Sonntag, 18. Juli 2021

Was würde Yeezus tun?

IDK - USEE4YOURSELF IDK
USEE4YOURSELF
Clue | Warner
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

[ kreativ | ambitioniert | großzügig ]

Dass Jason Mills, besser bekannt unter seinem Künstlernamen IDK, mittlerweile eine ziemlich große Nummer in der Welt des kommerziellen Hiphop ist, merkt man auf den ersten Blick daran, wer sich auf seinem neuesten Album plötzlich alles die Klinke in die Hand gibt. Young Thug und Offset sind hier, Westside Gunn von Griselda, Jay Electronica, Rico Nasty, Swae Lee und sogar the legends themselves Slick Rick und ein posthum eingesampleter MF DOOM. Für einen Rapper, der bisher eher in der experimentellen Zwischenwelt des Rap-Games stattfand und auf seinem letzten Album - einem soulig-spirituellen Thinkpiece über Religion und Geistlichkeit - komplett ohne Features auskam, ist das schon ziemlich beeindruckend. Will man sich der Ästhetik von USEE4YOURSELF nähern, ist es aber sowieso viel sinnvoller, den Anschluss direkt bei dessen Vorgänger und IDKs Durchbruch IWASVERYBAD von 2017 zu suchen, zu dem dieses Album vielleicht die logischere Fortführung ist. Mit dem Entsprechenden Plus an prominenter Unterstützung, einer klanglich größeren Tragweite und einer entscheidenden Prise Größenwahn, die allerdings entscheidend ist. Denn dass unter der Rubrik "Hat was von" unter diesem Text als erste artverwandte Platte ausgerechnet Yeezus von Kanye West steht, ist sicherlich nicht nur klangliche Ähnlichkeit, sondern auch eine tiefe Verbeugung an das Selbstverständnis eines kreativen Idols. Und den Vergleich zwischen beiden kann man an diesem Punkt ehrlich gesagt schon mal ziehen. Auch IDK ist 2021 definitiv ein Rapper, der gleichermaßen als erfolgsversprechender Mainstream-Künstler und als experimenteller Visionär wahrgenommen werden will und der bei diesem Vorhaben quasi simultan mit fliehenden Fahnen untergeht und absolut geniale Rapmusik macht. Wobei das vorliegende Album deutlich in Richtung des letzteren pendelt. Unter den vorliegenden 17 Tracks befinden sich mehr ein paar, die sich bei mir zu Highlights der laufenden Saison entwickeln könnten und die mich bei jedem Hören ernsthaft mitreißen. Pradadabang und Shoot My Shot sind großartig trappige Banger mit viel grooviger Energie, Puerto Rico eine fantastische R'n'B-Schnulze im Stil eines frühen Frank Ocean, Dogs Don't Lie ein überraschend lyrischer Track, Keto ein danciges Monster mit leichter Grime-Schlagseite, 1995 mit seinen mehreren sehr unterschiedlichen Parts wahnsinnig progressiv und Red wahrscheinlich der beste Posse Cut des ganzen bisherigen Jahres. Und um an dieser Stelle nochmal das Thema Features anzuschneiden: So gut wie jedes einzelne auf diesem Album ist absolut großartig gemacht. Im Sinne eines kreativen Kurators hat IDK hier schon einiges von seinem Meister Kanye gelernt und schafft es hier auch auf einem Album sehr präsent zu sein, bei dem er selbst nicht immer im Vordergrund steht. Wobei er - genau wie West - auch die Angewohnheit hat, vielleicht ein kleines bisschen zu viel von seinem künstlerischen Anspruch zu wollen. So sind die vielen Skits und Interludes, die hier zwischendurch immer wieder auftauchen, fast durchweg kompletter Müll und bringen die gute Stimmung der LP immer wieder aus dem Gleichgewicht und IDK in manchen Momenten doch etwas pretenziös. Und wo ich das prinzipiell als eine Sache sehe, die in Zukunft problematisch werden könnte (beziehungsweise hinderte sie auch schon sein letzten Album daran, besser zu sein), wird es auf USEE4YOURSELF fürs erste noch dadurch verdrängt, wie absolut fantastisch hier Musik gemacht wird. Als ein Balanceakt zwischen kommerzieller Rapmusik und künstlerischem Anspruch ist das hier vielleicht das bestmögliche Ergebnis, auf das man hätte hoffen können und in meinen Augen die erste richtig großartige LP dieses Typen. Wo IDK vorher bei mir noch immer ein bisschen unter Ferner liefen stattfand und mich ehrlich gesagt nur mäßig interessierte, ist er mit dieser Platte endgültig jemand, den ich ernstnehmen muss und auch möchte. Und zwar nicht als eine ziemlich gute Kopie von Kanye West, sondern als ein Typ, der das Thema Hiphop wirklich mit frischen Ideen angeht und trotzdem nicht vergisst, dabei gute Songs zu schreiben. Mit der Hoffnung, dass das noch eine Weile so bleibt.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Santa Monica Blvd | Dogs Don't Lie | Pradadabang | Shoot My Shot | Red | Puerto Rico | 10 Feet | Keto | 1995 | Peloton | Hey Auntie

Nicht mein Fall
3018091821 | Jelly | Temporary Love | Closure


Hat was von
Kanye West
Yeezus

Lupe Fiasco
Tetsuo & Youth


Donnerstag, 15. Juli 2021

Teilnahme bestätigt

Vince Staples - Vince Staples
VINCE STAPLES
VINCE STAPLES
Blacksmith Recordings | Motown
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

[ gemütlich | cool | unspektakulär ]

Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass Vince Staples auf diesem Format wohl einer der Rapper ist, die ich in den letzten Jahren am meisten unterschätzt habe. Was auch deshalb doppelt schlimm ist, weil ich es eigentlich schon seit langem besser weiß. Die Musik des Kaliforniers höre ich bereits seit seinen Zeiten im Dunstkreis von Odd Future und obwohl es durchaus eine Überraschung war, als er 2015 nach deren Ende mit Summertime '06 deren Wildcard-Durchstarter wurde, habe ich mit allem danach wohl ziemlich auf dem Schlauch gestanden. Seit besagtem Debüt hat Staples nicht eine einzige Platte gemacht, die ich nicht zumindest etwas cool fand und gerade Sachen wie Big Fish Theory oder FM! (zu dem ich 2018 nicht mal einen kompletten Artikel schrieb) hätten eigentlich reichen sollen, um ihn zu einem meiner aktuellen Lieblingsrapper zu machen. Eine Sache, die mir jetzt, nach fast drei Jahren ohne neue LP, recht plötzlich klar wird. Vielleicht auch deshalb, weil diese neue hier, die Ende letzter Woche ziemlich unverhofft erschien, auch seine erste ist, die "bloß" auf einem guten Niveau stagniert. Dabei hätte man hier eigentlich großes erwarten können. Nicht nur ist das hier das erste relevante Lebenszeichen von Staples seit FM! von 2018, es ist auch noch selbstbetitelt. Irgendwie wichtig muss es also sein. Und obwohl ich anhand dieser Parameter erstmal ein bisschen enttäuscht war, hier am Ende doch wieder nur 21 Minuten Musik zu kriegen, musste ich mir auch ins Gedächnis rufen, dass es zuletzt gerade diese knappen Mini-Releases waren, die der Typ richtig gut machte. Vielleicht sogar so gut, dass Staples sich von der Idee eines klassischen Longplayers gänzlich verabschiedet hat. Schlimm wäre es auf jeden Fall nicht, sind diese zehn Tracks doch klanglich wie songwriterisch ziemlich reichhaltig und machen von der Schwungmasse her schon die Aura eines Albums her. Zumindest in dem Sinne, dass es auf dieser Platte eigentlich keine effektiv schlechten Momente gibt. Gerade durch die knappe Spieldauer überzeugt das hier als Hörerlebnis, das großartig mal eben durch den Lauschapparat flutscht, ohne große Irritationen anzurichten. Es bedeutet aber auch, dass es hier wenige Momente gibt, an denen ich irgendwie hängenbleiben und innehalten möchte. Einzig der Opener Are You With That? kann noch als persönlicher Favorit relativ zu den anderen Tracks hervorstechen, der komplette Rest hingegen ist angenehm, aber auch ziemlich unspektakulär. Das ist an sich okay, da ich solche Qualitäten gerade bei Hiphop-Platten schätze, es entspricht aber auch nicht den Talenten, die jemand wie Vince Staples eigentlich hat. Schaut man zurück auf Alben wie Big Fish Theory oder Prima Donna, hörte man dort einen extrem kreativen und stellenweise visionären Rapper, der mit seiner Musik Staunen bei mir auslöste. Mit diesen Songs hingegen bestätigt er nach drei Jahren Pause irgendwie seinen Claim als relevanter Business-Protagonist, ist aber im gängigen Standard seines Umfelds angekommen. Am Musikjahr 2021 hat Vince Staples somit teilgenommen und es grundsätzlich auch bestanden, Bestnoten kann er hierfür aber erstmals nicht mehr erwarten. Dafür ist er einfach ein Mü zu gechillt unterwegs.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡08/11

Persönliche Höhepunkte
Are You With That?

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Childish Gambino
Because the Internet

Isaiah Rashad
the Sun's Tirade


Mittwoch, 14. Juli 2021

Und noch viel weiter

Twin Shadow - Twin ShadowTWIN SHADOW
Twin Shadow
Cheree Cheree
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ bunt | folkig | vielseitig | soulig ]

Seit ziemlich genau einer Dekade macht George Lewis Junior aka Twin Shadow nun inzwischen Musik, und mit jedem Mal, dass ich von ihm neues Material höre, muss ich wiederum staunen, wie weit das stilistische Territorium dieses Künstlers doch noch wachsen kann. Angefangen hatte er ja irgendwann mal mit einer Art Indiepop-infiziertem R'n'B, nicht unähnlich dem von the Weeknd, weshalb man schon verwundert war, als er Mitte der Zwotausendzehner plötzlich Ambitionen in Richtung Synthpop und springsteenigem Achtziger-Rock entwickelte. Dass das allerdings erst der Anfang war, merkte man spätestens 2018 auf der LP Caer, die auch irgendwie nach Arcade Fire, Bon Iver, Phil Collins und den Duffer-Brüdern klang. Wobei Lewis nicht nur irgendein Typ war, der sich für eine weltmännische Ästhetik irgendwelche schicken Fremdimpulse dazuholte, sondern diese anscheinend mit echter Leidenschaft kombinierte. Das zumindest zeigte sich im grandiosen Songwriting und der cleveren Produktion, die besagte Platte zu einer meiner liebsten in jener Saison machten. Wer allerdings dachte, dass damit sein persönlicher Horizont erreicht wäre, wird spätestens hier eines besseren belehrt. Denn obwohl die vorliegende selbstbetitelte LP des New Yorkers nur unscheinbare 30 Minuten lang geht, ist sie musikalisch doch definitiv sein bisher reichhaltigstes und buntestes Werk. Soll heißen, dass es hier endgültig nicht mehr möglich ist, eine wesentliche stilistische Marschrichtung festzustellen, die dieser Typ hauptsächlich fährt. Ein Soulman ist George Lewis hier mindestens genauso sehr wie ein Rockstar, ein hippiesker Folk-Barde, ein Afrobeat-Funker, ein verspulter Dubmaster und ein zeitgenössischer R'n'B-Frickler. Kompositorische Ansatzpunkte sind dabei nur mehr kleine Versatzstücke in einem riesigem Mosaik aus Einflüssen, bei dem unterm Strich das Prädikat monogenre steht. Aber nur mal zum herauspicken ein paar Beispiele: Alemania startet die Platte als munteres Afrobeat-Stückchen mit softer Damien Jurado-Note, Sugarcane ist eine sehr blumige, moderne R'n'B-Nummer, Is There Any Love ein peppiger Disco-Jam und Johnny & Jonnie der Mittelweg zwischen karibischem Calypso und fluffigem Roots-Reggae. Insgesamt kann man dabei sagen, dass Lewis nach dem sehr synthetischen Caer hier eine sehr organische LP macht, die durch großartig gemachtes Gitarren-Songwriting besticht und fast schon etwas Paul-Simon-Graceland-artiges an sich hat. Wie schon auf dem Vorgänger merkt man dabei, dass die Einflüsse von Twin Shadow nicht nur breit aufgestellt sind, sondern auch sehr tief gehen und mitunter ziemlich nerdig werden können. Nichtsdestrotrotz sind die zehn Tracks hier einer wie der andere unglaublich eingängig und auch dann richtig gut, wenn man im Hintergrund nicht den üppigen Katalog an Impulsen vor Augen hat. Und obwohl ein Hit wie Saturdays vom letzten Mal hier vielleicht nicht dabei ist, ist das hier im Sinne eines Gesamtwerks trotzdem genauso gut. Mindestens. Spätestens mit der Leistung, die Twin Shadow auf diesem Album erbringt, hat er sich für mich als transzendeter, Genre und Ästhetiken verbiegender Visionär offenbart, der in seinen Songs nach den ganz großen künstlerischen Herausforderungen sucht. Dass es zehn Jahre gedauert hat, bis man das auch wirklich hören konnte, soll dabei sein Schaden nicht sein. Denn schon der Weg hierhin war spannend und wer weiß, wohin er uns von dieser Stelle aus noch führt. Und im Optimalfall ist der Horizont nämlich auch mit diesem Werk noch lange nicht erreicht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Alemania | Sugarcane | Johnny & Jonnie | Is There Any Love | Gated Windows | Modern Man | Lonestar | Brown Sugar | I Wanna Be Here (Shotgun)

Nicht mein Fall
-


Hat was von
the Cat Empire
Stolen Diamonds

Shamir
Revelations


Montag, 12. Juli 2021

Teure Seelen

Amenra - De doorn AMENRA
De Doorn
Relapse
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ finster | atmosphärisch | alptraumhaft ]

Für Liebhaber*innen düster-atmosphärischer Metalmusik wie ich einer bin, steht es schon seit langer Zeit völlig außer Frage, dass Amenra im neuen Jahrtausend wahrscheinlich eine der wichtigsten Szene-Bands ganz Europas - wenn nicht gar international - sind. Und das aus mannigfaltigen Gründen. Da ist zum einen der klangliche Fußabdruck, den sie mit ihrer zeitlupigen Version von Sludge- und Post-Metal in der grauen Zwischenwelt von Posthardcore, Black Metal, Doom und Avantgarde hinterlassen haben und den mittlerweile haufenweise andere Gruppen ständig weiterentwickeln. Zum anderen sind sie vor allem in der lokalen Untergrund-Bubble ihrer Heimat Gent sowas wie die Paten einer kleinen Subkultur geworden, die in Form der Church of Ra eine ganze Familie von Gruppen mit ähnlicher klanglicher und ideeller Ausrichtung beherbergt. Und obwohl ich sie selbst dabei bisher eher als wichtige Impulsgeber schätzte, die das Handwerk vormachten, das später Bands wie Oathbreaker oder Wiegedood perfektionierten, ist es mir doch stets wichtig, sie hier zu thematisieren. Zumal sie mit De Doorn vielleicht zum ersten Mal ein Album gemacht haben, das aus der Rolle der geistigen Vorbereiter ausbrechen kann und auch als einzelnes Gesamtwerk richtig genial ist. Wobei das in meinen Augen eh bloß eine Frage der Zeit war, denn auch wenn diese LP vieles besser macht als ihre Vorgänger, funktioniert sie doch stilistisch nach einem ähnlichen Prinzip. Die Basis stellen eine Reihe mächtiger und kaskadischer Riffs, die irgendwo zwischen atmosphärischem Black Metal, verspieltem Doom und schwerfälligem Postrock changieren, dazu werden starke dynamische Kontraste geschalten, um das ganze nicht zu monoton klingen zu lassen. Einigermaßen neu ist, dass es auf De Doorn zusätzlich zu den üblichen Screamo-Passagen vor allem viel gesprochenes Wort und gesungene Lyrik gibt, die manchmal fast ein bisschen kunstig-avantgardistisch wirken. Abgesehen davon ist das hier aber Material aus den schwärzesten Tiefen des Church of Ra-Lehrbuchs für ätherisch-nihilistischen Post Metal. Und wirklich viel besonderes lässt sich daran auch in den Details nicht herausfischen. Abgesehen vom ziemlich coolen Intro des Openers Ogentroost, den zagfaht ambienten Passagen von De Dood in Bloei oder einem wahnsinnig gut gespielten und produzierten Bass in Het Gloren ist das meiste hier mal wieder vor allem dadurch gut, dass es eine monolithische Masse ist, die über die Hörenden herfällt wie eine Heuschreckenplage in Zeitlupe. Feingeister sind Amenra auf auf dieser LP nicht wirklich geworden, allerdings auch nicht mehr ganz so grobmotorisch wie früher manchmal. Wo ihre Songs da mitunter ziemlich klumpig und undurchschaubar waren, sind sie hier zwar immer noch monumental, aber mit ein paar netten kleinen Momenten zwischendrin. Und neben den kleinen Finessen, die im Songwriting ab und zu auftauchen, merkt man das vor allem in der Produktion, die seit dem letzten Mal erheblich besser geworden ist. Wo ihre letzte Platte Mass VI von 2017 noch ein bisschen zu sehr nach uriger Proberaum-Mische klang, haben sie sich hier an ihren Kolleg*innen ein Beispiel genommen und wirklich mal ein bisschen Politur aufgefahren. Mit dem Ergebnis, dass die Nuancen ihres Spiels und ihrer Kompositorik nochmal besser zum Vorschein kommen. Wenn in den Vocals von Het Gloren teilweise auf Sachen wie Raumklang geachtet wurde oder man einzelne Instrumente wirklich mal heraushört, ist das einfach ein unglaublicher Qualitätsgewinn. Und weil die Frage ob dieser Parameter für einige Church of Ra-Freaks vielleicht nahe liegt: Mit einem Verrat an der Szene hat das alles kein bisschen was zu tun. Obwohl De Doorn im Katalog von Amenra ein bewusster Bruch ist, zum ersten Mal einen echten Albumtitel hat und nicht beim Heimlabel COR, sondern beim Genre-Giganten Relapse erscheint, muss man sagen, dass die Belgier ganz klar das beste daraus gemacht haben. Die wenigen Veränderungen, die sie hier klangästhetisch vornehmen, funktionieren zum besten des Gesamtergebnisses und in den wesentlichen Punkten ihres Sounds bleiben sie sie selbst. Ihre Integrität und DIY-Attitüde haben sie hier vielleicht ein Stückweit aufgegeben, aber mit dem bestmöglichen Resultat. Nämlich dass ich sie jetzt nicht nur als Impulsgeber, sondern auch als Künstler richtig abfeiern kann. Und was sie Szene selbst angeht, ist die inzwischen eh schon so groß geworden, dass sie als geistige Väter nicht mehr gebraucht werden und ich es ihnen gönne, dass sie nach über zwei Dekaden DIY jetzt doch noch die Kuh schlachten und finanziell hoffentlich ordentlich was dabei rausholen. Verdient haben sie es sich nämlich definitiv.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Ogentroost | De Dood in Bloei | Het Gloren | Voor Immer

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Der Weg einer Freiheit
Finisterre

Downfall of Gaia
Ethic of Radical Finitude