Dienstag, 30. Juni 2020

Zehn Jahre später: Bis zum letzten Drop (feat. Meine Geschichte des Dubstep)


[ krachig | verglitcht | populistisch | fett ]

Wenn ich mit diesem Artikel im Optimalfall gerade schon eines geschafft habe, bevor überhaupt irgendjemand diese ersten Zeilen gelesen hat, dann die Erzeugung des dumpfen Gefühls von verdrängter Erinnerung bei jenen, die das Thema des Posts gerade gesehen haben und vor deren geistigem Auge sich gerade dieser wunderbare Mikro-Flashback vollzieht. Skrillex. Den gab es ja auch mal. Und wie man sich im nächsten Moment vielleicht den Gedanken hat, dass das ja alles gar nicht sein kann. Dass es ein völlig anderes Universum gewesen sein muss, in dem dieser Musiker - und im gleichen Atemzug Dub- beziehungsweise "Bro"-Step als generelles Phänomen - nicht nur stattfinden konnte, sondern auch noch dermaßen erfolgreich war. In einer Welt, in der in der Zwischenzeit Trap passiert ist und es somit tatsächlich einen Sound gab, der den Mainstream der letzten Pop-Dekade vordergründig geprägt hat, wirkt es unfassbar anachronistisch und albern, dass es irgendwann ernsthaft Leute gab, die diese Musik für das große neue Ding hielten. Wobei für mich im Nachhinein fast noch viel seltsamer ist, wie unglaublich kontrovers gerade ein Typ wie Skrillex zur damaligen Zeit war und dass Leute für jemanden so unsagbaren Hass empfanden, der im Nachhinein betrachtet höchstens ein Zwischenruf in der musikalischen Historie der Zwotausendzehner war. Aber ja: Das alles ist passiert. Und wenn man das damals 14-jährige Ich fragt, dann war es auch eine wichtige Sache. Denn es war das erste Mal für diesen aufbrausenden, kreativ völlig alleingelassenen Teenager, dass sich für ihn etwas wirklich neu und innovativ anhörte. Und wer zu jener Zeit in meinem Alter war, dürfte dieses Gefühl vielleicht kennen. Das Problem mit vielen musikalischen Phänomenen der ausgehenden Zwotausender war ja, dass alles damals so furchtbar retro-fixiert war und jeder Impuls, der vor allem in der seinerzeit aktuellen Indie-Szene kam, nur ein hochgewürgter Reflex einer weiteren Nostalgie-Welle war, die vielleicht für ein paar Monate hielt. Das war in seinen Symptomen schon okay, dennoch sehnte ich mich als junger Typ, der ein bisschen auf Krawall gebürstet war und das Neue im Zweifelsfall stehts dem Alten vorzog, nach nichts mehr als nach Innovation. Und im Herbst 2010 gab es in meiner kleinen Welt nur zwei Quellen, die diese zur Verfügung stellten. Zum einen das gerade frisch erschienene Debütalbum der südafrikanischen Gruppe Die Antwoord (über das ich in dieser Rubrik bald hoffentlich auch noch schreiben werde), zum anderen diesen jungen Myspace-Produzenten namens Sonny Moore, der gerade ein bisschen aus dem Nichts auftauchte. Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass ein gewisser Kontext, aus dem heraus Skrillex sich bewegte, bereits seit den frühen Neunzigern existierte und auch er selbst zum Zeitpunkt von Scary Monsters & Nice Sprites längst kein unbeschriebenes Blatt mehr war, doch hätte ich das alles damals gewusst, es wäre mir sowieso egal gewesen. Die Minimal- und Drum & Bass-Fans, die älter als ich waren und besser bescheid wussten, erzählten mir davon, wie wenig originell die Musik von Skrillex ja in Wahrheit ist, aber mich scherte das nicht wirklich. Ich mochte die fetten Drops, denn die waren schön laut, man konnte dazu tanzen (ja ich weiß es scheint absurd, aber irgendwie muss es ja geklappt haben) und noch viel wichtiger: ich hatte sowas noch nie gehört. Besser noch: Dubstep schaffte es, sogar meine hartgesottenen Hipster-Eltern, die selbst völlig weirde Sachen wie Laibach und AG Geige hören, ein bisschen zu verstören. Also war Skrillex mein neuer Held, auch wenn ich das vor meinen Indie- und Metalhead-Freund*innen nicht gleich zugeben wollte. Wobei 2010 sowieso noch nicht der große Moment dieser Musik gekommen war. Wenn ich mich recht erinnere, war das noch die Phase, wo die meisten Leute Berührungsängste mit dem seltsamen Phänomen hatten und insbesondere Skrillex als Personifizierung des Hypes viel Mist einstecken musste. Erst mit Bangarang vom nächsten Jahr fing der Mainstream plötzlich an, Dubstep als allgegenwärtiges Stilmittel anzunehmen und langsam aber sicher groß zu machen. Es dauerte nicht lange, da gab es Wubwubwub-infizierte Platten von KoRn, Cypress Hill und Muse, ganz zu schweigen von unzähligen Popstars, die sich an den Charterfolg des Club-Phänomens "Brostep" (spöttischer Begriff für sehr EDM-lastigen, kommerziellen Dubstep) ranschmissen. Und spätestens ab 2013 war die ganze Nummer ziemlich lästig geworden und folglich auch Skrillex ganz oben auf der Liste der Hexenjagd. Wobei meine bescheidene Meinung war, dass er es als einer der Wenigen ganz gut hinbekam, die Fackel für die Stilrichtung zu tragen, die er heraufbeschworen hatte. Auf den etwas beflisseneren Szene-Partys, die in den Folgejahren eher Dancehall-basierten Dubstep spielten, war es auch nach 2013 absolut keine Schande, Skrillex-Songs zu spielen und diese nutzten sich auch eine ganze Weile nicht ab. Zumindest bis irgendwann alle ihren Moment der Übersättigung hatten und anfingen, Trap zu hören. Ganz zufällig stolperte ich 2016 nochmal auf eine Dubstep-Party und es kam mir vor wie das seltsamste Spektakel der Welt. Und addiert man die vier Jahre seitdem noch dazu, hat sich daran wenig geändert. Stand 2020 fühlt sich die gesamte Hochzeit des Stils und ganz besonders der kolossale Erfolg von Skrillex an wie eine alberne Eintagsfliege im Zeitfenster der letzten Dekade, die vor allem von Seiten des Pop-Mainstreams auch viel peinliches hatte. Klammert man den Kontext allerdings aus und nimmt eine Platte wie diese für sich, ist daran eigentlich wenig verwerfliches. Klar werden Songs wie Kill Everybody und Rock'n'Roll in tausend Jahren nicht intelligent klingen und die unangenehme Bierfahne rüpelhafter Festival-Spatenhaftigkeit wird Skrillex auch mit zunehmendem Alter nicht los. Aber nimmt man Scary Monsters als das was es ist, nämlich unterhaltsame, tanzbare Clubmusik, erfüllt es immer noch alle denkbaren Anforderungen. Es ist eine faszinierende Sache, dass ein Album wie das hier auch nach zehn Jahren noch immer ziemlich laut, rabiat und rebellisch klingt, obwohl die Idee dahinter so altbacken wirkt. Und wäre ich jetzt 14 und das hier gerade herausgekommen, hätte ich sicher noch immer Sympathie dafür. Einer Sache bin ich mir jetzt auf jeden Fall sicher: Von allen Dingen, die Dubstep ruiniert haben, ist Skrillex definitiv nie Teil gewesen und sein Verdienst für die Szene - egal wie klein und unwichtig sie im Nachhinein auch erscheint - ist immens. Deshalb kann man ihm dafür ruhig mal Respekt zollen. Unabhängig davon, ob man das hier nun mag oder nicht.


Hat was von
Nero
Welcome Reality

the Prodigy
Invaders Must Die

Persönliche Höhepunkte
Scary Monsters & Nice Sprites | Kill Everybody | All I Ask of You | With You, Friends (Long Drive)

Nicht mein Fall
-

Sonntag, 28. Juni 2020

Bob Hates Us All



[ kauzig | erzählerisch | historisch ]

Ich bin mir noch immer nicht ganz sicher, wie ich jetzt eigentlich genau zählen soll. Je nach individueller Quelle, die ich in den letzten Tagen konsultiert habe, das wievielte Dylan-Album Rough and Rowdy Ways nun eigentlich ist, war das Urteil stets sehr unterschiedlich. Wo die einen sagen, das hier wäre der Nachfolger seiner offiziell 36. LP Tempest von 2012, sind es andere die meinen, das hier wäre bereits das 39. Studioalbum von ihm, was die Platten Triplicate, Fallen Angels und Shadows in the Night, die in der Zwischenzeit erschienen, auch in verschiedenen Ausführungen dem offiziellen Kanon zuordnet und die ganze Sache schon von Anfang an viel zu kompliziert macht. Bereits in solchen Banalitäten ist es also passenderweise mal wieder unnötig schwierig, den Künstler Bob Dylan des Jahres 2020 zu verstehen. Und ihm selbst ist das wahrscheinlich sogar ganz recht so, denn jene umfassende Verwirrung und Kratzbürstigkeit hat der große Songwriter gerade in den letzten Jahren nochmal richtig kultiviert, trotz Nobelpreis, generellem Legendenstatus und allem. Auf eine kauzige Art macht ihn das ja fast sympathisch und mit fast 80 Jahren erfrischend unglatt und rabiat, ich kann aber auch nicht umhin festzustellen, dass es dadurch mehr und mehr schwer wird, Fan zu bleiben. Im Gegensatz zu Leuten wie Leonard Cohen oder David Bowie, die in vergleichbaren Altersphasen tatsächlich eine gewisse Weisheit entwickelten und nochmal richtig aufblühten, ist Dylan mit den Jahren eher störrischer und trolliger geworden und scheint vor allem sein eigenes Publikum mit wachsender Passion zu hassen. Dabei hat man schon noch irgendwie das Gefühl, hier einen genialen Musiker und Poeten zu erleben, nur leider auch einen, der dieses Genie nicht mehr wirklich zu teilen bereit ist. Vor allem Zeug*innen seiner Konzerte scheinen seit geraumer Zeit chronisch unbefriedigt und auch was besagte letzte Alben angeht, waren die Reaktionen darauf eher verhalten, zumindest im Vergleich zu vielen Zeitgenoss*innen. Weshalb Rough and Rowdy Ways sich jetzt auch irgendwie besonders anfühlt. Mit 70 Minuten Länge ist es das erste Dylan-Projekt seit Tempest, das eine gewisse Wichtigkeit ausstrahlt und mit großspurigen Singles wie dem 16-minütigen Murder Most Foul im Vorfeld hatte man das Gefühl, dass auch der Künstler selbst hier etwas zu sagen hat. Und ein wenig stimmt das am Ende auch. Wenn Rough and Rowdy Ways sich als eine Sache treffend beschreiben lässt, dann eine Art Hybrid aus autobiografischer Poesie-Platte und Stream of Consciousness-Geschichtsstunde, in der Dylan Protagonist, Erzähler und Chronist in Personalunion ist und ziemlich willkürlich Begebenheiten aus den letzten 70 Jahren Popkultur aufeinander losgehen lässt. Und rein von der Sache her klingt das schon irgendwie interessant oder zumindest nach etwas, das ein Bob Dylan bravourös moderieren würde. Doch ist hier leider mehr oder weniger das Gegenteil der Fall und diese LP eher ein Exempel dafür, wie sich Dylans kompromisslose Kauzigkeit nun auch in Studioversion verschlimmert hat. Wobei das Problem nicht mal ist, dass diese Platte unzugänglich wäre. Erstens, weil man sowas von ihm mittlerweile langsam gewohnt sein sollte und zweitens, weil ich genau diese Art von Songwriting normalerweise sehr schätze. Die spärlich instrumentierten, teils acht- bis zehnminütigen Elaborate, die hier den Hauptteil der Tracklist stellen, ähneln sehr denen anderer Lieblingskünstler wie Mark Kozelek oder (schon wieder) Leonard Cohen. Und gerade Dylan ist ja schon seit den Sechzigern jemand, bei dem es nicht schadet, wenn er sich mit einem Song Zeit nimmt und auch ein paar Zeilen mehr singt. Nur habe ich diesmal ziemlich oft das Gefühl, das hinter diesen großen Schinken gar nicht so viel steckt, wie man am Anfang annimmt. Klar sind die Texte hier nach wie vor gut gemacht und man erkennt die typische Poesie dieses Mannes sofort, doch wirken die Sätze die er hier sagt mitunter seltsam leer. Gerade viele der historischen Bezüge dieser Platte sind oftmals nicht mehr als willkürliches Namedropping popkultureller Referenzen, die vielleicht provokativ wirken sollen, es aber nur sehr selten sind. Im Opener I Contain Multitudes haut das noch gut hin, da die Struktur der zusammengewürfelten Gegensätze irgendwie zum Inhalt passt, später jedoch ist es nur noch reines Gimmick. Man könnte jetzt argumentieren, dass auch die letzten beiden Platten von Leonard Cohen, die ich beide sehr mag, das vom Prinzip her nicht anders machten, doch war dieser erstens dazu fähig, sehr empfindsame und romantische Dichtkunst hervorzurufen und bediente sich zweitens musikalisch spannender Winkelzüge, um diese gekonnt zu untermalen. Und wenn wir von klanglichen Maßstäben reden, wird bei diesem Album dann doch sehr schnell das Eis dünn. Klar kann es auch hier sein, dass Dylan sich bewusst einer ramschigen Ästhetik bedient, die zu seiner stacheligen Attitüde passt, trotzdem klingt das Ergebnis in den meisten Momenten furchtbar. Es gibt Songs wie I've Made Up My Mind... oder Mother of Muses, die eine recht ansprechende Kammerpop-Aura heraufbeschwören und damit zumindest ihren Job machen, doch sind das nicht die Stücke, die auffallen. Im Gedächnis bleiben nämlich vor allem musikalische Totalausfälle wie Crossing the Rubicon, das ein kriminell stumpfes Bluesmotiv über gute sieben Minuten maltretiert oder False Prophet, das in seinen schlimmsten Passagen an die unheilige Verbindung von Lou Reed und Metallica erinnert. Es sind diese Momente, in denen man sich ernsthaft fragt, was in Gottes Namen hier eigentlich der Hintergedanke war, beziehungsweise ob es überhaupt einen gab. Und dann ist da natürlich noch Murder Most Foul, der buchstäbliche Elefant im Raum dieses Albums und wahrscheinlich der Song, der mir am allermeisten Kopfzerbrechen bereitet. In der physischen Version durch eine gesonderte LP respektive CD exponiert, ist er das abgenabelte Herzstück von Rough and Rowdy Ways und als solches auch vollkommen überflüssig. Klar ist es in der Theorie cool, einen viertelstündigen Track über die Ermordung John F. Kennedys mit dem Detailreichtum eines True Crime-Podcasts aufzunehmen, doch ist es auf lange Sicht auch ungefähr so interessant. Ich habe wie gesagt absolut kein Problem mit langen und ausführlichen Songs, doch in diesem hier trägt wirklich jede Sekunde auf. Die Instrumentierung ist grauenhaft langweilig, Dylans Performance ist zum Einschlafen nölig und darüber hinaus ist das, was er erzählt, nicht mal sonderlich aufschlussreich oder poetisch erfüllend. Was noch schlimmer dadurch wird, dass dieser Track sich von allen Stücken der LP am ernstesten nimmt und wirklich, wirklich wichtig sein will. Wobei das Gegenteil der Fall ist: in dieser Bearbeitung wird eines der schockierendsten Ereignisse der amerikanischen Geschichte zum Spielball, an dem sich ein selbstüberschätzter Prosaist abarbeitet. Es ist wahrhaftig nicht schön, all diese Dinge über jemanden wie Bob Dylan zu schreiben, der auch für mich ein sehr besonderer Songwriter ist und dessen Musik mir persönlich immens viel bedeutet. Gerade diese Verehrung für ihn gebietet mir aber auch, Rough and Rowdy Ways nicht deshalb zu verherrlichen, weil es von ihm kommt, sondern es als das zu betrachten was es ist: Eine Enttäuschung. Eine ziemlich herbe und unschöne sogar. Es ist ja eine Sache, wenn ein Musiker im Alter kauzig wird und selbst ein Dylan muss um Gottes Willen keinen Klassiker mehr aufnehmen, doch was hier passiert, ist einfach unter seinem Niveau und gibt mir das Gefühl, ein bisschen verarscht zu werden. Und wenn genau das die Absicht war, dann ist das ja okay. Dann muss ich aber auch nicht so tun, als wäre das hier ein verborgener Geniestreich, den man nur zur Genüge sezieren muss, um ihn zu verstehen. Denn das habe ich weiß Gott getan und es hat reichlich wenig gebracht.


Hat was von
Nick Cave & the Bad Seeds
Push the Sky Away

Leonard Cohen
Thanks for the Dance

Persönliche Höhepunkte
I Contain Multitudes | I've Made Up My Mind to Give Myself to You

Nicht mein Fall
False Prophet | My Own Version of You | Crossing the Rubicon | Murder Most Foul

Freitag, 26. Juni 2020

Die neuen Leiden des jungen J.


[ autobiografisch | nachdenklich | positioniert ]

Es war ein bisschen eine knappe Kiste und mit gerade mal zwei Jahren auf der Uhr ist es vielleicht noch etwas früh, das so unmissverständlich festzustellen, aber für den Moment ist es mir absolut klar, dass Juse Ju mit Shibuya Crossing noch schnapp ab eine meiner liebsten Deutschrap-Platten der letzten Dekade gemacht hat. Und anscheinend bin ich in dieser Beziehung nicht der einzige, der so empfindet: Seit der Veröffentlichung der besagten LP im März 2018 hat diese für einen gewissen Ruf gesogt, den der Künstler aus Kirchheim seitdem mit sich herumträgt. Als das gute Gewissen der Szene, der sich als einer der wenigen traut, darin nach wie vor existierenden Sexismus und Antisemitismus sehr unverblümt anzusprechen, toxische Elemente auch bei sich selbst zu suchen und abgesehen davon auch als jemand, der eine gute Geschichte erzählen kann. Shibuya Crossing ist ein Album, das weniger den Rapper Juse Ju zeigt als den die eigentliche Person Justus Hütter, die der Vergangenheit und die von heute. Wobei das erfrischende ist, dass diese eben nicht jene selbstgefällige Pseudo-Weisheit mitbringt, die im Deutschrap so viele haben, sondern nach wie vor mit sich ringt und insgesamt sehr menschlich und verwachsen wirkt. Und dass er damit eine üppige Quelle aufgestoßen hat, war ihm selbst wahrscheinlich als erstes klar, denn zwei Jahre später ist Millenium nun der Versuch, genau dieses Kunststück zu wiederholen. Dass es dabei weiterhin viel zu erzählen gibt, wurde dabei ebenfalls ziemlich schnell deutlich: Schon die ersten Singles TNT und Claras Verhältnis punkteten wieder mit genau der Art von effektivem Storytelling, das keine großen Dramen über schwere Kindheiten, Verrat und Drogen erzählen muss, um dorthin zu gehen, wo es weh tut und die dabei auch unglaublich viel Haltung zeigten. Auf der anderen Seite gab es aber eben auch die wie Kranich Kick und Ich hasse Autos, die den etwas albern-satirischen Juse-Style der alten Alben in eine weitere Saison retteten. Und als letztenlich auch der Künstler selbst ganz offiziell die Bestätigung gab, dass Millenium eine LP im Stil von Shibuya Crossing werden sollte, war ich natürlich aufgeregt. Und obwohl ich von der generellen Art und Weise angetan bin, wie hier dieses Konzept weiter ausgearbeitet wird, muss ich doch sagen, dass Juse Ju hier auch ein paar sehr typische Sequel-Probleme anhäuft. Soll heißen: Die Formel, dass hier die Parameter gesucht werden, die Shibuya Crossing zu einem tollen Album machten und diese hierhin zu übertragen, funktioniert nicht immer ganz optimal. Der Clou beim Vorgänger war ja der, dass niemand so richtig wusste, ob bestimmte Elemente darauf hinhauen würden, weshalb einfach in viele Richtungen ausprobiert wurde. Millenium hat diese Ungewissheit nicht mehr und nimmt sich folglich ganz einfach das heraus, was zuletzt am besten funktionierte. Also mehr autobiografisches, mehr politische Statements und mehr lyrische Selbstzerfleischung. So weit so abgeklärt. Denn in den wirklich guten Momenten schafft es genau diese Formel, das Gesamterlebnis zu optimieren: TNT und Unter der Sonne sind fantastisch aus dem Leben gegriffene Storytelling-Nummern, die mir echt nah gehen und die beabsichtigte Stimmung großartig aufbauen. Auf der anderen Seite mag ich auch die Klare-Kante-Ansage-Ästhetik von Songs wie Edgelord oder Tracks wie Claras Verhältnis, in denen sich Juse kritisch selbst betrachtet. Wenn man hinzunimmt, dass Millenium in Sachen Features einen großen Satz nach vorne macht (besonders die Parts von Milli Dance, Bonzi Stolle und Mädness sind beeindruckend) und es einige fantastische Instrumental- und Sample-Entscheidungen (Sayonara, Ich hasse Autos, Model in Tokio) gibt, geht diese Platte generell den richtigen Weg. Leider aber nicht, ohne dabei viele grobe Schnitzer und stilistische Fragezeichen aufzuwerfen, die das ganze auch ein bisschen ruinieren. Wobei das offensichtlichste jene Songs wie Sayonara oder der Titeltrack sind, die die Ästhetik des Vorgängers etwas zweckmäßig an den Haaren herbeiziehen. Gerade bei vielen autobiografischen Titeln hier habe ich nicht das Gefühl, wirklich so sehr in die Story einzutauchen wie zuletzt und leider sind mir einige der Tracks diesmal auch ziemlich egal. Dazu sind die Hooks der meisten Songs etwas mittelmäßig und bei einigen Stücken wie Model in Tokio oder Ich hasse Autos frage ich mich ernsthaft, warum das jetzt wichtig war. Obwohl Shibuya Crossing stilistisch und qualitativ auch ein bisschen streute, hatte ich dort zumindest das Gefühl, dass immer eine wichtige Motivation hinter jedem Track steckte und es etwas spannendes zu hören gab. Hier gibt es das manchmal, aber eben auch ein bisschen unnötiges Füllmaterial sowie Geschichten, die man gefühlt schon kennt. Was in anbetracht dessen, dass Millenium fast zehn Minuten kürzer ist als sein Vorgänger, schon ein bisschen schade ist. Zwar ändert ein Album wie dieses nichts daran, dass Juse Ju einer der coolsten und schlausten Rapper der aktuellen Deutschrap-Landschaft bleibt, der wichtige und notwenige Aussagen treffen kann, doch ist gerade das irgendwie auch der springende Punkt: Bei ihm hatte ich immer den Eindruck, dass man sowieso mehr erwarten kann als vom Durchschnitt und so gut Shibuya Crossing auch war, seinen künstlerischen Höhepunkt sehe ich noch ganz woanders. Weshalb eine Platte wie diese für mich persönlich etwas in die falsche Richtung geht und ihn ein wenig unter Wert verkaufen. Soll eigentlich nur heißen: Dieser Typ kann noch so viel besser sein, wenn er will.


Hat was von
Marteria & Casper
1982

Pöbel MC
Bildungsbürgerprolls

Persönliche Höhepunkte
Edgelord | TNT | MTVs Most Wanted | Unter der Sonne

Nicht mein Fall
Kranich Kick

Donnerstag, 25. Juni 2020

Die Selbermach-Schwestern


[ nostalgisch | schmissig | cool ]

Ich will mal ganz ehrlich sein: in diesem Leben werde ich wahrscheinlich kein richtiger R'n'B-Fan mehr. Zumindest nicht in dem Maße, dass ich in den nächsten Jahren doch noch das Defizit aufhole, das ich bezüglich dieser Musikrichtung ja leider irgendwie habe. Wenn man sich die umfassende Renaissance des Genres in der jüngeren Vergangenheit so ansieht und die beliebtesten Platten dieser Zeit heranzieht, lässt sich doch ziemlich schnell feststellen, dass ich durchschnittlich immer etwas weniger begeistert von den Kelelas, Solanges und Frank Oceans dieser Welt bin als die meisten anderen. Und nachdem ich nun über mehrere Jahre ernsthaft versucht habe, eine wie auch immer geartete Faszination für zeitgenössischen R'n'B zu entwickeln und dabei nur sehr gelegentlichen Erfolg verzeichne, ist es nicht überstürzt anzunehmen, dass das bei mir wahrscheinlich nichts mehr wird. Was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass ich eine persönliche Perle nicht erkenne, wenn ich sie höre. Und was die Geschwister Chloe und Halle Bailey auf dieser zweiten LP machen, ist zumindest auf dem besten Weg, mal eine zu werden. Doch was genau machen sie hier besser als so viele andere? Nun, vor allem erstmal vieles selber. Schon aus einer rein theoretischen Perspektive aus gesehen ist Ungodly Hour insofern ein sehr erfrischendes Album, weil hier vieles tatsächlich die Arbeit des Duos ist und nicht einer Heerschar von gebuchten Produzenten. Gerade wenn man sich vor Augen führt, dass selbst jene als sehr emanzipatorisch gefeierten Künstler*innen wie Kelela oder die Knowles-Schwestern sich nach wie vor auf ein sehr stabiles System von Klangdesignern berufen, das extrem männlich dominiert ist, ist das hier mal eine echte Erfrischung. Denn es zeigt, dass die Baileys nicht nur eine Idee in dieses Projekt einbringen, sondern dieses auch in vielen Details selbst ausführen. Und obwohl Ungodly Hour am Ende trotzdem alles andere als DIY ist und klingt, fühlt es sich doch an den richtigen Stellen authentisch und unverbraucht an. Was in Bezug auf die eigentliche Musik vielleicht auch ein bisschen eine Antithese ist. Denn wenn man über die klangliche Ästhetik dieses Albums redet, kann man schon fast von einem gewissen Retro-Bezug reden, der auch alles andere als nischig ausfällt. Mehr noch als viele andere Releases aus der jüngeren R'n'B-Welle ist vieles hier eine ausführliche Verbeugung vor der letzten großen Trend-Phase der späten Neunziger und vor Acts wie Destiny's Child, TLC und Mary J. Blige. Und womöglich ist gerade dieser Faktor ein weiterer Grund dafür, warum ausgerechnet Chloe und Halle mich im Vergleich zu anderen so ansprechen. Denn im Gegensatz zu vielen Vertreter*innen der zeitgenössischen R'n'B-Stylings, die sehr fadenscheinig, artsy und dünnhäutig klingen, trauen sich diese beiden auch mal das große Kitsch-Besteck einzusetzen. Womit eben zum Vorschein kommt, wo eigentlich die Stärken dieser Musik liegen: In großen Refrains, in abgefahrenen Vokalisationen, in schmissigen Instrumentals. Und all diese Dinge können Chloe und Halle. Zwar ist Ungodly Hour nicht unbedingt eine Platte, die durch große Tanzbarkeit oder monumentale Banger besticht, doch haben die beiden Kalifornierinnen die richtigen Melodien, um irgendwie in der Hirnrinde stecken zu bleiben und bei mir tatsächlich mal Empfindungen auszulösen, was ein Frank Ocean leider Gottes schon lange nicht mehr mit mir gemacht hat. Und ganz nebenbei ist das Ding klasse produziert und traut sich dann und wann auch kleine Fremdeinflüsse wie deftige Trap-Hihats oder einige klassische Funk-Licks in Don't Make It Harder On Me. Die einzige offensichtliche Schwachstelle kommt hier tatsächlich erst in dem Moment, in dem die beiden Künstlerinnen anderen Leuten das Heft in die Hand geben, namentlich Swae Lee und Mike Will Made It in Catch Up. Es ist der einzige Moment auf dieser LP, in dem deren Energie merklich abnimmt und diese beiden mal kurz ziemlich durchschnittlich klingen. Wenn das am Ende aber eines zeigt, dann vor allem, wie viel Potenzial in diesen beiden Musikerinnen steckt und dass wir es hier mit einem Duo zu tun haben, das wirklich einen Unterschied im zeitgenössischen R'n'B machen könnte. Um das zu leisten ist Ungodly Hour manchmal noch etwas zu inkonsequent und Songwriting-technisch zu zahm, aber das Rüstzeug haben Chloe und Halle hier definitiv und besonders ihre Arbeit im Hintergrund zeichnet sie dabei aus. Wenn in den nächsten Jahren also nochmal ein Album in dieser Stilrichtung kommen sollte, das mich wirklich von den Socken haut, dann könnte es sehr wahrscheinlich von diesen beiden Mädels kommen.


Hat was von
Destiny's Child
Survivor

Christina Aguilera
Liberation

Persönliche Höhepunkte
Forgive Me | Do It | Tipsy | Ungodly Hour | Don't Make It Harder On Me | Wonder What She Thinks of Me | ROYL

Nicht mein Fall
Catch Up

Mittwoch, 24. Juni 2020

Drums of Passion

[ perkussiv | psychedelisch | technoid ]

Wie schon so oft in den letzten Jahren waren es die Ultrahipster auf Bandcamp, die als erstes den richtigen Riecher hatten und schon vor einer ganzen Weile prophezeihten, dass das Herz der globalen Techno-Bewegung inzwischen auch in Ostafrika schlägt. Bereits 2017 machten sich von dort aus die Kunde jenes neuen Stilverständnisses breit, das in den darauffolgenden Jahren langsam in die szenerelevanten Dancefloor-Blasen sickerte und spätestens jetzt auch außerhalb davon Gehör findet. Mittlerweile hat so gut wie jedes namhafte Format in der Welt der alternativen Musik seinen Senf zu den elektronischen Bewegungen abgegeben, die zurzeit zwischen Südsahara und Madagaskar stattfinden, wobei vor allem ein Name dabei immer wieder auftaucht: Nyege Nyege Tapes. Auf jenem unscheinbaren Indielabel, das seit 2013 in der ugandischen Hauptstadt Kampala ansässig ist, versammeln sich seit etwa vier Jahren die wenigen bekannten Größen der Szene, deren Releases immer wieder in den einschlägigen Artikeln zu finden sind. Angefangen bei Stilipionieren wie Disco Vumbi oder Otim Alpha ist die Plattenschmiede inzwischen Anlaufpunkt für talentierte Producer*innen vom gesamten afrikanischen Kontinent geworden, die hier berechtigterweise ein Sprungbrett in den internationalen Markt sehen. Und obwohl auch ich bereits im Herbst der letzten Saison auf das Phänomen aufmerksam wurde, das sich hinter Nyege Nyege versteckt, war ich doch bisher nicht imstande herauszufinden, was abgesehen vom Exotenbonus des Outlets eigentlich das tolle daran sein sollte. Die paar Platten des Labels, die ich in den vergangenen Monaten punktuell hörte, empfand ich selten als musikalisch aufregend oder speziell und obwohl ich es irgendwie cool fand, dass solche Musik eben nicht mehr nur aus den bekannten verszenten Nischen in Europa und Nordamerika kam, wirkte der Ansatz vieler Nyege Nyege-Acts leider doch etwas dilletantisch und unausgereift. Weshalb es mich aber umso mehr freut, jetzt die Bekanntschaft mit Nihiloxica gemacht zu haben, die mich als erstes so richtig vom Rezept der Kampala-Bubble überzeugen. Die zweiköpfige Formation aus Kampala gehört bereits seit etlichen Jahren zum festen Inventar des Labels und ist eine der Gruppen, die bis dato am wesentlichsten für den Erfolg ihrer Marke verantwortlich war. Dabei gehören sie innerhalb von Nyege Nyege tatsächlich eher zu den etwas exotischeren Künstler*innen, deren Musik von der klassischen Techno-Formel etwas abweicht. Zusätzlich zu den von Deep House und Drum & Bass beeinflussten Beats liegt bei ihnen nämlich ein wesentlicher Fokus auf analoger Live-Perkussion, die auf traditionellen ostafrikanischen Instrumenten gespielt wird und damit eine ganz andere Ästhetik abruft als ihre Kolleg*innen. Im Gegensatz zu deren klumpiger Digital-Ästhetik klingt ihr Ansatz nicht selten ziemlich psychedelisch und körperlich, was auf den ersten Blick schon wesentlich mehr Spaß macht. Und umso schöner war es festzustellen, dass ihr neuestes Album Kaloli (das in Europa erstmals vom belgischen Label Crammed Discs vertrieben wird) auch als Album funktioniert. Wobei erstmal geklärt werden sollte, was man hier eigentlich erwarten kann. Im Gegensatz zum Großteil der aktuellen Nyege Nyege-Releases ist vieles hier verhältnismäßig wenig tanzbar, für Fans von rhythmusgetriebener und perkussiver Musik dürfte hier aber doch einiges dabei sein. Denn im wesentlichen besteht diese LP aus den analogen Live-Beats, die die beiden hier am Schlagwerk erzeugen. Das tolle daran ist, dass sie dafür vor allem einzelne Felltrommeln benutzen, die wenig steril aufgenommen sind und von denen man folglich viele Nuancen hört. Seltener werden diese dazu verzerrt oder durch einzelne elektronische Patterns ergänzt, sodass eine Art psychedelische Monotonie entsteht, die mich teilweise sehr an die letzte Platte von Föllakzoid erinnert. Wird diese dann noch mit den housigen Digital-Flächen kombiniert, die man vor allem im zweiten Teil auf Tracks wie Mukaagafeero oder Busango hört, ist das Ergebnis eine tatsächlich sehr trippige Ästhetik, die man so auf jeden Fall eher selten hört. Und obwohl diese dann mitunter auch etwas eintönig sein kann und ich mir manchmal etwas mehr Farbe in den Stücken gewünscht hätte, bin ich von der Idee der Band doch fasziniert. Nicht nur ist das hier mal ein wirklich origineller Gegenpol zu abgenudelten Techno-Entwürfen aus hiesiegen Breiten, es hebt den gesamten Modus Operandi von Nyege Nyege auf ein völlig neues Niveau. Vergleicht man das hier mit Platten, die auf dem Label noch vor wenigen Monaten erschienen, hört sich Kaloli an wie der Unterschied von einem Demotape zur vollwertigen Studioaufnahme, nicht nur von technischen Gesichtspunkten her. Und genau an diesem Punkt wird es interessant: Denn wenn Nihiloxica den nächsten Schritt in Richtung eines professionellen Album-Sounds gehen, werden dass in näherer Zulunft vielleicht auch andere Acts dieses Labels tun und im Optimalfall das diversifizieren, was sich gerade als der typische Nyege Nyege-Sound durchsetzt. Was bedeuten würde, dass ich womöglich wesentlich interessierter wäre, was den allgemeinen Output des Kollektivs angeht. Freuen würde ich mich darüber auf jeden Fall, denn Potenzial hat diese Szene ja auf jeden Fall. Und es wäre grundsätzlich auf jeden Fall zu begrüßen, wenn das Hipster-Publikum zumindest um eine kleine Leufkundschaft erweitert würde.


Hat was von
Föllakzoid
I

Olatunji
Drums of Passion

Persönliche Höhepunkte
Tewali Sukali | Black Kaveera | Mukaagafeero | Busoga | Salongo | 170819

Nicht mein Fall
-

Dienstag, 23. Juni 2020

Letztendlich doch Volksmusik


[ folkloristisch | erwachsen | gemächlich ]

Es gibt zurzeit so einige Mando Diao-Fans von früher, die sich wundern, warum ihre Lieblingsband von einst jetzt gerade dieses Album macht. Ein Album, das so furchtbar unrockig, schmalzig, seicht und selbstzufrieden klingt, als wäre es von einer ganz anderen Band gemacht worden. Und ja, ein bisschen kann ich das verstehen. Wer die Schweden zuletzt auf Platten wie Give Me Fire oder Aelita gehört hat, als sie noch so richtig erfolgreich waren, wird über eine LP wie I Solnedgången sicherlich erstmal staunen. Die fünf Borlänger, die irgendwann mal für ruppige Rockbretter wie Dance With Somebody, Down in the Past oder Black Saturday bekannt waren, üben sich hier doch sehr in innerer Einkehr, erwachsener Gemächlichkeit und loungiger Kulturradio-Dadrock-Attitüde. Nimmt man dazu die Tatsache, dass sie hier komplett in Landessprache singen, kann sich schon ein sehr befremdliches Gesamtergebnis ergeben, das erstmal die Frage provoziert, ob man sich hier nicht verklickt hat. Lediglich wer sich in den letzten zehn Jahren wirklich die umfangreiche kreative Trivia von Mando Diao zu Eigen gemacht hat (und das haben sicher die wenigsten), wird wissen, dass diese Ästhetik so neu eigentlich gar nicht ist. Denn bereits vor acht Jahren gab es von ihnen schon mal ein sehr ähnliches Projekt namens Infruset, auf dem sie ihre lyrisch-folkloristische Seite erstmals anschnitten. Damals behandelten sie im Rahmen eines Auftragswerks den Katalog des schwedischen Volksdichters Gustaf Fröding, was bei ihnen anscheinend ein wenig romantisches Tingeltangel provozierte, denn schon hier klangen sie dabei plötzlich sehr erwachsen und gefällig. I Solnedgången ist 2020 eigentlich nicht mehr als der konsequente Anschlusspunkt an diese Platte und wer sich nach der Motivation dahinter fragt, muss sich eigentlich nur mal die Zahlen ansehen: Mando Diao gibt es inzwischen seit über zwanzig Jahren und so gut wie alle Mitglieder der Band gehen straff auf die vierzig zu. Abgesehen davon sind sie mittlerweile an dem Punkt in ihrer Karriere, an dem der Mainstream sich von ihnen abkehrt und man neue Wege finden muss, sich kreativ auszudrücken. Ihre letzten beiden klassischen Rockplatten waren weder besonders originell noch besonders erfolgreich. Und zumindest wenn man mich fragt, hätte es deutlich schlimmer laufen können als mit diesem Album. Sicher, es ist ein bisschen zahm, dafür aber auch authentisch und rein musikaisch das beste, was Mando Diao seit einer ganzen Weile gemacht haben. Mit Texten, die zum Teil von der Band selbst, zum Teil aber wiederum aus der schwedischen Volkslyrik und unter anderem aus der Feder von Björn Dixgårds Vater Hans stammen, ergibt sich hier wieder ein ähnlich folkloristisches Motiv wie auf Infruset, das diesmal auch durch ein ausgefeilteres Songwriting ergänzt wird. Die Attitüde ist dabei eindeutig Dadrock, aber gespickt mit ein paar sehr angenehmen Jazz- und Psych-Einflüssen, die auch deshalb nicht so kitschig wirken, weil hier auf schwedisch gesungen wird. Außerdem ist es auf jeden Fall ein Faktor, dass Björn Dixgård mit dem Alter ein immer besserer Sänger wird und mit seinem rauhbeinigen Rocker-Timbre einen gewissen Gegenpol zur sauberen Ruhe der Instrumentalparts hat. Sein Input gibt dem Album extrem viel Persönlichkeit, die es in den entscheidenden Momenten daran hindert, vollständig im loungigen Norah Jones-Vibe zu versumpfen. Aber selbst wenn dem so wäre, könnte das noch immer nichts gegen das hervorragende Songwriting, die fabelhafte Instrumentierung und die generell wunderbare Stimmung dieser Platte ausrichten, die mich extrem begeistert. Ich muss mich ein bisschen wundern, warum ausgerechnet diese LP diejenige ist, die Mando Diao für mich wieder so richtig interessant macht, zumal sie ja nicht die erste ist, auf der sich ihr klangliches Rezept verändert, aber sie ist es irgendwie. Und vor allem könnte ich mir vorstellen, mehr von dieser Version der Band in Zukunft zu hören. Auch wenn das bedeuten würde, dass sie endgültig zu einer sehr nischigen Angelegenheit werden.


Hat was von
Norah Jones
Pick Me Up Off the Floor

Eric Clapton
Unplugged

Persönliche Höhepunkte
I Solnedgången | Kvällstilla | Långsamt | Stjärnornas Tröst | Sparven | Stigen | Själens Skrubbsår | Kullen Vid Sjön | Tid Tröste

Nicht mein Fall
Vaggvisa Under Stora Björn

Freitag, 19. Juni 2020

Du alter Zerstörer


[ live | hymnisch | großkotzig ]

Der Ruf, den das Format Unplugged des Senders MTV in seinen Anfangstagen mal hatte, ist im Jahr 2020 definitiv nicht mehr derselbe. Eine lange Zeit ist vergangen seit den Tagen, als Acts wie Nirvana, Jay-Z oder die Ärzte hier einige ihrer besten Platten aufnahmen und gemeinsam mit der generellen Reputation von MTV scheint die Magie, die dieses Setting vielleicht irgendwann mal hatte (man muss sich ja nichts vormachen: Auch in den Neunzigern gab es schon ziemlich furchtbare Unplugged-Releases) ziemlich den Bach herunter gegangen zu sein. Wenn man sich die Künstler*innen ansieht, die während der letzten Dekade Alben dieses Formats veröffentlichten, ist das doch sehr bedenklich: Wo auf internationaler Ebene Leute wie Lil Wayne, Miley Cyrus oder Shawn Mendes eingeladen wurden, sieht es in Deutschland mit Cro, Peter Maffay und Santiano fast noch düsterer aus. Und obwohl es auch während dieser Zeit ein paar glückliche Ausnahmen wie die Konzerte von Sido oder Mando Diao gab, mieft das Konzept MTV Unplugged 2020 doch irgendwie nach Mittelmäßigkeit. Und ich hätte auf den ersten Blick nicht gewusst, was ausgerechnet Liam Gallagher daran hätte ändern sollen. Zumal er einer der Künster ist, dessen Fußabdruck sowieso schon unwiederbringlich in der Geschichte des Formats steckt und er für einen der wohl denkwürdigsten und gallagherigsten Unplugged-Gigs der Musikgeschichte verantwortlich ist. Ein bisschen Storytime: Als 1996 seine alte Band Oasis angefragt wurde, für MTV zu spielen, konnte Liam krankheitsbedingt nicht auftreten, weshalb sein Bruder Noel für den Abend den Leadgesang übernahm. Was in der Welt dieser beiden Typen natürlich kein gutes Ende nehmen konnte. Einer der wichtigsten Auftritte der Gruppe überhaupt, und nicht nur würde Liam fehlen, sein Ersatz wäre auch noch der band- und familieninterne Erzfeind sein - völlig indiskutabel. Weshalb der Gekränkte zur Tat schritt. Über den gesamten Auftritt von Oasis hinweg pöbelte der Bruder vom Logenplatz herunter jeden Song der eigenen Formation in Grund und Boden und ruinierte somit das Erlebnis für alle Anwesenden. Ein Zwischenfall, der von einer unangenehmen Peinlichkeit (die Aufnahmen des besagten Abends wurden nie offiziell veröffentlicht) schnell zu einem der definierenden Momente sowohl in der Historie von Oasis als auch in der von MTV Unplugged wurden. Und letztendlich eine Begebenheit, an der man sich trotz seines offiziellen Fehlens vor allem wegen Liam erinnert. Was praktisch gesehen heißt, dass Live at Hull City Hall nun seine zweite Runde ist. Diesmal ordentlich und ohne rachsüchtigen Noel im Publikum. Und auch wenn ich mich ein bisschen Frage, warum er nochmal das Vertrauen von MTV zugesprochen bekam, muss ich doch zugeben, dass er hier das beste aus seiner zweiten Chance macht. Was im Klartext heißt, dass diese LP die mit Abstand beste Version des Unplugged-Formats ist, die ich seit etlichen Jahren gehört habe. Ganz einfach deshalb, weil Liam und sein Produktionsteam wissen, was sie hier tun und was dem Zusammentreffen des Künstlers und des Settings am besten zu Gesicht steht. Und das fängt schon mit dem Setting des Konzerts an. Statt auf Biegen und Brechen den intimen Rahmen schaffen zu wollen, den diese Gigs ja angeblich immer haben müssen, wird hier von vornherein die Qualität des Künstlers als Stadionrock-Gottesgestalt verstanden und mit der Hull City Hall ein gescheites Konzerthaus ausverkauft (das im übrigen auch optisch eine der schönsten Bühnen hergbit, die ich in diesem Format je gesehen habe). Das Ergebnis ist eine Aufnahme, die auch wesentlich von ihrer Publikumsdynamik lebt: Es gibt Sprechchöre, tobenden Applaus bei Fan-Favoriten und so gut wie jedes Stück wird von der Menge mitgesungen. Wobei an dieser Stelle auch ein Chapeau für die Postproduktion und Abmischung angebracht ist, die aus diesem wenig intimen Konzert trotzdem einen Sound herauspellt, bei dem man viele Nuancen und Details hört. Was mich aber vor allen anderen Dingen an dieser LP überzeugt, ist die großartige Auswahl der gespielten Songs, die bei jemandem wie Liam Gallagher auch echt hätte schief gehen können. Wobei die große Frage bei diesem Typen natürlich ist, wohin man soll mit dem Vermächtnis der Tatsache, dass er mal in einer der wichtigsten Rockbands des Planeten war, damit aber gebrochen hat? Und es ist ein leichtes, sich daran die Zähne auszubeißen. Zumindest für mich wäre ein Set ganz ohne Oasis-Material genauso enttäuschend gewesen wie eines, das nur auf kollektiver Nostalgie aufbaut. Gallagher hat aber beides nicht nötig. Zwar gibt er als abschließende Konsens-Hymne und ultimativen Rausschmeißer hier Champagne Supernova zum besten und das ist auch gut so, doch eben auch deswegen, weil dieser Song als das große Feuerwerk am Ende behandelt wird, das eine Ausnahme darstellt. Den Rest des Sets bestreitet Gallagher souverän mit Material seiner zwei Soloplatten (keine Beady Eye-Stücke, zum Glück!) sowie Oasis-Stücken von der Hinterbank, die während ihrer aktiven Zeit selten gespielt wurden. Und gerade an diesen Stellen gelingt es ihm, vielen Sachen nochmal neues Leben einzuhauchen. Im neuen Unplugged-Gewand gibt es Songs seiner letzten Platte Why Me? Why Not., die mir plötzlich sehr viel besser gefallen als in der Studioversion und von mir unbeachtete Oasis-Deep Cuts wie Some Might Say und Sad Song, die hier erstmals richtig strahlen. Liams sicherlich größter Verdienst ist jedoch mit Abstand die Verwandlung des elenden Be Here Now-Totalschadens Stand By Me in den besten Track des ganzen Konzerts. Und so schafft es Gallagher hier ein weiteres Mal, seine größte Kompetenz auszuspielen: Den Spirit seiner alten Band heraufzubeschwören, ohne diese tatsächlich hinter sich zu haben. Live at Hull City Hall ist inzwischen das zweite Album von ihm, dem das Kunststück gelingt, die übermenschliche Größe und den Pathos eines Oasis-Releases auf eines seiner Soloprojekte zu bündeln und dabei nicht so zu klingen, als würde er bloß Nostalgie forcieren wollen. Vor allem schafft er es aber, mal wieder eine Unplugged-Platte zu machen, die ich wirklich interessant und besonders finde, das ist hier definitiv sein größter Verdienst. Und ein weiteres starkes Argument dafür, dass er wesentlich mehr ist als nur der pöbelnde Sack, der anderen die Tour versaut.


Hat was von
Mando Diao
MTV Unplugged - Above & Beyond

Blur
All the People: Blur Live at Hyde Park

Persönliche Höhepunkte
Wall of Glass | Some Might Say | Stand By Me | Sad Song | Once | Gone

Nicht mein Fall
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Donnerstag, 18. Juni 2020

Die neue Unermüdlichkeit des William Ryan


[ exotisch | ambient | jazzig ]

Es ist eigentlich eine wunderbare Sache, dass es in den letzten Jahren um den Output von William Ryan Fritch etwas ruhiger geworden bin. Und damit meine ich nicht etwa die Aufmerksamkeit, die der Künstler aus Colorado für seine noch immer ziemlich großartige Arbeit bekommt, denn die lässt noch immer zu wünschen übrig. Ich meine damit vor allem, dass sich das Chaos in seiner umfangreichen Diskografie inzwischen ein bisschen geordnet hat. Denn schaut man um etwa fünf Jahre zurück, war es oftmals selbst für mich als Fan schwer, in seinem gigantischen Katalog durchzublicken. Allein in seiner ersten großen Release-Serie Leave Me, die Fritch zwischen 2014 und 2016 veröffentlichte, erschienen insgesamt zehn individuelle Tonträger, die auf etwas mehr als 110 Einzeltracks kamen und bei denen am Ende wahrscheinlich nicht mal der Künstler selbst ganz den Durchblick hatte. Angesichts dieses massiven Einstandes war es in den Jahren danach erstmal verhältnismäßig ruhig um ihn. Zwar ging bei jemandem wie ihm dabei noch immer nichts unter mindestens zwei Veröffentlichungen pro Jahr, doch waren diese meistens eher nebensächliche Tätigkeiten wie Soundtracks oder Auftragsarbeiten, die Fritch schon immer quasi nebenbei aus dem Ärmel schüttelt. Und das wichtigste war ja, dass man sich mittlerweile einen Überblick machen konnte, was aktuell war in der Welt des Songwriters abgeht und es auch okay wurde, ihn mal für eine Weile zu ignorieren. Zumindest bis jetzt. Denn so wie es aussieht, schickt sich das Monster just an, wieder aus der Haut zu fahren. Bereits vor einigen Monaten kündigte Lost Tribe Sound, das Label, dessen Brötchen zu gut 80 Prozent Fritch von verdient werden, eine neue 15-teilige Album-Kollektion an, die noch innerhalb dieses Jahres vollendet werden soll. Und obwohl das ganze diesmal ein kollektives Vorhaben diverser Künstler*innen von LTS wird, sind von unserem Freund hier zumindestens fünf Releases geplant. Es kann also wieder heiter werden. Wobei sich auch gleich mit the Letdown, dem ersten Eintrag in der Serie, erneut zeigt, dass diesem Typen so etwas zuzutrauen ist. Bei aller Überforderung, die ich mit dem Leave Me-Katalog seinerzeit hatte, ergab sich doch nie das Gefühl, dass Fritch sich mit dieser Aufgabe verhebt oder einfach zu viel von sich selbst will. Klar waren nicht alle Teile der absolute Oberhammer, aber sie hatten zumindest Substanz und es steckte fast immer eine Idee dahinter. Und auch the Letdown eröffnet wieder die Möglichkeit eines solchen Erlebnisses. Was direkt doppelt interessant ist, weil er sich mit dieser LP direkt ein bisschen künstlerisch neu erfindet. Wo seine bisherigen Platten stets im weitesten Sinne das Spektrum Folk bearbeiteten, entledigt er sich hier eigentlich komplett dieser Ästhetik und macht etwas, dass man als sein Jazz-Debüt bezeichnen könnte. Die Gitarren, Streicher und Percussion-Elemente der Vorgänger schließt er dabei einfach Weg und nutzt stattdessen Saxofon, Orgeln, Vibraphon und diverse Bläser, um mehr oder weniger die gleichen flirrenden Orchestral-Sounds zu erzeugen wie vorher, was aber gleich eine völlig neue Ästhetik hervorbringt. Gerade die ersten Tracks des Albums sind mit ihren teilweise sehr schmissigen, swingenden und psychedelischen Motiven völlig neues Terrain für Fritch. Im Opener Unhinged mimt er einen nicht zu verachtenden Coltrane-Style, Going Through the Motions ist eine äußerst stabile Cool Jazz-Nummer und in Free Radical hört man sogar Stimmungen aus Bossa Nova und Calypso heraus, die ich diesem Typen in hundert Jahren nicht zugetraut hatte. Und es ist ohne Frage der Teil des Albums, an dem die besten und kreativsten Momente auf the Letdown entstehen. Würde das ganze Album diesen Schritt halten, hätten wir hier vermutlich eine zweistellige Punktzahl am Ende. Denn obwohl die ambient-düstere Free Jazz-Richtung, die die Platte danach einschlägt auch auf ihre Weise cool ist, wird es im Mittelteil ein bisschen vorhersehbar. In Songs wie Initiative oder Curls of Smoke erreicht Fritch Stellen, in denen er mehr oder weniger nur noch Sounds verdichtet und jene dronigen Instrumentalspur-Choräle erzeugt, die schon auf seinen ersten Platten zu den weniger amüsanten Parts gehörten. In den Songs hier ist diese Art von Songwriting so gut ausgeführt wie selten, man braucht nur erstmal eine Weile, um damit klarzukommen, dass man ab jetzt ein avantgardistisches Ambient-Album hört. Erst zum Ende hin lockert Fritch diese starre Kompositionsweise wieder ein bisschen auf und wird orchestraler, wobei es mit dem walzerartigen Schlussstück What's Left Unfilched nochmal ein echtes Highlight gibt. Vieles an den letzten Songs erinnert mich dabei an eine umgekehrte Version des Caretaker-Epos Everywhere at the End of Time, bei dem aus der Kakophonie heraus plötzlich wieder ein Konzept wächst. Und bei der ich trotz aller Nörgelei am Ende sagen muss, dass ich absolut begeistert bin. Obwohl the Letdown durchaus seine Längen hat und um die Mitte herum die Luft etwas dünn wird, ist es mit Sicherheit eines der besten Projekte von Fritch bisher, das unglaublich viele neue Facetten dieses Künstlers zeigt. Allein schon in sich wirkt vieles hier extrem programmatisch und konzeptuell, was mich sehr neugierig darauf macht, wie diese Ideen auf den vier weiteren Platten der Serie fortgesetzt werden. Und so wie ich diesen Typen kenne, wird er die Motive hier weiterhin als Basis nutzen, um sich kreativ auszutoben. Es könnte also wahnsinnig interessant werden. Was bei mir im Moment sogar die Frage aufkommen lässt, ob ich vielleicht nicht nur die fünf Alben von Fritch, sondern auch die zehn anderen noch hören sollte. Womit wir wieder an dem Punkt der Erschöpfung wären, von dem ich bei Lost Tribe Sound eigentlich weg wollte. Aber was tut man nicht alles.


Hat was von
Mattew Tavares & Leland Whitty
Visions

the Caretaker
Everywhere at the End of Time

Persönliche Höhepunkte
Unhinged | Free Radical | Comoulsion_Going Through the Motions | Curls of Smoke_False Confidence | the Letdown | Shuttered | Dream Glitch_Fugue State_Broken Barriers | What's Left Unfilched

Nicht mein Fall
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Mittwoch, 17. Juni 2020

Keine Angst vor Romantik



[ romantisch | folkloristisch | pittoresk ]

Ich kann es einfach nicht anders sagen: Die Diskografie von Stephen Wilkinson aka Bibio ist mit ziemlicher Sicherheit eine der schönsten musikalischen Entdeckungen, die ich in den letzten drei Jahren gemacht habe und bei der sich ein freundlicher Geheimtipp mal richtig gelohnt hat. Zwar bin ich auf dem heutigen Stand noch immer weit davon entfernt, mich im Katalog des Briten wirklich auszukennen und dessen unglaubliche Vielfalt vollends zu fassen, doch zumindest über seine letzten beiden Alben kann ich vorbehaltlos sagen, dass ich sie ziemlich mag. Vor allem Phanton Brickworks, meinen Erstkontakt mit Bibios Output im Herbst 2017, kann ich an dieser Stelle noch immer sehr empfehlen, obwohl dieser mit seiner deutlichen Ambient-Ausrichtung für diese Besprechung eher nicht von Bedeutung sein wird. Denn wenn wir uns die jüngste klangliche Phase des Briten ansehen, ist vor allem dessen letzte LP Ribbons und seine damit verbundene neue Affinität für englischen Folk relevant. Wobei auch die nicht komplett neu ist. Schon Ende der Nullerjahre, als Bibio erstmals größere Aufmerksamkeit generierte, tat er das als Verteter der damals gerade sehr coolen Indietronic-Welle um Künstler wie Fout Tet und Bonobo, denen er stilistisch sehr nahe stand. Und obwohl das schon damals zeigte, wie erpicht er darauf war, seinen elektronischen Basis-Sound mit allerlei exotischem Zeug zu verbinden, ist sein aktueller Ansatz nochmal ein völlig anderer. Man könnte im Prinzip sagen, dass Wilkinsons von Folk-beeinflusstem Elektropop zu elektronisch beeinflussten Folk übergegangen ist, denn von allen Künstler*innen seiner Zunft ist er meiner Meinung nach derjenige, der den traditionellen Teil seiner Musik am meisten Ernst nimmt. Für ihn reicht es schon lange nicht mehr, eine bescheidene Akustikklampfe in einen minimalistischen Beat einzupflanzen und das dann als "Folktronica" zu verkaufen, er will der Sache auf den Grund gehen. Auf Ribbons erweiterte er dabei vor allem erstmal sein Instrumentarium um haufenweise altmodisches Zeug wie Geigen, Mandolinen und Flöten, die er spätestens hier auch ziemlich raffiniert einsetzt. Wobei diese Verbeugung, die er vor allem vor englischer Volksmusik macht, immens viel Platz einnimmt. Wo man auf dem Vorgänger zumindest meistens noch deutlich einen elektronischen Beat oder einen Keyboard hörte, scheint er diesen Part hier mehr oder weniger ad acta gelegt zu haben, zumindest was das wesentliche Songwriting betrifft. elektronische Elemente gibt es hier nac wie vor, doch meistens eher als kompositorisches Schmuckwerk oder nachträglich eingebaute Tricksereien. Die Basis ist fast gänzlich analog. Und nicht nur das: Ästhetisch orientiert sich hier einiges an klassischen Renaissance-Motiven und sehr traditionellen Einflüssen. Was zusammen mit den eingestreuten Field Recordings von plätschernden Bächen und singenden Vögeln eine Wirkung ergibt, die extrem romantisch und pittoresk ist. Ganz unmittelbar fühle ich mich dadurch oft an das großartige Album I Will Be A Pilgrim von Arch Garrison erinnert, das ebenfalls romantische Elemente aus der klassischen Gitarrenmusik mit Synthpop verband, dabei aber eher aus der Folk-Richtung kam. Was letztendlich vor allem eins bedeutet: Sleep On the Wing kann mitunter recht kitschig werden. Viele der Stücke hier haben mehr als ein bisschen die rosarote Brille auf und Dinge wie das fast schon nach Mittelaltermarkt anmutende Awpockes oder die schreittanzigen Klatsch-Effekte in Miss Blennerhassett muss man definitiv nicht unbedingt mögen. Für jemanden wie mich allerdings, der ruhig eine Kitsch-Schippe extra vertragen kann und der in gewissen Momenten findet, dass Mittelalterrock zu unrecht verpönt sei, ist das hier eine kleine Offenbarung. Zwar ist Sleep On the Wing letztlich nur knapp 30 Minuten lang und hält sich mit großen Eskapaden zurück, doch erzeugt es dennoch eine Atmosphäre, die wunderbar sommerlich und - nun ja - einfach romantisch daherkommt. Und wenn das technisch und kompositorisch so gut gemacht wird wie hier, dann soll mir das auch recht sein. Besser als das neue Four Tet-Album ist es zumindest allemal.


Hat was von
Arch Garrison
I Will Be A Pilgrim

Villagers
Awayland

Persönliche Höhepunkte
Lightspout Hollow | Oakmoss | Miss Blennerhassett | the Milky Way Over Ratlinghope | Awpockes | Watching Thus, the Heron is All Pool

Nicht mein Fall
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Dienstag, 16. Juni 2020

Rooms Filled With Light


[ atmosphärisch | minimalistisch | sanft ]

Ich habe mich in den letzten Jahren manchmal gefragt, warum This Will Destroy You immer noch eine Band sind, für die ich mich so sehr interessiere, denn wenn man mal ehrlich sind, war ihre Musik diese Aufmerksamkeit schon lange nicht mehr wirklich wert. Wenn ich in ihrer Diskografie einmal ernsthaft zurückdenke, ist das letzte Album von ihnen, das mich wirklich überzeugte und begeisterte, Tunnel Blanket von 2011, was ja nun wirklich schon eine Weile her ist. Trotzdem habe ich es mir nicht nehmen lassen, seitdem so gut wie jede neue Platte von ihnen zu besprechen, obwohl die meisten dieser Artikel mittlerweile lange offline sind. Die Frage, die mich dabei am meisten umtreibt ist, was ich von dieser Band im Jahr 2020 eigentlich erwarten soll. In den inzwischen 15 Jahren ihrer Karriere waren die Texaner nie wirklich schlecht und es gab immer etwas, dass mich an ihnen interessierte, allerdings war dabei vor allem die letzte Dekade ihres Outputs ein bisschen zu konservativ für meinen Geschmack und bestätigte leider viele gängige Klischees, die man dieser Tage über Postrock hat. Es fiel mir ob dessen gerade in den letzten Jahren schwer, wirklich festzustellen, ob ich noch Hoffnungen in diese Band legte oder ob sie vielleicht ein bisschen passé waren. Was aber auch immer ich ihnen für ein neues Album zutraute und was nicht ist letztlich egal, denn was sie auf Vespertine machen, findet definitiv komplett außerhalb irgendeiner Erwartungshaltung statt, die ich für diese LP hätte haben können. Zwar gab es von ihnen auch schon in der Vergangenheit Projekte, die ein bisschen mit dem Thema Ambient liebäugelten und gerade mein persönliches Herz-Album Tunnel Blanket ging diese Tendenz sehr deutlich ein, doch war es bisher immer nur eine Idee, die in das sonstige Rezept hereinspielte. This Will Destroy You waren bis dato immer noch vordergründig eine Postrock-Kapelle, die dann und wann eben auch gut darin war, es ruhig angehen zu lassen. Davon, dass sie es so ernst meinen würden wie hier, war allerdings nie die Rede und es brauchte tatsächlich erst Impulse von außen, um diesen inneren Drang wirklich vollends auszuleben. Denn wie schon so einige Künstler*innen vor ihnen nutzen auch die Texaner hier die Rahmenbedingungen eines Auftragswerks, um sich künstlerisch in diese neue Welt zu begeben. Proforma ist Vespertine dabei eine Art Soundtrack oder atmosphärische Beilage für das gleichnamige Nobelrestraurant im kalifornischen Culver City, von dem ich annehme, dass die einzelnen Stücke mit Namen wie Kitchen, Rooftop oder Dining Room dort in verschiedenen Räumen laufen. Den Informationen nach zu urteilen, die man aus offiziellen Pressetexten und von der Webseite der Lokalität erfährt und in der von tranzendentaler Gastoronomie und umfassender Sinneswahrnehmung die Rede ist, ist es auf jeden Fall ziemlich pretenziöser Mist. Was aber nicht heißt, dass die Musik das auch sein muss. Im Gegenteil, This Will Destroy You nutzen ihre Rolle als Architekten einer Atmosphärik hier nämlich vor allem dafür, das auch sehr umfassend zu tun. Denn wie auch immer die Inspiration für diese sieben Stücke waren, rein für sich ergibt das ganze Sinn. Das Hörerlebnis auf Vespertine liest sich mit ein bisschen Fantasie tatsächlich über Weite Teile wie die Erkundung eines Hauses, in dem man nach und nach verschiedene Räume und Bereiche betritt. Und ja, wir reden hier auch von einem sehr modernen, mondänen Haus mit sehr viel effizienter Eleganz und jeder Menge natürlichem Licht, das durch große Fenster kommt. Entrance und Exit sind dabei die ästhetischen Klammern, die das be- und eintreten beschreiben und wie eine Art Ouvertüre funktionieren, Building und Garden vermitteln eine Art Außenperspektive, Kitchen und Dining Room haben eine heimelige Gemütlichkeit an sich und Rooftop bündelt in der Mitte ein paar kräftige, shoegazige Sonnenstrahlen. Die Impulse, die die Band dabei setzt, sind wenig mehr als spielerische Tupfer von Keyboard und Gitarren, die fast alle sehr verhallt und impressiv sind. Vieles erinnert dabei an Platten wie Valtari von Sigur Rós oder sogar an die noch entrückteren Soloplatten von Jónsi und eher nicht an klassischen Ambient-Pop, weil die Basis dieser Songs am Ende des Tages trotzdem ein Rock-Instrumentarium ist. Gerade das erzeugt aber auch eine sehr organische Wärme und eine klangliche Finesse, die der große Pluspunkt dieser LP ist und den Unterschied ausmacht, den das hier zu einer rein funktionalen Muzak-Komposition hat. Gerade in Tracks wie Garden oder Rooftop, die von luftigen Gitarrenharmonien getragen werden, spürt man das sehr schön. Und es hilft tatsächlich auch immens dabei, den ganzen dämlichen Überbau ein bisschen auszuklammern. Ich für meinen Teil mag ja gerade diese thematische Idee der Titel, die mich beim hören zumindest ein bisschen an die Hand nimmt und gleichzeitig viel der Fantasie überlässt, aber auch für Leute, die das bescheuert finden, ist Vespertine am Ende vielleicht was. Zumindest funktioniert es auch genauso gut, wenn man es einfach als meditative Klangtapete im Hintergrund laufen lässt und sich nicht weiter darauf fokussiert. Ein bisschen Kontext muss aber trotzdem noch sein, denn für die Person in mir, die sich vor allem wegen der Band dahinter für diese LP interessiert, ist das hier genauso ein Fest. Nicht nur ist das hier ihr mich Sicherheit bestes Album seit inzwischen fast zehn Jahren, es zeigt mir auch, dass ich bei ihnen schon lange den richtigen Riecher hatte. Schon damals bei Tunnel Blanket hatte ich so eine Ahnung, dass es vielleicht ziemlich geil wäre, wenn die Texaner mal ein bisschen dieses Ambient-Ding weitermachen würden. Und nun, wo es passiert ist, hat es sich in jeder erdenklichen Weise ausgezahlt. Weshalb es am Ende doch ganz gut war, diese Band über die vielen Jahre nicht aus den Augen zu verlieren. Denn wiederum zeigt sich, wie Treue manchmal belohnt wird.


Hat was von
Jónsi & Alex
Riceboy Sleeps

Tiny Isles
the Long Seasoned Sleep

Persönliche Höhepunkte
Entrance | Kitchen | Rooftop | Exit | Garden

Nicht mein Fall
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