Montag, 15. Juni 2020

Großmama Afrika


[ orientalisch | traditionell | folkloristisch ]

Es ist im allgemeinen eine etwas unschöne Sache, dass man über interessanten Künstler*innen vom afrikanischen Kontinent meistens nur dann erfährt, wenn es mal irgendein europäisches oder amerikanisches Label gibt, das sich mit der dokumentarischen Aufarbeitung eines bestimmten Phänomens oder einer lokalen Szene beschäftigt und diese Musik dann meistens reichlich verspätet in den Westen einschleppt. Mit dem Desert Rock der Touareg ist das in den vergangenen Jahrzehnten genauso passiert wie mit somalischem Funk, malischem Afrobeat oder jüngst Psychrock aus Sambia. Eine spannende Stilrichtung wird entdeckt, die wichtigsten Protagnost*innen versammelt und dann vermarktet, was das Zeug hält. Und obwohl Siti of Unguja in gewisser Weise auch in diese Kategorie von musikalischen Unternehmungen fällt, ist die Sachlage diesmal doch ein bisschen anders. Zunächst mal deshalb, weil diese LP zwar auf einem englischen Label erscheint, aber im wesentlichen einem Leidenschaftsprojekt aus Tansania entspringt und zum anderen, weil die dokumentarische Folklore-Nummer in diesem Fall tatsächlich mal ziemlich interessant ist. Denn wenn es einen Ort auf der Welt gibt, der garantiert eine spannende musikalische Geschichte hat, dann ist das Sansibar. Als kultureller Schmelztiegel diverser Einflüsse ist die Inselgruppe in Westafrika über die Jahrhunderte ein fruchtbarer Boden für haufenweise Folk-Strömungen geworden, der weltweit einzigartig sein dürfte. Eine Identität, die sich vor allem in der lokalen Taarab-Musik wiederspiegelt, in der traditionelle Impulse aus der Swahili-Bevölkerung mit vielen Elementen aus indischen und arabischen Strömungen zusammenkommen, die auf der Insel seit jeher vertreten sind. Und als Stellvertretung für dieses Phänomen beschäftigt sich dieses Album vordergründig mit dem Werk der oft benannten "Mutter des Taarab" namens Siti Binti Saad, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Sansibar lebte und von vielen Expert*innen als eine Schlüsselfigur für ostafrikanische Popmusik angesehen wird. Und zumindest nach dem wenigen zu urteilen, was ich über sie herausfinden konnte, ist dieser Ruf auch durchaus gerechtfertigt. Nicht nur war sie eine der ersten Frauen in ihrer Heimat, die in den Zwanzigern und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts professionell Musik machten und auf swahili statt auf arabisch sangen, sie nahm diese auch als eine der ersten auf Schallplatte auf, was damals noch äußerst ungewöhnlich war. Große Erfolge feierte sie damit vor allem in Indien, wo ihre Musik zeitweise über Columbia Records veröffentlicht wurde (!) und dort zum Teil sogar die Verkaufszahlen europäischer Künstler*innen übertraf. Schon allein für Hintergründe wie diese lohnt es sich, diese Künstlerin zu entdecken. Aber auch die Aufarbeitung des Materials auf Siti of Unguja ist für sich interessant. Mit Siti Muharam ist hier nämlich niemand geringeres als die Enkelin der großen Diva zu hören, die sich gemeinsam mit einer sansibarischen Band dem Material ihrer Großmutter widmet und dabei gleichermaßen Traditionen wahren und neues wagen will. Ich bin natürlich absolut kein Experte für Taraab, doch oberflächlich gesehen klingt vieles hier nach einem ziemlich traditionellen Folk-Unterfangen. Ästhetisch erinnert dabei vieles an Schlagermusik aus Indien, die Instrumente sind bei genauerem Hinhören aber eher im arabischen Raum zu verorten. Zusätzlich dazu leistet sich die Platte ein paar winzige Tupfer von ambienten Synthesizern und auch den ein oder anderen Jazz-Moment, die sich aber klanglich sehr zurückhalten und nie zu dominant auftreten. Eine Sache, die für die europäischen Hörgewohnheiten vielleicht etwas schwierig sein könnte, sind die seltsam bearbeiteten und gepitchten Gesangsparts, die eben ein bisschen an Bollywood-Schlager erinnern, es ist aber auch erfrischend zu hören, wie sich hier mal nicht an westlichen Produktions-Standards orientiert wird. Und letztendlich ist das vielleicht der Faktor, der bei Siti of Unguja wirklich den Unterschied ausmacht: Anders als so viele Projekte der Awesome Tapes From Africa- oder Saharan Cellphones-Reihe (die musikalisch ohne Frage auch genial sind) scheint das hier eine Unternehmung zu sein, die nicht primär für den europäischen oder amerikanischen Markt konzipiert ist. Klar wurde es in der letzten Woche auch in vielen weltgewandten Feuilleton-Veröffentlichungen besprochen und dafür gesorgt, dass eine gewisse Zielgruppe von Afropop-Enthusiat*innen hiervon mitbekommt, doch vor allem in den Pressetexten liest man heraus, dass es Muharams primäre Motivation war, das musikalische Erbe ihrer Oma für die Szene daheim in Sansibar festzuhalten und hier auch ein bisschen persönliche Aufarbeitung drin steckt. Hinter diesem Album gibt es somit nicht nur einen rein dokumentarischen Zweck, sondern einen unmittelbar künstlerischen, was sich irgendwie lebendiger anfühlt. Und zuallermindest dafür sorgt, dass die Kohle dafür tatsächlich bei der Interpretin landet und nicht bei einem westlichen Label, das ihr Material nur fremdverwertet.


Hat was von
Ähm...gute Frage. Da muss ich diesmal wohl passen.


Persönliche Höhepunkte
Sikitiko | Pakistan | Nyuki | Kijiti | Alaminadura | Ashikibaya | Mandira

Nicht mein Fall
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