Mittwoch, 17. Juni 2020

Keine Angst vor Romantik



[ romantisch | folkloristisch | pittoresk ]

Ich kann es einfach nicht anders sagen: Die Diskografie von Stephen Wilkinson aka Bibio ist mit ziemlicher Sicherheit eine der schönsten musikalischen Entdeckungen, die ich in den letzten drei Jahren gemacht habe und bei der sich ein freundlicher Geheimtipp mal richtig gelohnt hat. Zwar bin ich auf dem heutigen Stand noch immer weit davon entfernt, mich im Katalog des Briten wirklich auszukennen und dessen unglaubliche Vielfalt vollends zu fassen, doch zumindest über seine letzten beiden Alben kann ich vorbehaltlos sagen, dass ich sie ziemlich mag. Vor allem Phanton Brickworks, meinen Erstkontakt mit Bibios Output im Herbst 2017, kann ich an dieser Stelle noch immer sehr empfehlen, obwohl dieser mit seiner deutlichen Ambient-Ausrichtung für diese Besprechung eher nicht von Bedeutung sein wird. Denn wenn wir uns die jüngste klangliche Phase des Briten ansehen, ist vor allem dessen letzte LP Ribbons und seine damit verbundene neue Affinität für englischen Folk relevant. Wobei auch die nicht komplett neu ist. Schon Ende der Nullerjahre, als Bibio erstmals größere Aufmerksamkeit generierte, tat er das als Verteter der damals gerade sehr coolen Indietronic-Welle um Künstler wie Fout Tet und Bonobo, denen er stilistisch sehr nahe stand. Und obwohl das schon damals zeigte, wie erpicht er darauf war, seinen elektronischen Basis-Sound mit allerlei exotischem Zeug zu verbinden, ist sein aktueller Ansatz nochmal ein völlig anderer. Man könnte im Prinzip sagen, dass Wilkinsons von Folk-beeinflusstem Elektropop zu elektronisch beeinflussten Folk übergegangen ist, denn von allen Künstler*innen seiner Zunft ist er meiner Meinung nach derjenige, der den traditionellen Teil seiner Musik am meisten Ernst nimmt. Für ihn reicht es schon lange nicht mehr, eine bescheidene Akustikklampfe in einen minimalistischen Beat einzupflanzen und das dann als "Folktronica" zu verkaufen, er will der Sache auf den Grund gehen. Auf Ribbons erweiterte er dabei vor allem erstmal sein Instrumentarium um haufenweise altmodisches Zeug wie Geigen, Mandolinen und Flöten, die er spätestens hier auch ziemlich raffiniert einsetzt. Wobei diese Verbeugung, die er vor allem vor englischer Volksmusik macht, immens viel Platz einnimmt. Wo man auf dem Vorgänger zumindest meistens noch deutlich einen elektronischen Beat oder einen Keyboard hörte, scheint er diesen Part hier mehr oder weniger ad acta gelegt zu haben, zumindest was das wesentliche Songwriting betrifft. elektronische Elemente gibt es hier nac wie vor, doch meistens eher als kompositorisches Schmuckwerk oder nachträglich eingebaute Tricksereien. Die Basis ist fast gänzlich analog. Und nicht nur das: Ästhetisch orientiert sich hier einiges an klassischen Renaissance-Motiven und sehr traditionellen Einflüssen. Was zusammen mit den eingestreuten Field Recordings von plätschernden Bächen und singenden Vögeln eine Wirkung ergibt, die extrem romantisch und pittoresk ist. Ganz unmittelbar fühle ich mich dadurch oft an das großartige Album I Will Be A Pilgrim von Arch Garrison erinnert, das ebenfalls romantische Elemente aus der klassischen Gitarrenmusik mit Synthpop verband, dabei aber eher aus der Folk-Richtung kam. Was letztendlich vor allem eins bedeutet: Sleep On the Wing kann mitunter recht kitschig werden. Viele der Stücke hier haben mehr als ein bisschen die rosarote Brille auf und Dinge wie das fast schon nach Mittelaltermarkt anmutende Awpockes oder die schreittanzigen Klatsch-Effekte in Miss Blennerhassett muss man definitiv nicht unbedingt mögen. Für jemanden wie mich allerdings, der ruhig eine Kitsch-Schippe extra vertragen kann und der in gewissen Momenten findet, dass Mittelalterrock zu unrecht verpönt sei, ist das hier eine kleine Offenbarung. Zwar ist Sleep On the Wing letztlich nur knapp 30 Minuten lang und hält sich mit großen Eskapaden zurück, doch erzeugt es dennoch eine Atmosphäre, die wunderbar sommerlich und - nun ja - einfach romantisch daherkommt. Und wenn das technisch und kompositorisch so gut gemacht wird wie hier, dann soll mir das auch recht sein. Besser als das neue Four Tet-Album ist es zumindest allemal.


Hat was von
Arch Garrison
I Will Be A Pilgrim

Villagers
Awayland

Persönliche Höhepunkte
Lightspout Hollow | Oakmoss | Miss Blennerhassett | the Milky Way Over Ratlinghope | Awpockes | Watching Thus, the Heron is All Pool

Nicht mein Fall
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