Mittwoch, 23. Februar 2022

Applaus für den Torero

Miles Davis - Sketches of Spain
BLACK HISTORY MONTH 2022
TEIL 2:
MILES DAVIS
Sketches of Spain
Columbia
1960
 
 
 
 
 
 
 
[ sinfonisch | folkloristisch | filigran | schöngeistig ]

Als ich zu Anfang dieses Jahres beschloss, 2022 eine weitere Besprechungsserie klassischer Alben für den Black History Month zu schreiben und dafür die entsprechenden Platten aussuchte, war es mir schon ein bisschen wichtig, dafür auch vordergründig Platten auszuwählen, die für Geschichte und Identität schwarzer Popmusik eine gewisse Bedeutung haben könnten oder die vielleicht auch eine Art Geschichte erzählten, deren inhaltliches Statement über die eigentliche Musik hinausging und eine gesellschaftliche Relevanz aufzeigten. Und im großen und ganzen schätze ich, dass das auch dieses Jahr wieder der Fall war. Mit Sketches of Spain von Miles Davis jedoch habe ich mich an dieser Stelle dann aber doch für eine Platte entschieden, bei der es einen solchen Überbau nicht gibt und die ich einfach nur deshalb relevant finde, weil sie mir in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen ist und ich unbedingt mal darüber schreiben wollte. Was in diesem Fall vielleicht auch ganz okay ist, denn ihre Relevanz als einer der größten Jazz-Klassiker aller Zeiten und universell beliebtes Meisterwerk seines Schöpfers ist inzwischen ein Bestandteil der Musikgeschichte an sich und damit unbestreitbar historisch verwertbar. Und einflussreich ist es bei alledem sowieso, auch wenn es in keiner Faser seines Daseins explizit politisch ist. Ohnehin eine Sache, für die jemand wie Miles Davis, der Zeit seines Lebens eher nach übernatürlichen Fragmenten und sprirituellen Überbauten in seinem Schaffen suchte, überhaupt nicht passen würde. Sicher gab es auch bei ihm eine Phase zu eine seiner Karriere, in der er sich stark mit Themen der Diaspora und afrikanischer Musik auseinandersetze, allerdings ging es auch da meistens eher um die Vertonung von Sternbildern und eurhythmische Experimente als um normalsterbliche Belange und so richtig scheint heute auch niemand mehr zu verstehen, was er damals eigentlich damit wollte. Weil Davis eben kein Typ für Statements ist, sondern für Stimmungen und es bei ihm manchmal sogar besser ist, das Konzept dahinter nicht ganz nachzuvollziehen, weil dieses eh nur der wunderbaren Musik im Weg steht. Und das ist auf späteren Platten wie Bitches Brew oder Tutu genauso der Fall wie auf dieser LP, die historisch gesehen eine seiner ersten auf diese Art konzeptuellen war und damit aus heutiger Sicht einen wichtiger Umbruch in seiner Karriere bedeutet. Wobei es, um diesen auch zu verstehen, vielleicht nochmal einen Blick auf sein Schaffen kurz davor braucht. Denn auch dieses war zu diesem Zeitpunkt schon ohne Zweifel das eines Vordenkers moderner Jazzmusik und hatte sich vor allem durch Davis' wesentlichen Einfluss auf das Subgenre des Cool Jazz für die Szene verdient gemacht. Noch im Sommer 1959 hatte er gemeinsam mit den heute legendären Künstlern Bill Evans, Cannonball Adderley und allen voran John Coltrane die Sessionplatte Kind of Blue aufgenommen, die heute vielleicht als eines der wichtigsten Jazzalbum aller Zeiten bezeichnet werden kann und weil Davis auch stehts jemand war, der musikalisch nicht nur ein Eisen im Feuer hatte, arbeitete er praktisch simultan an der Realisierung zweier weiterer Platten, die musikalisch nochmal völlig anders gepolt waren. Wo Workin With the Miles Davis Quintet (veröffentlicht im Dezember 1959) dabei ein eher herkömmliches Hard Bop- und Cool Jazz-Projekt mit der mehr oder weniger gleichen Besetzung wie Kind of Blue war, tüftelte er gemeinsam mit Kreativpartner und Arrangeur Gil Evans (nicht verwandt oder verschwägert mit Bill Evans) parallel an einer fast klassisch anmutenden und modalen Platte herum, die sich sich an spanischen Flamenco und Saeta orientierte und vom improvisatorisch-sessionhaften Charakter seiner bisherigen Arbeiten großen Abstand nahm. Denn nicht nur hört man auf Sketches of Spain, dem letztlichen Ergebnis dieser Arbeiten, nicht weniger als ein ganzes Sinfonieorchester, auch ist die komplette Musik dahinter akribisch durchkomponiert. Dass die Songs dabei zum Teil von anderen Komponisten stammten und Davis diese Art von aufwändig arrangierter Musik hier nicht zum ersten Mal macht, ist dabei eher ein trivialer Fakt, denn nicht nur klingt jede Note auf diesem Album wie exklusiv für selbiges geschrieben, auch nimmt das gesamte Projekt klanglich und performativ großen Abstand zur ein Jahr vorher enstandenen und eher biederen Gershwin-Vertonung Porgy & Bess, auf der zum ersten Mal mit arrangierten Instrumenten gearbeitet wurde. Soll heißen, dass sich Sketches of Spain an den meisten Punkten weniger wie ein Album im heutigen Sinne anhört, sondern eher wie eine vierzigminütige klassische Sinfonie mit strategisch gesetzten Jazz-Tupfern fürs Ambiente. Mehr als an irgendeine zeitgenössische Popmusik erinnert das meiste hier an Kompositionen wie Maurice Ravels Bolero oder Stravinskys Le Sacre du Primptems, sowie natürlich an die wesentlich einflussgebenden iberischen Folk-Motive, die ja den thematischen Überbau ausmachen. Wobei letztere im Gegensatz zu vielen Jazzplatten aus den Sechzigern, die Einflüsse aus anderen Teilen der Welt als bloßen exotischen Selling Point verwursteten, hier tatsächlich vor allem strukturell von Interesse sind. Und dass Miles Davis für diese Kompositorik eine tiefe Passion hatte, merkt man hier in so gut wie jeder Faser seiner Performance. Opener und größter Gravitationspunk der Platte ist dabei definitiv das Adagio aus Joaquin Rodrigos Concierto de Aranjuez, das mit über 16 Minuten Spieldauer und dem sicherlich größten orchestralen Pomp der gesamten Platte ein starkes Ausrufezeichen direkt an den Anfang setzt und absolut keinen Hehl aus den Ambitionen macht, die hinter diesem Projekt stecken. Dass so ein gewagter frischer Take eines klassischen Sinfoniestückes ein großes Risiko birgt und schnell geschmacklos und billig werden kann, ignorieren Evans und Davis hier schulterzuckend und nehmen ohne mit der Wimper zu zucken ein Stück auf, das ganz einfach beides kann. Es stemmt die großen spielerischen Schichtungen aller möglicher Instrumente und die atemberaubende orchestrale Dynamik des Originals mit dem kleinen Finger, hat hintenrum aber immer einen ganz subtilen und stetigen Beat, der Stück für Stück die Coolness des zeitgenössischen Jazz einfließen lässt. Und über allen schwebt natürlich zu jedem Zeitpunkt der Meister selbst am virtuosen Leadinstrument, das in dieser guten Viertelstunde durch alle Höhen und Tiefen der Komposition mitgeht. Ein definitives Meisterwerk des grandiosen Trompeters, an das er selbst auf dieser LP auch nicht mehr herankommt. Doch obwohl Sketches of Spain in gewisser Weise ein etwas frontlastiges Album ist, das in den 30 Minuten nach seinem Opener nur noch wenig wirklich neues macht, gelingt es Davis und Evans doch zumindest, das Momentum dieses Openers die komplette Spieldauer über wahnsinnig gut Aufrecht zu erhalten. Wobei es erstaunlich ist, wie gut sie sich hier an der kompositorischen Arbeit diverser Künstler vergreifen (inklusive zweier Originalmusiken von Gil Evans) und diese doch extrem kohärent und stimmig klingen lassen. Will O'the Wisp führt dabei das Ausgangsthema von Aranjuez ästhetisch weiter, während the Pan Piper dem Motiv eines spanischen Volkslieds einen schweren Blues abtrotzt. Mit dem zwölfminütigen, ebenfalls von Evans geschriebenen Closer Solea beißt Sketches of Spain zum Schluss nochmal einen großes Stück ab und gleitet wieder ins sinfonische Territorium ab, und obwohl das Ergebnis dabei nicht ganz so bombsatisch ist wie am Anfang, schließt es die thematische Klammer der LP doch absolut wunderbar. Eine Sache sollte bei aller Feierei über dieses Album jedoch nicht unerwähnt bleiben: Es ist definitiv Geschmackssache. Und das wahrscheinlich selbst für diejenigen, die Miles Davis generell schon ziemlich gerne mögen. Mit seiner sinfonischen Aura und dem starken Hang zum Klassizismus ist es unter den Klassikern des Musikers noch immer ein bisschen die exotische Ausnahme, die zwar berechtigterweise viele Fans hat, für Anhänger seiner Cool Jazz- oder Fusion-Phasen aber auch potenziell schwierig sein könnte. Bis heute gilt es als eines der eingängigeren Alben von Davis, was je nach geschmacklicher Orientierung vor- und nachteilig sein kann und abgesehen davon auch in seiner klanglichen Herangehensweise polarisieren könnte. Selbst mir war der sehr höhenorientierte und schrille Mix der Platte lange ein Hemmnis und dass ich Sketches of Spain inzwischen so mag, hat auch eher damit zu tun, dass die wahnsinnig gute Kompositorik viele Schwächen der Produktion gut ausbalanciert. Trotzdem würde ich beim ersten Hören dieser Platte eher ein gutes Remaster empfehlen als die Originalversion und obwohl die gängige Streamingausgabe der Platte mit Kopfhörern überraschen okay ist, klingt sie an vielen Stellen ebenfalls ein bisschen leer und skelettal. Die sicherlich coolste Version der Songs - so zumindest meine unbestätigte Vermutung - dürfte allerdings Sketches of Spain als Konzerterlebnis sein, das in teilweiser Ausführung auch auf Youtube zu bewundern ist und in den verschiedenen Spielweisen, die verschiedene Orchester darauf anwenden auch nochmal auf eine ganz andere Art faszinierend sein kann. Wobei das dann vielleicht auch eher was für die größeren Nerds ist, die es wirklich ganz genau wissen wollen. Nerds, zu denen ich vermutlich langsam zähle.

🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Concierto de Aranjuez: Adagio | the Pan Piper | Saeta | Solea

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Charles Mingus
the Black Saint and the Sinner Lady

Igor Stravinsky
Le Sacre du Printemps


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