Freitag, 20. März 2020

Die Schönheit der Chance

 [ indietronisch | vielseitig | chaotisch ]

Im Jahr 2020 muss es jemand wie Kieran Hebden in der Electronica-Szene eigentlich niemandem mehr beweisen. Mit inzwischen über zwei Dekaden an musikalischer Erfahrung und seinem Status als Erfinder des Folktronica ist er rückblickend eine der großen Koriphäen des Hipster-Elektro der Zwotausender und ein klassischer Kritikerliebling. Und es ist daher auch ziemlich klar, dass sein künstlerisches Zenit bereits vor Jahren überschritten wurde. Legendäre Platten wie Rounds oder There is Love in You macht der Produzent aus London seit langem nicht mehr und zumindest während der letzten Dekade war sein Output in meinen Augen doch eher durchwachsen. Mit Beautiful Rewind oder New Energy gab es zwar durchaus einige ziemlich gute Projekte von ihm, andere wie Morning/Evening lösten aber auch viele Fragezeichen bei mir aus und obwohl ich seiner Musik, die ich ja erst nach 2010 so richtig kennenlernte, dadurch prinzipiell zugeneigt wurde, ist sie doch nicht mehr im Ansatz so großartig wie sein Ruf als brillianter Indiedarling. Und gerade eine LP wie Sixteen Oceans zeigt an dieser Stelle auch mal wieder, wie sehr sich das kompositorische Konzept des Briten inzwischen abgenutzt hat. Dabei sah es zuletzt ja eigentlich ziemlich gut aus für ihn. Nach einigen sehr ruhigen Jahren und ein paar sehr unbefriedigenden kleinformatigen Releases zur Mitte der letzten Dekade war es 2017 New Energy, das endlich wieder wie ein richtiges Album klang und Hebden aus seiner gefühlten Krise herauskatapultierte. Und zumindest für einen Moment schien es, als wäre Four Tet in einer neuen Bestform angekommen. Wie aber die Erfahrungen vor dieser LP bereits zeigten, hat auch danach nichts in seiner Welt so wirklich Bestand und der Brite stellt drei Jahre später eine seiner wohl bisher schwächsten Platten vor. Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein Widerspruch erscheinen mag, denn stilistisch ist Sixteen Oceans seinem Vorgänger sehr ähnlich. Auch hier sucht Hebden eine ausgewogene Balance zwischen Atmosphärik und Rhythmik, ist etwas technoider unterwegs als früher und dekoriert das alles natürlich mit jeder Menge organischen Samples. Der Unterschied ist diesmal jedoch, dass seine Arrangements nur selten jene Tiefe und Tragweite haben, die New Energy so cool machten. Wo der Vorgänger seine Stärke vor allem in ausführlich komponierten und klanglich vielseitigen Langstücken fand, gibt es hier viele zwei- bis dreiminütige Tracks, die lediglich Blitzlichter einer musikalischen Idee darstellen und dabei sehr häufig wechseln. Zumeist gibt es dabei pro Song nur ein richtiges Motiv, das sich häufig kaum entwickelt und daher nie so wirklich zur Geltung kommt. Viele Nummern hätten dabei eventuell auch das Potenzial, sehr viel besser zu sein, geben sich aber zu wenig Zeit und Raum, um das auszubauen, was sie anfangen. Selbst der längste Titel Love Salad kommt in seinen siebeneinhalb Minuten nicht so richtig aus dem Leim und versackt irgendwo zwischen ödem Geblubber und einer sehr dilletantischen Ausführung von Indietronic. Und oft wirkt das so, als hätte Hebden hier einfach keine Idee, was er so richtig machen will. Es gibt Tracks wie Insect Near Piha Beach oder Baby, die sehr elektronisch und fast clubbig sind, dann wieder ambiente Stücke wie 4T Recordings oder ISTM und am Ende sogar eingeschleuste Field Recording-Experimente und Synth-Daddeleien wie Bubbles at Overlook 25th March 2019 oder Harpsichord. Viele Grundideen sind dabei nicht mal übel, man hat aber erstens nicht das Gefühl, dass sie mit großer Sorgfalt aufbereitet wurden und zweitens das Problem, dass sie alle auf diesem Album zusammengepfercht wurden und sich so gegenseitig ausdividieren. Und so ist das Dilemma hier am Ende gar nicht, dass viele Songs vom Konzept schlecht wären, sondern eher dass sehr wenig davon bei mir hängenbleibt. New Energy hatte diese großen, bedeutungsschwangeren Cuts wie Planet oder Two Thousand Seventeen, an die ich mich heute noch erinnere, das meiste hier hingegen habe ich vergessen, sobald der nächste Track läuft. Und obwohl das im Ambient-Pop nicht immer heißt, dass er deshalb gleich mies ist, empfinde ich es doch als großen Rückschritt. Sixteen Oceans ist in meinen Augen damit vor allem ein Indiz für die qualitative Wechselhaftigkeit, die Hebden in seiner Musik mittlerweile an den Tag legt und dass man bei ihm nicht mehr weiß, was man eigentlich erwarten soll. Wenn man es positiv betrachtet, bedeutet das zumindest, dass es bei ihm auch weiterhin spannend bleibt. Auch wenn es gerade nicht so sehr danach klingt.



Hat was von
Ozy
Distant Present

Aphex Twin
Selected Ambient Works Pt. 2

Persönliche Höhepunkte
Baby | Insect Near Piha Beach | Bubbles at Overlook 25th March 2019 | 4T Recordings

Nicht mein Fall
Harpsichord | ISTM


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