Dienstag, 27. Juli 2021

Durchbruch im Schlafzimmer

Clairo - SlingCLAIRO
Sling
Republic Records
2021
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
[ intim | soft | ausufernd ]

Schon als im Sommer 2019 mit Immunity das gefeierte Debüt von Claire Cottrill aka Clairo erschien, war es eigentlich quatsch, besagte Platte als "Durchbruch" oder "Newcomer-Hoffnung" zu betiteln, war die Künstlerin dahinter doch schon lange eine ziemlich große Nummer auf diversen Internet-Plattformen, inklusive zweier DIY-Longplayer unter bürgerlichem Namen. Dass Immunity trotzdem nochmal ein gewaltiger Schritt ins Rampenlicht war, lässt sich trotzdem nicht kleinreden. Nicht nur in der Bedroompop-Softgirl-Indiebubble, für die Clairos Songs maßgeschneidert waren, ging das Album ordentlich durch die Decke, sondern erwischte generell eine ziemlich gute Phase, um als starkes Moodpiece der Generation Z die maximale Wirkung zu entfalten. Und das, obwohl es in einem großen Pool solcher Alben künstlerisch kaum herausstrach. In einem musikalischen Umfeld, in der zur gleichen Zeit sensationelle Acts wie Soccer Mommy, Big Thief und Jessica Pratt ihre besten Platten machten, war Immunity kein schwaches Stück Musik, nur eben nicht im Ansatz so bemerkenswert. Weshalb es für mich auch schwierig war, eine Erwartungshaltung an seinen nun erschienenen Nachfolger zu formulieren. Wenn überhaupt, erhoffte ich mir von Sling, dass es ein bisschen mehr Persönlichkeit aus Clairo herausholte und sie im weiten Feld des schnuffligen Schlafzimmer-Indiepop eigenständig machte. Wobei ich auch nicht ganz wusste, wie genau dieser Schritt eigentlich funktionieren sollte. Die gute Nachricht: Der Ansatz, den Cottrill hier findet, findet den Weg dahin meistens selbst und zeigt vor allem eine neu gefundene Kreativität bei der Künstlerin, die mich sehr anspricht. Kompositorisch behält Clairo dabei sehr viel von der huschligen Intimität bei, die schon auf dem Debüt das beste war, schafft es aber, diese bunter auszugestalten. Vor allem in Sachen Instrumentierung merkt man Sling eine wesentlich breitere Aufstellung an, die sogar vor knackigen Funk-Motiven (in Ameoba) oder aufwändiger Orchestrierung (an vielen Stellen, aber besonders in Zinnias) nicht zurückschreckt. Größtes klangliches Vorbild ist dabei eindeutig die frühe Zwotausender-Phase von Sufjan Stevens, aber auch Big Thief, Joanna Newsom und Elliott Smith strahlen an vielen Stellen durch. Das macht Clairo hier zwar auch alles andere als originell, gibt ihr aber einen Sound, der ihrem Songwriting unglaublich gut steht. In seinen ersten beiden Tracks ist Sling dabei noch etwas holprig unterwegs und vor allem Ameoba geht mir persönlich ein bisschen zu sehr nach vorne, doch entfaltet sich spätestens mit Zinnias die ganze Kraft, die Clairos Konzept hier kompositorisch hat. Songs wie das hauchzarte Blouse, das groovige Joanie oder das progressiv-verschachtelte Harbor sind in vielen Punkten unglaublich faszinierend und zeigen unmissverständlich, wie sehr diese Frau künstlerisch gewachsen ist. Ein gewisser Teil der Schönheit dieser LP ist sicherlich auch dem fantastischen Mix von Jack Antonoff zu verdanken (der nach Rostam Batmanglij auf Immunity das zweite Produktions-Schwergewicht ist, das mit Clairo zusammenarbeitet), doch sollte man seine Rolle hier definitiv nicht überschätzen. Er kleidet die hier stattfindende Musik wahnsinnig toll aus, geschrieben wurde sie aber von der Hauptakteurin, die sich hier einfach wesentlich mehr traut als noch auf dem Vorgänger. Mit dem Ergebnis, dass ich in Sling aktuell all das Potenzial sehe, das ich vor zwei Jahren auf Immunity so vermisste. Wo das gefeierte Debüt in meinen Augen an vielen Stellen noch zu zaghaft und inkonsequent war, ist das hier ein Album, auf dem Clairo künstlerisch groß wird und nicht als Teil einer Bewegung überzeugt, sondern unabhängig davon. Was nicht zuletzt heißt, dass ich meine Erwartungen an sie jetzt deutlich präziser Stellen kann: Bitte mehr davon. Und gerne auch mit noch mehr kompositorischer Dreistigkeit. Die mittlere Portion auf dieser LP hat mich auf jeden Fall hungrig gemacht.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Partridge | Zinnias | Blouse | Wade | Harbor | Just for Today | Joanie | Management

Nicht mein Fall
Amoeba


Hat was von
Sufjan Stevens
Illinois

Big Thief
U.F.O.F.


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