Mittwoch, 25. März 2020

Klassische Eleganz

 [ dynamisch | verspielt | klassisch ]

In ein paar Monaten werden es nun schon vier Jahre, in denen die Welt auf ein neues Album der großartigen kanadischen Jazz-Visionäre Badbadnotgood wartet. Und mehr und mehr sieht es dabei so aus, als wäre die kleine gemeinsame Schaffenspause, die Band nach ihrer letzten LP IV einlegte, kein kurzer Verschnaufer, sondern tatsächlich eine ernstzunehmende Stilllegung des Projekts. Denn je mehr Zeit seitdem vergangen ist, desto mehr haben sich die einzelnen Mitglieder des Quartetts in diverse Nebenprojekte verwachsen und von der gemeinsamen Sache entfernt. Zwischen 2016 und 2019 entstanden insgesamt vier Seiten- und Soloprojekte im Dunstkreis von BBNG (von denen ich Idiot natürlich über kein einziges geschrieben habe), wobei diese musikalisch teilweise sehr wenig mit dem Output der Hauptband gemein hatten. Und natürlich ist das alles gut und richtig und die Kinder sollen schließlich auch mal außerhalb der immer gleichen Gruppe ihren Spaß haben, aber nach so langer Zeit beginne ich doch sehr, die gemeinsamen Unternehmungen der Kanadier zu vermissen. Weshalb es schön ist, dass es jetzt eine Platte wie Visions gibt, auf der gezeigt wird, dass ein erneutes Zusammenkommen der Bandmitglieder auch in anderen Kontexten funktionieren kann als im großen Quartett. Mit Saxofonist Leland Whitty und Pianist Matthew Tavares sind hier immerhin 50 Prozent der letzten aktiven Besetzung von BBNG versammelt (Tavares ist seit 2019 offiziell nicht mehr Teil der Gruppe), was immerhin die wichtigsten Positionen für eine gute Jazzplatte ausfüllt. Und weil es sich bei den beiden zudem um sehr überdurchschnittlich begabte Multiinstrumentalisten handelt, bleibt es dabei auch nicht. Zu hören sind auf Visions neben dem klassischen Trio aus Schlagzeug, Piano und Saxofon auch zahlreiche Streicher, Flöten, Bass, Gitarre und unter Umständen auch einige Synthesizer (bei letzterem bin ich mir nicht zu hundert Prozent sicher). Aber obwohl die elf Songs damit sehr breit gefächert sind und ihre Interpreten zur Riege der progressiven Vorreiter des modernen Jazz gehören, sollte man hier nicht den Fehler machen, ein Album im klanglichen Kosmos von Badbadnotgood zu erwarten. Denn die Kanadier sind zwar auf der einen Seite diese junge wilde Band, die spannende und nerdige neue Perspektiven auf vieles bietet, im Kern sind sie dabei aber immer Bewunderer der Klassiker gewesen und ließen das bisweilen auch auf ihren Platten durchblicken. Visions ist außerhalb des Band-Gefüges nun eine LP, die dieser Verehrung den größtmöglichen Platz einräumt und in vielen Hinsichten eine Verbeugung vor den Genre-Epigonen der Fünfziger und Sechziger ist. Auf den elf Songs hier hört man deutlich die Einflüsse eines John Coltrane, Thelonious Monk, Ahmad Jamal, Miles Davis oder Bill Evans und bekommt umfassend den Eindruck einer vergleichsweise traditionellen und unverfälschten Bebop- und Cool Jazz-Darbietung. Und obwohl sowas für zwei Mitglieder von BBNG wahrscheinlich den Charakter von Übungsstücken hat, steckt doch sehr viel Mühe und Leidenschaft in dieser LP. Allein die großartige Dynamik vieler Titel hier ist ungemein faszinierend und sorgt hier für ein klangliches Erlebnis, das nicht nur schöne Ästhetik und entspannten Vibe verbreitet, sondern tatsächlich spannend ist und jede Menge Spaß macht. Es gibt schmissige Bebop-Knaller wie die beiden Symbols of Transformation-Teile, sinfonische Balladen wie Eyes und Living Water Assembly, die sehr an Bill Evans erinnern und einige sehr experimentelle Jams wie Black Magic, die mit Elementen aus akustischem Folk und moderner Popmusik spielen. Wobei die wenigsten Songs sich auf eine dieser Charaktere beschränken: Fast alle Stücke sind mehrteilig angelegt und winden sich in ausgedehnten Spielzeiten von einem Extrem ins andere. Höhepunkt ist der zentrale Song der LP, Visions of You, in dem Tavares und Whitty in elf Minuten so ziemlich alle Register ihres Könnens ziehen. Und spätestens hier muss man auch über die grandiose technische Komponente von Visions reden. Insbesondere Whitty zeigt sich auf diesem Album wieder und wieder als spielerischer Tausendsassa, der aus jedem seiner Instrumente etwas ganz besonderes herausholt. Seine Gitarrenparts haben haüßig etwas rockiges, seine Flötensoli sind herrlich atmosphärisch und vor allem Saxofon spielt er wie ein junger Gott. Sein Kollege mag ja ebenfall extrem talentiert sein und hier eine mehr als solide Basisarbeit leisten, aber der Star auf dieser Platte heißt eindeutig Leland Whitty. Und er sorgt quasi fast im Alleingang dafür, dass das hier nicht nur eine ganz nette Hommage an die alten Helden des Jazz-Pantheons wird, sondern ein sehr besonderes und tolles Album mit viel Energie und Charakter. Es muss schon etwas an sich haben, wenn es ein eigentlich so tradiertes und wenig innovatives Konzept wie das von Visions für mich auf einer Stufe mit den besten Sachen von BBNG steht, die ja immerhin zu den wesentlichen Erneuerern ihrer Zunft gehören. Und am Ende sind es wenig mehr als Details, die das hier so unglaublich klasse machen. Aber gerade bei zwei Musikern wie diesen ist genau das auch interessant: Hinter die Kulissen der Progressivität zu blicken und zu sehen, woher sie das alles haben und wie sie auf einem Album mal ganz ungezwungen ihren Leidenschaften fröhnen. Und solange das nicht dazu führt, dass sie den innovativen Part der Sache komplett außen vor lassen bin ich dafür auch gerne öfter zu haben.


Hat was von
the Cannonball Adderley Quintet
At the Lighthouse

John Coltrane
Olé Coltrane

Persönliche Höhepunkte
Through the Looking Glass | Woah | Blue | Symbols of Transformation Pt. 1 | Visions of You | Heat of the Moon | Symbols of Transformation Pt. 2 | Living Water Assembly

Nicht mein Fall
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