Sonntag, 20. Februar 2022

Ringtones of Africa

Various Artists - Music From Saharan Cellphones
BLACK HISTORY MONTH 2022
TEIL 1:
Music From Saharan Cellphones
Sahel Sounds
2010/2011

 
 
 
 
 
 
 
[ vielschichtig | dokumentarisch | rudimentär ]

Dafür, wie regelmäßig ich mich auf diesem Format über die Vermarktung afrikanischer Musik in Europa und Amerika aufrege und wie unverschämt ich es an vielen Stellen finde, dass in Bezug auf diese auch im Jahr 2022 eine ziemlich unverschämte Vereinnahmung vieler Szenen durch westliche Labels besteht, schreibe ich hier doch relativ oft über genau solche Platten, bei denen diese Art von Vereinnahmung ein Problem ist. Letztlich vor allem auch deshalb, weil ich als weißer Europäer die Hilfestellung solcher Projekte anscheinend irgendwie brauche und Unternehmungen wie Habibi Funk, Awesome Tapes From Africa oder Sahel Sounds eben leider auch heute noch die Brücken sind, über die man hierzulande solche Musik im wesentlichen kennenlernt und die mir jene wichtigen Ansatzpunkte geben, von denen aus ich anschließend weitersuchen kann. Klar wäre es im digitalen Zeitalter theoretisch auch möglich, auf spannende Underground-Acts abseits der üblichen Szenepools ganz selbstständig zu stoßen und sich Vermarktungstaktiken wie diesen zu entziehen, nur würde das eben unwahrscheinlich viel Zeit und Recherchearbeit einfordern, bei der man sich sicherlich auch durch jede Menge durchwachsenen Müll hören müsste. Und wenn man stattdessen vertrauenswürdige Labels hat, die den Markt relativ regelmäßig mit dem Material versorgen, das sich in dieser Hinsicht wirklich lohnt und tatsächlich eine Entdeckung wert ist, ist das natürlich ein Luxus. Zumal die meisten dieser Plattenfirmen ja auch alles andere sind als geldgeile Majorkonzerne mit inhumanen Verwertungsketten sind, sondern meistens kleine Leidenschaftsprojekte, die viele der entdeckten Acts auch langfristig vermarkten. Und gerade Sahel Sounds, auf dem auch das vorliegende Album einst erschienen ist und das bis heute weitere Teile der Saharan Cellphones-Reihe produziert, hat in dieser Hinsicht an vielen Punkten eine bermerkenswerte Treue gehalten und in den Jahren seit ihrer Gründung so manche echte Karriere aufgebaut. Bestes Beispiel dafür ist sicherlich die des nigrische Songwriter Mdou Moctar, der  2010 auf der originalen Saharan Cellphones-LP sein erstes offizielles Release unterbreachte und seitdem mit zunehmenden Erfolg auch mehr und mehr eigene Platten auf Sahel veröffentlichte. Sein letzte Saison erschienenes sechstes Album Afrique Victime brachte es dabei sogar zu beachtlichen Erfolgen in den USA, nachdem es dort im vergangenen Sommer von Matador Records vertrieben und von vielen renommierten Plattformen positiv besprochen wurde. Und über diese Art von Repräsentation zu schreiben, ist mir an dieser Stelle auch wichtig, wenn ich mir auch diese Saison wieder Artikel zum Black History Month vornehme. Nicht nur deshalb, weil ich finde, dass BPOC-Musikhistorie unbedingt auch Popmusik aus Afrika mit einschließt, sondern auch, weil wir dabei oft über effektive wirtschaftliche Konsequenzen reden, die es zu erforschen gilt. Im Sinne von: Wer verdient eigentlich am hippen Expoertgeschäft nischiger Acts aus Afrika an Vinylnerds aus dem Westen? Wie nachhaltig sind Projekte wie Saharan Cellphones für die beteiligten Künstler*innen? Und was kann getan werden, um Platten wie diese erfolgreicher selbst zu vermarkten und dafür zu sorgen, dass es in Zukunft vielleicht mehr Nyege Nyege Tapes (ein mittlerweile ziemlich erfolgreiches Techno-Imprint aus Uganda) und weniger Awesome Tapes From Africa (New Yorker Label, gegründet von einem Ethnologen namens Brian Shimkovitz, dem weißesten Typen aller Zeiten) gibt? Fragen, zu denen letztendlich auch ich ohne ein Vielfaches mehr an Recherche und Beschäftigung keine Antworten geben kann, aber die ich mir bei solchen Platten doch immer wieder stelle. Wobei im konkreten Fall von Music From Saharan Cellphones natürlich nicht nur dieser Aspekt der Grund ist, warum ich unbedingt darüber schreiben wollte. Denn im Sinne einer originellen Herangehensweise an musikalische Distribution und Szenearbeit abseits großer Szenen ist diese Compilation auf ihre Weise ziemlich einzigartig und dokumentiert vor allem sehr schön die Kreativität, mit der in vielen Ländern der Westsahara um 2010 herum Musik lokaler Künstler*innen und Bands unter die Leute kam. Die titelgebenden Handys und vor allem die inzwischen oft vergessene, Ende der Zwotausender aber sehr gebräuchliche Kunstform der Klingeltöne ist dabei von zentraler Bedeutung und Music From Saharan Cellphones in diesem Sinne ganz wortwörtlich eine Sammlung verschiedener Titel aus Algerien, Niger, Mali und Guinea, die Sahel Sounds von Handyfestplatten aus diesen Ländern gesammelt hat und die bis zu ihrem Release auf dieser LP vornehmlich von Fans per Bluetooth von Endgerät zu Endgerät weitergegeben wurden. Diese Form der Distribution von Musik (und an vielen Stellen auch von diversen anderen Medien) ist in diesem Teil der Welt, in dem Mobiltelefone oft für den Großteil der persönlichen Datenverwaltung benutzt werden, tatsächlich nicht unüblich und war besonders vor den Zeiten der großen Streamingplattformen ein probates Mittel, eigene Songs ohne die Unterstützung einer präsenten Musikindustrie weiterzuverbreiten. Wobei die neun Tracks dieses Samplers laut Kurator und Sahel Sounds-Labelchef Christopher Kirkley sozusagen die 'Greatest Hits' dieser Ringtone-Sammlungen waren. Viele der hier ausgewählten Stücke sind dabei auf ihre Weise exemplarisch für die Möglichkeiten und Einflüsse rudimentärer Musikproduktion in Westafrika zu Ende der Zwotausender und damit auch stilistisch ein spannender Einblick in lokale DIY-Kulturen und Trenderscheinungen. Oft bestehen sie aus ziemlich schäbig gemachten Fruityloops-Beats mit schmächtigem Autotune und daddeligen Keyboards, mit denen jedoch in den meisten Fällen traditioneller Tishoumaren oder eine Abwandlung der Afrobeat-Ideen gespielt wird, die man von vielen malischen Popstars kennt. Mit Yereyira von Papito und Iba One ist aber auch ein relativ hartkantiger Hiphop-Brocken mit dabei, der mit seinen trappigen Drums und der fetten Synth-Line eher an Soulja Boy oder Lil Jon erinnert. Die allermeisten Tracks des Albums sind dabei nie zuvor offiziell veröffentlichte Stücke, deren Dasein bis zu ihrer Aufnahme in diesen Sampler zum Teil einzig in ihrer Existenz als Klingelton bestanden, die auf ihre Art aber natürlich trotzdem Hits waren, weil ja jede*r sie auf seinem Handy hatte. Und sieht man sich ihren Weg nach Veröffentlichung dieser Compilation an, ist dieser ebenfalls auf herrliche Weise ungewöhnlich und brauchte einiges an Geduld und Glück, um überhaupt in dieser Form zu existieren. Denn obwohl die Musik von Saharan Cellphones über Sahel Sounds 2010 erstmals den Weg auf ein 'richtiges' Label fand und damit zumindest offiziell Teil des internationalen Musikmarktes war, war jenes Label bis dahin auch eher ein leidenschaftlich geführtes Mini-Startup von Chris Kirkley, der mit dieser Platte sein gerade Mal zweites richtiges Release ansteuerte, das darüber hinaus auch nur auf Kassette erhältlich war. Eine entscheidende Aufmerksamkeit bekam die LP deshalb erst einige Jahre später, als es nicht nur eine digitale Variante der LP auf Bandcamp gab, die für viele einfacher zu finden und zu erwerben war, sondern diese auch ihren Weg in die Hände anderer Musiker*innen fand. Ausschlaggabend war an dieser Stelle vor allem die Zweitverwertung des Materials durch eine damals gerade frisch gegründete kalifornische Noiserap-Formation namens Death Grips, die für ihr inzwischen legendäres Debüt the Money Store gleich mehrere Tracks von Saharan Cellphones versamplete und viele ihrer Fans damit über Umwege auf die Compilation aufmerksam machte, die diese anschließend an Orten wie Reddit oder Rateyourmusic ebenfalls weiter unter die Leute brachten. Ein im landläufigen Sinne bekanntes Release wurde Music For Saharan Cellphones dadurch zwar nicht, trotzdem erfreut es sich heute einer recht nerdigen Nischenbekanntheit und gilt als Kuriosität und Geheimtipp unter extravaganten Musikfans. Eine gewisse Relevanz für die Populärwerdung nordwestafrikanischer Popmusik würde ich der Platte außerdem zuschreiben und das nicht nur in dem Sinne, dass ein oder zwei Künstler*innen, die hier zum ersten Mal offiziell erschienen, inzwischen auch echte Karrieren daraus machen konnten. Tishoumaren und andere regionale Stilfärbungen von Tuareg-Pop haben in den Jahren seit Saharan Cellphones international an Fans gewonnen und sich inzwischen zu einem kleinen Trend gemausert, der zumindest unter entsprechenden Liebhaber*innen eine gewisse Relevanz hat. Letzteres Phänomen ist dabei zwar eher mit dem Durchbruch von Leuten wie Bombino oder Imarhan zu erklären und auch die stetige Fleißarbeit des algerischen Projekts Tinariwen seit Anfang der Neunziger ist sicherlich nicht zu unterschätzen, Saharan Cellphones jedoch existiert in einem Zeitfenster vor der verhältnismäßig großen Popularität dieser Stilrichtungen und ist somit schon irgendwie eine Form von Pionierarbeit, die man nicht unterschätzen sollte. Vor allem zeigt es meiner Meinung nach aber einen ganz anderen, nicht unspannenden, Aspekt der Musikkultur Westafrikas, der sich auch mit den Funktionsweisen der dortigen DIY-Kultur und ihren technischen Lösungswegen befasst. Zudem transportiert es nach all den Jahren noch immer eine Art von rudimentärer und unverfälschter Energie, die viele der professionelleren Bands inzwischen verloren haben und zeigt das klassische Traumbild der Popmusik, wie es anscheinend überall auf der Welt existiert: gelangweilte Jugendliche, die irgendwo am Arsch der Welt sitzen und mit ihren bescheidenen Mitteln versuchen, das Zeug aus dem Radio nachzumachen und es irgendwie unter die Leute zu bringen. Und sei es auch nur als billiger Klingelton.


🔴🔴🔴🟠🟠🟠🟡🟡🟡 09/11

Persönliche Höhepunkte
Tinariwen | Abandé | Alghafiat | Guetna | Yereyira | Moribiyassa | Faroter | Aicha

Nicht mein Fall
-


Hat was von
Imarhan
Imarhan

Omar Souleyman
Wenu Wenu


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