Freitag, 26. Juni 2020

Die neuen Leiden des jungen J.


[ autobiografisch | nachdenklich | positioniert ]

Es war ein bisschen eine knappe Kiste und mit gerade mal zwei Jahren auf der Uhr ist es vielleicht noch etwas früh, das so unmissverständlich festzustellen, aber für den Moment ist es mir absolut klar, dass Juse Ju mit Shibuya Crossing noch schnapp ab eine meiner liebsten Deutschrap-Platten der letzten Dekade gemacht hat. Und anscheinend bin ich in dieser Beziehung nicht der einzige, der so empfindet: Seit der Veröffentlichung der besagten LP im März 2018 hat diese für einen gewissen Ruf gesogt, den der Künstler aus Kirchheim seitdem mit sich herumträgt. Als das gute Gewissen der Szene, der sich als einer der wenigen traut, darin nach wie vor existierenden Sexismus und Antisemitismus sehr unverblümt anzusprechen, toxische Elemente auch bei sich selbst zu suchen und abgesehen davon auch als jemand, der eine gute Geschichte erzählen kann. Shibuya Crossing ist ein Album, das weniger den Rapper Juse Ju zeigt als den die eigentliche Person Justus Hütter, die der Vergangenheit und die von heute. Wobei das erfrischende ist, dass diese eben nicht jene selbstgefällige Pseudo-Weisheit mitbringt, die im Deutschrap so viele haben, sondern nach wie vor mit sich ringt und insgesamt sehr menschlich und verwachsen wirkt. Und dass er damit eine üppige Quelle aufgestoßen hat, war ihm selbst wahrscheinlich als erstes klar, denn zwei Jahre später ist Millenium nun der Versuch, genau dieses Kunststück zu wiederholen. Dass es dabei weiterhin viel zu erzählen gibt, wurde dabei ebenfalls ziemlich schnell deutlich: Schon die ersten Singles TNT und Claras Verhältnis punkteten wieder mit genau der Art von effektivem Storytelling, das keine großen Dramen über schwere Kindheiten, Verrat und Drogen erzählen muss, um dorthin zu gehen, wo es weh tut und die dabei auch unglaublich viel Haltung zeigten. Auf der anderen Seite gab es aber eben auch die wie Kranich Kick und Ich hasse Autos, die den etwas albern-satirischen Juse-Style der alten Alben in eine weitere Saison retteten. Und als letztenlich auch der Künstler selbst ganz offiziell die Bestätigung gab, dass Millenium eine LP im Stil von Shibuya Crossing werden sollte, war ich natürlich aufgeregt. Und obwohl ich von der generellen Art und Weise angetan bin, wie hier dieses Konzept weiter ausgearbeitet wird, muss ich doch sagen, dass Juse Ju hier auch ein paar sehr typische Sequel-Probleme anhäuft. Soll heißen: Die Formel, dass hier die Parameter gesucht werden, die Shibuya Crossing zu einem tollen Album machten und diese hierhin zu übertragen, funktioniert nicht immer ganz optimal. Der Clou beim Vorgänger war ja der, dass niemand so richtig wusste, ob bestimmte Elemente darauf hinhauen würden, weshalb einfach in viele Richtungen ausprobiert wurde. Millenium hat diese Ungewissheit nicht mehr und nimmt sich folglich ganz einfach das heraus, was zuletzt am besten funktionierte. Also mehr autobiografisches, mehr politische Statements und mehr lyrische Selbstzerfleischung. So weit so abgeklärt. Denn in den wirklich guten Momenten schafft es genau diese Formel, das Gesamterlebnis zu optimieren: TNT und Unter der Sonne sind fantastisch aus dem Leben gegriffene Storytelling-Nummern, die mir echt nah gehen und die beabsichtigte Stimmung großartig aufbauen. Auf der anderen Seite mag ich auch die Klare-Kante-Ansage-Ästhetik von Songs wie Edgelord oder Tracks wie Claras Verhältnis, in denen sich Juse kritisch selbst betrachtet. Wenn man hinzunimmt, dass Millenium in Sachen Features einen großen Satz nach vorne macht (besonders die Parts von Milli Dance, Bonzi Stolle und Mädness sind beeindruckend) und es einige fantastische Instrumental- und Sample-Entscheidungen (Sayonara, Ich hasse Autos, Model in Tokio) gibt, geht diese Platte generell den richtigen Weg. Leider aber nicht, ohne dabei viele grobe Schnitzer und stilistische Fragezeichen aufzuwerfen, die das ganze auch ein bisschen ruinieren. Wobei das offensichtlichste jene Songs wie Sayonara oder der Titeltrack sind, die die Ästhetik des Vorgängers etwas zweckmäßig an den Haaren herbeiziehen. Gerade bei vielen autobiografischen Titeln hier habe ich nicht das Gefühl, wirklich so sehr in die Story einzutauchen wie zuletzt und leider sind mir einige der Tracks diesmal auch ziemlich egal. Dazu sind die Hooks der meisten Songs etwas mittelmäßig und bei einigen Stücken wie Model in Tokio oder Ich hasse Autos frage ich mich ernsthaft, warum das jetzt wichtig war. Obwohl Shibuya Crossing stilistisch und qualitativ auch ein bisschen streute, hatte ich dort zumindest das Gefühl, dass immer eine wichtige Motivation hinter jedem Track steckte und es etwas spannendes zu hören gab. Hier gibt es das manchmal, aber eben auch ein bisschen unnötiges Füllmaterial sowie Geschichten, die man gefühlt schon kennt. Was in anbetracht dessen, dass Millenium fast zehn Minuten kürzer ist als sein Vorgänger, schon ein bisschen schade ist. Zwar ändert ein Album wie dieses nichts daran, dass Juse Ju einer der coolsten und schlausten Rapper der aktuellen Deutschrap-Landschaft bleibt, der wichtige und notwenige Aussagen treffen kann, doch ist gerade das irgendwie auch der springende Punkt: Bei ihm hatte ich immer den Eindruck, dass man sowieso mehr erwarten kann als vom Durchschnitt und so gut Shibuya Crossing auch war, seinen künstlerischen Höhepunkt sehe ich noch ganz woanders. Weshalb eine Platte wie diese für mich persönlich etwas in die falsche Richtung geht und ihn ein wenig unter Wert verkaufen. Soll eigentlich nur heißen: Dieser Typ kann noch so viel besser sein, wenn er will.


Hat was von
Marteria & Casper
1982

Pöbel MC
Bildungsbürgerprolls

Persönliche Höhepunkte
Edgelord | TNT | MTVs Most Wanted | Unter der Sonne

Nicht mein Fall
Kranich Kick

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