Mittwoch, 25. Januar 2023

Songs für die Ewigkeit: Beezy tritt aufs Gas

LGoony - Grape Tape
SONGS FÜR DIE EWIGKEIT
LGOONY feat. MONEY BOY
Lambo Gallardo
aus dem Mixtape Grape Tape
2015








 
 
Es braucht bei mir manchmal ein bisschen um mich zu erinnern, dass der coolste Rapper Deutschlands tatsächlich mal auf den Namen Ludwig Langer hörte und es eine Zeit gab, in der das Prädikat "deutschsprachiger Trap" noch ernsthaft verheißungsvoll klang. Ich will an dieser Stelle nicht missgünstig oder zynisch gegenüber den heutigen Strömungen des Genres klingen und es gibt unter den aktuellen Acts aus diesem Bereich sicherlich viele krass talentierte Künstler*innen, doch ist es in meinen Augen einigermaßen bemerkenswert, wie durchweg großartig zwischen 2014 und 2017 die erste Welle des hiesigen Ablegers des US-Trends war und wie wenig Mist dieser doch produzierte. Angeführt und quasi komplett ausgestaltet von gerade Mal einer Handvoll Rapper*innen, die allesamt unfassbar cool waren und mit viel Leidenschaft und Charakter bei der Sache waren, entstand in dieser Zeit ein wahnsinnig stilsicherer erster Entwurf von Traprap aus Deutschland, der noch nichts von der massenproduzierten Sexismus-Namedropping-eingekaufte Features-Mischpoke hatte, die schon wenig später das Geschehen dominierte. Und vielleicht liegt es ja daran, dass man mit so einem Sound um 2015 herum eh noch kein Geld machen konnte oder Leute wie Crack Ignaz, Yung Hurn, Haiyti oder Young Krillin einfach übelste Freaks waren, doch ist die Spannung und die Qualität, die diese Stilistik von Hiphop zu dieser Zeit hatte, seitdem nicht mehr erreicht wurden. Auch nicht von denen, die zu ihren Pionieren gehörten, weswegen ein Album wie Grape Tape und viele der Songs darauf für mich heutzutage wie eine Zeitkapsel funktionieren. Dass ich statt Lambo Gallardo auch über zahlreiche andere Tracks dieser Platte sprechen könnte, möchte ich dieser Besprechung also schonmal voranstellen, weil er nur einer von vielen Lieblingsstücken von mir darauf ist. Was aber natürlich nicht heißt, dass er nicht trotzdem eine besondere Rolle auf diesem Mixtape und vielleicht sogar in der gesamten damaligen Szenelandschaft einnimmt. Denn vor allem eine Sache an diesem Song hat rückblickend ein kleines bisschen eine historische Bedeutung: Das Feature von Money Boy und wie Lambo Gallardo mit ziemlicher Sicherheit einer der Tracks war, der sein Ansehen im Hiphop entscheidend veränderten. Wobei diese Veränderung mit seinem eigentlich Part eher wenig zu tun hat. 
 
 
 
Wie auf den meisten seiner anderen Stücke performt MBeezy hier seinen üblichen Quark über amerikanische Sportstars, Autos, Kohle und Sex, den er mit den wie üblich komplett abgefuckten Onelinern garniert ("Mein Dick ist groß Motherfucker / wie das Gegenteil von klein") und ein bisschen wirkt das ganze ehrlicherweise auch einstudiert und zurechtposiert (was bei diesem Typen ja nicht unbedingt negative Kritik bedeutet). Was es aber so speziell macht ist der Raum, in dem der Österreicher hier zum ersten mal wirklich als Pionier einer Stilistik ernstgenommen wird und für seinen Host LGoony letztlich zu so etwas wie einem geistiger Vater avanciert. Denn obwohl es auch 2015 schon Sachen wie die Glo Up Dinero Gang gab und ein paar kunstige Kandidaten wie Kurt Prödel ihn auf dem Schirm hatten, war Sebsatian Meisinger damals zu großen Teilen noch der Typ von Dreh den Swag auf und damit eher eine ziemlich Lachnummer, die nichts mit "richtigem Hiphop" zu tun hatte. Dass er für genau für diesen Hiphop im deutschsprachigen Raum aber eine ähnliche Rolle einnahm wie in den USA ein Lil B, also mit selbstgemachten, amateurigen Musikvideos aus dem Internet bekannt wurde und damit viele beeinflusste gleiches zu tun, erkannten damals nur wenige. Zum Beispiel eben jemand wie LGoony, der sich genau in diesen Wirrungen der Szene in den Staaten auskannte und jene Art dauerhaft vernetzter Persona hatte, die solche Parallelen checkt. Im übrigen genauso wie Haiyti, die ebenfalls bereits 2015 mit dem Österreicher kollaborierte und hier zumindest eine ehrenhafte Widmung verdient hat. Lambo Gallardo ist für mich allerdings vor allem deshalb der representativere Song, weil LGoony zu diesem Zeitpunkt in seiner Bubble schon etwas größer war und ihr gemeinsamer Track letztlich auch in Sachen Produktion ein bisschen mehr High-End ist. Vor allem ist es aber auch der weitaus bessere Song, der durchweg von den Qualitäten profitiert, die auf dem gesamten Grape Tape omnipräsent sind: Völlig entfesselter Materialismus, ein hymnischer Poptrap-Beat, der raptechnische Doppelwumms aus gesungener und gerappter Strophe nach dem ersten Refrain und natürlich eine dieser absolut grandiosen Megahooks, die LGoony damals noch endlos vom Stapel ließ. Auch dass MBeezy hier eben direkt den ersten Part übernimmt und damit in der Trackslist des Albums völlig aus dem Nichts kommt, ist eine coole Sache, gerade weil er einer der ganz wenigen offiziellen Gäste auf dem Tape ist. Und obwohl ich definitiv nicht so weit gehen würde, Lambo Gallardo als Klassiker oder weltverändernden Song zu bezeichnen, ist er doch einer von vielen kleinen Schritten in der immerwährenden Metamorphose des Deutschrap. Und dabei auch noch ein absolut fantastischer.



Freitag, 20. Januar 2023

Die (Drei-)Wochenschau (1.1.-20.1.2023): Keine besonderen Vorkommnisse




Iggy Pop - Every LoserIGGY POP
Every Loser
Gold Tooth | Atlantic

Es schmerzt mich wirklich, das neue Jahr mit einer so negativen Breitseite beginnen zu müssen und ist nochmal extra tragisch, weil ich mich auf die neue LP von Iggy Pop ja wirklich gefreut habe. Doch so ehrlich muss man sein: Mit Ruhm beklecktert sich der Großvater des Punkrock hier nicht. Schlimmer noch, denn nachdem schon sein letztes Album Free von 2019 ein echter Totalausfall war, tut Every Loser es ihm in vielen Punkten quasi gleich und präsentiert eine Platte voller fehlgeleiteter Energie und mangelhafter Durchführung. Wobei die Probleme sich hier durch alle Ebenen ziehen: Schon im Songwriting sind viele Momente hier sehr billig zurechtgeschustert, wobei Iggys leidliche Fähigkeiten als Texter nicht gerade helfen. Und was dann wie das eigentlich okaye New Atlantis oder Morning Show noch an halbwegs gescheiten Ideen übrig ist, wird durch eine extrem uninspirierte und dämliche Produktion zunichte gemacht. Negative Highlights sind dabei für mich das prätenziöse Comments, das extrem grobschlächtige Modern Day Ripoff sowie das eigentlich okaye My Animus, das sein Gitarrenmotiv aber kackendreist bei Mogwais Hunted By A Freak abkupfert. Unterm Strich also leider ein weiteres ziemlich desaströses Album für Iggy, mit denen er hier traurigerweise langsam in Serie zu gehen scheint. 

🔴🔴🔴⚫⚫⚫⚫ 03/11





William Ryan Fritch - PolarityWILLIAM RYAN FRITCH
Polarity
Lost Tribe Sound


Um Ermüdungserscheinungen mit dem Sound von William Ryan Fritch vorzubeugen, lasse ich die meisten seiner atmosphärischen Filmscore-Arbeiten, die es von ihm mitunter fast im Quartalstakt gibt und die quasi alle gleich klingen, meist direkt links liegen und fokussiere mich lieber auf seine "richtigen" Alben, in diesem Fall wollte ich dann aber doch eine Ausnahme machen. Erstens weil Polarity nun tatsächlich das erste Projekt ist, dass der hyperaktive Klangtüftler aus Oakland seit einer ganzen Weile gemacht hat (die gesamte letzte Saison über gab es kein neues Material, seine letzte LP war vom November 2021), zweitens weil es stilistisch doch mehr zu werden versprach als bloß eine schnöde Austragsarbeit. Nachdem Fritch in den vergangenen Jahren schon Experimente mit Jazz und sogar lateinamerikanischer Musik erstaunlich gut gelungen waren, befindet er sich hier ein weiteres Mal ein bisschen auf neuem Territorium. Zwar nicht so sehr wie auf the Letdown von 2020, das viel mit besagten Jazz-Elementen spielte, aber schon so, dass man sich erstmal ein bisschen umhören muss. Im Gegensatz zu seinen sonst so flirrend-folkigen Kokophonien baut er hier einen sehr entschleunigten und minimalistischen Sound zurecht, der diesmal auch wirklich mit beiden Füßen im Bereich des Ambient steht. Dass es dabei auch vorsichtige synthetische Anklänge gibt (so zumindest interpretiere ich manche Sounds auf der Platte) ist außerdem spannend. Und es passt letztlich auch deshalb, weil Fritch diesmal Musik für eine Doku macht, die sich mit den Folgen des Klimawandels in der Arktisregion auseinandersetzt und dann eben auch entsprechend düster und unterkühlt klingt. Ganz unabhängig davon (und ein guter Soundtrack funktioniert in meinen Augen unabhängig von seinem visuellen Konterpart) macht er damit aber auch mal wieder eines seiner richtig guten Alben und vielleicht sogar meine erste Lieblingsplatte in der neuen Saison.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11




OBITUARY
Dying of Everything
Relapse

Obituary - Dying of EverythingMit Obituary haben wir im Januar 2023 noch eine dieser Death Metal-Legenden von Anno Dazumal auf dem Plan, die es hier mit einem relativ spät in ihrer Karriere veröffentlichten Album schaffen, mich nochmal richtig zu beeindrucken und dabei nicht viel neu oder besonders zu machen, aber sich doch zum wiederholten Mal als rechtmäßiger Klassiker zu präsentieren. Und in der kurzen Zeit, die Dying of Everything draußen ist, hat es sich schon als echter Grower erwiesen. Den grobschlächtigen und sehr trockenen Sound, den ich zunächst so gar nicht mochte, haben mir Obituary am Ende doch noch sehr effektiv verkauft und schaffen hier mit fantastischem Songwriting und tollenweise starken Hooks und Soli einen echten Dampfhammer von einer LP. Genau so, wie ich meinen klassischen Death Metal am liebsten mag.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11



Don Bolo - Desde Mi PrivilegioDON BOLO
Desde Mi Privilegio
BlowJob Records


Schon auf dem Vorgänger Bahamut vom letzten Winter beeindruckte mich diese Formation aus Ecuador mit ihrer extrem weirden Mischung aus Avantgarde-Prog, Jazz-Fusion und Punkrock, die nun ein Jahr später wieder da ist, sich an bestimmten Punkten aber auch signifikant verändert hat. Denn anstatt eines wüst-progressiven Nerdcore-Konstrukts machen Don Bolo 2023 eher ein rotziges Hardcore-Album, das an seiner Oberfläche sehr an Acts wie die Bad Brains, frühe Turnstile-Sachen oder Mr. Bungle erinnert. Natürlich wäre es aber nicht Don Bolo, wenn nicht auch nebenher total viele seltsame Sachen passieren würden, die sich hier unter anderem in den Dub-Einschlägen des Titeltracks, dem Doom- und Black Metal-infizierten Ungoliant oder dem Goregrind-mit-Ska-Elementen-Chaos von Lamento Ecuatoriano offenbaren. Dass die Gruppe hier ein weiteres mal einen Hingucker produziert hat, lässt sich also nicht bestreiten und auch wenn ich bei alledem nicht sagen würde, dass er ohne kleinere Schönheitsfehler über die Bühne geht, bin ich ob dieses Albums doch nur noch neugieriger über diese Band geworden. Und auf jeden Fall ist es schade, wie wenige Leute gerade noch über sie sprechen.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11




Mittwoch, 18. Januar 2023

Review: Rhythm is It

Sheila Jordan - Portrait of Sheila
SHEILA JORDAN
Portrait of Sheila
Blue Note
1963













[ sanft | minimalistisch | nokturnal ]

Ich bin ja normalerweise jemand, der seinen Jazz gerne ein bisschen flamboyant mag und aufbrausende Bombast-Platten mit großzügiger Big Band-Begleitung, klassizistischen Verquickungen, Fusion-Elementen oder wenigstens abgefahrenen Soli stets der minimalistischen und ätherischen Grundlagenarbeit vorziehe, wie es sie gerade in der Cool Jazz-Bewegung der späten Fünfziger und frühen Sechziger nur zu zahlreich zahlreich gibt. Und als Faustregel für mein Verhältnis zu solchen Projekten kann ich schon irgendwie sagen, dass proportional zur Anzahl der beteiligten Musiker*innen auch meine Begeisterung dafür steigt. Weil Ausnahmen aber wie immer die Regel bestätigen, möchte ich euch an dieser Stelle eines meiner liebsten Alben vorstellen, das genau das nicht tut und eben gerade dadurch glänzt, wie wenig es von all seinen Beteiligten ausgeschmückt wird. Wobei die Person auf dem Cover für dieses Glanzstück ebenso eine wichtige Rolle spielt wie die Performance der Akteure im Hintergrund, die sich in vielen Momenten perfekt ergänzen. Aber eins nach dem anderen und zunächst mal die Fakten: Portrait of Sheila war 1963 das Debütalbum der US-amerikanischen Jazzvokalistin Sheila Jordan, ihrerseits kurzzeige Ehegattin des ebenfalls fantastischen Pianisten Duke Jordan, das gleichzeitig auch ihr letztes bis 1975 bleiben sollte. Und obwohl es dabei beim Branchenriesen Blue Note verlegt wurde, bei dem damals ja diverse namhaften Jazzgrößen zuhause waren und immerhin von Rudy van Gelder als Toningeneur betreut wurde, ist es von der Sache her doch eher ein Projekt der Außenseiter und einer Reihe von MusikerInnen, die im gängigen Kanon des klassischen Jazz keine große Rolle spielen. Dass sie als Band hier trotzdem eine optimale Chemie finden und aus sehr wenig Input sehr viel klangliche Qualität machen können, ist in meinen Augen aber nicht von der Hand zu weisen. Von Jordan ursprünglich als reines Vokalalbum mit Bassbegleitung konzipiert (was Blue Note dann doch etwas zu karg fand und ablehnte) findet sich auf Portrait of Sheila ein Dreigespann gehörig talentierter Instrumentalisten zusammen, die an vielen Punkten gerade dadurch strahlen, dass sie die richtigen Dinge weglassen. Vor allem Denzil Best am Schlagzeug, der für seine spärliche Rhythmusbegleitung fast nur mit Snare und Besen arbeitet, ist für diese ästhetische Umsetzung hauptverantwortlich, während Steve Swallow am Bass und Barry Galbraith an der Gitarre zurückhaltend akzentuieren und oft nur mit wenigen Tönen das auskleiden, was ein Song als Gerüst braucht. Denn wichtigstes und einzig federführendes Melodieinstument ist dann in jedem Moment Jordan als Sängerin, die sich zwischen den seidenen Fäden des instrumentalen Aufbaus ordentlich breit macht und damit ganz und gar genug ist, um mit ihrem Gesang ein vielschichtiges emotionales Spektrum abzudecken. Wo flotte Tracks wie Falling in Love With Love oder Let's Face the Music and Dance von jeder anderen Produktion wahrscheinlich mit aufbrausender Big Band- oder Hardbop-Ausstattung versehen worden wären, glänzen sie hier als reine Rhythmusstücke, mit denen Jordan sich nach Lust und Laune austobt und dabei kein bisschen weniger euphorisch ist als zur gleichen Zeit ein Count Basie mit dreißig Mann. Und wo das schon so fantastisch klappt, ist es natürlich auch kein Wunder mehr, dass die balladeske und entschleunigte Seite der LP mit Songs wie If You Could See Me Now, I'm A Fool to Want You und Willow Weep for Me ebenfalls durchweg überzeugt. Mit Dat Dere (dem einzigen Song, der tatsächlich als reine Bass-Gesangs-Kombination umgesetzt wurde) und Hum Drum Blues finde ich lediglich zwei der ingesamt zwölf Nummern nicht ganz optimal, wobei ich aber auch sie zumindest in der Hinsicht schätze, dass die nochmal ganz andere stilistische Facetten aufmachen und auf ganz eigene Art experimentieren. Womit Portrait of Sheila für mich vor allem ein eindrucksvoller Beweis dafür ist, wie wenig es manchmal braucht, um einen richtig guten Song zu schreiben und wie viel davon allein durch eine Gesangsperformance getragen werden kann. Zu schade, dass es Sheila Jordan in den Folgejahren nicht gelang, genau daran anzusetzen und diese Art von Minimalismus erfolgreich weiter zu erforschen. Denn selten hat Minimalismus im Jazz in meinen Augen so aufregend funktioniert wie auf dieser LP.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Falling in Love With Love | If You Could See Me Now | Am I Blue | When the World Was Young | Let's Face the Music and Dance | I'm A Fool to Want You | Willow Weep for Me

Nicht mein Fall
Dat Dere


Hat was von
Anita O'Day
And Her Tears Flowed Like Wine

Wes Montgomery
the Incredible Jazz Guitar of Wes Montgomery


Samstag, 14. Januar 2023

Review: Embryonale Schwärze

God Speed You Black Emperor! - All Lights Fucked on the Hairy Amp Drooling
GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR
All Lights Fucked On the Hairy Amp Drooling
Die-Ai-Wei
1994/2022
 








[ experimentell | klangcollagig | dreckig ]

Auf die Gefahr hin, mich jetzt mal wieder als schlechter Fan zu outen und das wenige bisher von mir über dieses Album gesagte direkt wieder zu diskreditieren: Ich muss gestehen, dass es dann doch ganz schön lange gedauert hat, bis ich die vorliegende Platte vollständig gehört hatte und wirklich bereit war, mir darüber eine Meinung zu bilden. Denn obwohl ersteres natürlich mein unmittelbarer Instinkt war, als ich erfuhr, dass sie nun doch endlich draußen war und der Leak sogar von der Band verifiziert war, wollte ich mir die Illusion des legendären, die dieser LP anhaftete, vielleicht doch nicht direkt mit zu viel Realität verbauen. Selbst wenn Godspeed You! Black Emperor nicht eine meiner absoluten Lieblingsacts wären und mir ihre Musik weniger bedeuten würde, wäre das hier sicherlich eine der größten musikalischen Entdeckungen in der Welt der alternativen Musik seit Ewigkeiten, der man irgendwie mit gebührendem Respekt begegnen muss. Einfach schon deshalb, weil sich um diese Platte in den letzten 25 Jahren so viele Mythen rankten und es häufig nicht mal ganz klar war, ob denn nun überhaupt noch Exemplare davon existierten. Was es umso erstaunlicher macht, dass ebenjenes im vergangenen Februar geleakte Material so lange brauchte, um letztlich doch noch an die Oberfläche zu driften. Aber für alle uneingeweihten sollte ich die Geschichte dieses Albums vielleicht nochmal ganz von vorne erzählen, die ganz bescheiden im Jahr 1993 mit einem frankokanadischen Punk namens Efrim Manuel Menuck beginnt. Dieser ist damals der einzige, der personell hinter dem Projektnamen Godspeed You! Black Emperor (oder wie in damaliger Punktuation God Speed You Black Emperor) steht und im stillen Kämmerlein an allerlei frankensteinesken Klangexperimenten tüftelt , mit denen er letztlich - gemeinsam mit seinen Kumpels Mike Moya und Mauro Pezzente - eine Demokassette füllt und bei Shows an ein paar Freund*innen verkauft. 33 davon sollen ursprünglich existiert haben, weil Menuck sich damals ganz einfach nicht mehr leisten kann, was für nischige DIY-Punkprojekte ja bis heute gängige Praxis ist. Weil sein Projekt in den nächsten Jahren aber kein solches bleiben wird, sondern sich bis zum Ende der Neunziger zu einer der wichtigsten Speerspitzen der neuen Instrumentalrock-Bewegung mausert, wird das erste Tape, das nur wenige wirklich gehört haben, schnell zur Legende. Lange heißt es, dass Originale nur noch in den Archiven vom neuen Godspeed-Label Constellation und wahrscheinlich bei den Bandmitgliedern in der Nachttischschublade existieren und als 2013 erstmals ein Leak von Teilen der LP aufploppt, verunglimpfen viele diesen als Fake. Menuck selbst beurteilt die Sache wie immer notorisch nüchtern und spricht in den seinen wie üblich rar gesäten Interviews davon, dass er einen vollständigen Leak eigentlich längst erwartet hätte und die Sache ja eh nicht so spektakulär sei, weil das Tape kaum nach den heutigen Godspeed klänge. Und obwohl letztere Aussage prinzipiell stimmt und All Lights Fucked definitiv in einer anderen Welt stattfindet als ihr "richtiges" Debüt F# A#∞ drei Jahre später, zeigt es doch bereits Teile des Wegs auf, den Menuck mit seinem Projekt in näherer Zukunft gehen wird. Wobei letzteres der Punkt ist, der dieses Material auch aus heutiger Perspektive noch extrem spannen macht. So funktioniert das ganze Konzept dieser Platte zwar eher als wüste Klangcollage, die mehr nach Noise-, Avantgarde-, und komischem Tapeloop-Kram klingt als nach fertigem Postrock und auf der zudem viel gesungen wird, wichtige Grundelemente eines gewissen Sounds finden sich darin dennoch. Und das nicht nur von Godspeed selbst, sondern vor allem auch von seiner Arbeit mit the Silver Mt. Zion und ein bisschen auch von seinen Soloprojekten. Sachen wie die großzügige Verwendung von Sprachsamples, Menucks Texte und vokale Inflektionen, das Denken in mehrteiligen Movements und nicht zuletzt auch ein Verständnis dafür, über lange Spielzeiten hinweg nicht die Zugkraft zu verlieren. Und soviel kann gesagt sein: recht selten begegnet man einem so rudimentär aufgenommenen Demotape, das über eine Dauer von 68 Minuten so abwechslungsreich und spannend bleibt. Was vielleicht daran liegt, dass Menuck schon hier alle Ideen irgendwie ineinander fließen lässt und weniger Songs macht als groteske Klangreisen, die man als ganzes verstehen kann. Und wenn man wirklich nach Parallelen zu späteren Godspeed-Sachen sucht, braucht man hier nicht weiter zu schauen als zu Songs wie Buried Ton, Deterior 17 oder And The Hairy Guts Shine, in denen schon viel von der verdichtet-melancholischen Schwärze heraufbeschworen wird, die ich an seinen späteren Sachen so liebe. Wobei es ein bisschen auch die Unterschiede zu ebenjenen sind, die All Lights Fucked letztendlich besonders machen. Es brauchte für mich nicht viel um zu akzeptieren, dass es sich hier um ein anderes Erlebnis handelt als beim Rest des Godspeed-Katalogs und Dinge wie die opulenten Streicherparts oder die großen instrumentalen Flächen haben mir selten gefehlt. Viel eher mag ich es, dass hier über weite Strecken sehr verdichtet und chaotisch gearbeitet wird und eben auch noch viel rotziger Punk-Spirit Platz hat, den es nachher vielleicht nur noch theoretisch und ideell gab. Sicher sind am Ende so gut wie alle späteren  Platten der Kanadier musikalisch spannender und imposanter als diese hier und selbst gegen ein G_d's Pee at State's End! oder Asunder, Sweet & Other Distress würde ich sie nicht tauschen wollen. Für mich als Nerd ist es aber unglaublich interessant, in dieser Form sozusagen meine Lieblingsband im Embryonalzustand zu sehen und dabei festzustellen, dass ich das hier wahrscheinlich auch gut fände, wenn ich den Rest der Geschichte nicht kennen würde. Letztendlich bin ich also alles in allem sehr froh darum, das hier noch erleben zu dürfen und danke der Magie des Internets, dass sie es möglich gemacht hat. Fehlt jetzt nur noch das offizielle Vinyl-Repressing.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡 08/11


Persönliche Höhepunkte
Drifting Into Open | Threethreethree | When All the Furnaces Exploded | Beep | Glencairne 14 | Loose the Idiot Dogs | Diminishing Shine | Dadmomdaddy | 333 Frames Per Second | Buried Ton | And the Hairy Guts Shine | Deterior 17 | Deterior 3 | No Job / Dress Like Shit | Perfumed Pink Corpses From From The Lips Of Ms. Celine Dion

Nicht mein Fall
-


Hat was von
John Fahey
Requia

Motorpsycho
Demon Box