Freitag, 19. Juni 2020

Du alter Zerstörer


[ live | hymnisch | großkotzig ]

Der Ruf, den das Format Unplugged des Senders MTV in seinen Anfangstagen mal hatte, ist im Jahr 2020 definitiv nicht mehr derselbe. Eine lange Zeit ist vergangen seit den Tagen, als Acts wie Nirvana, Jay-Z oder die Ärzte hier einige ihrer besten Platten aufnahmen und gemeinsam mit der generellen Reputation von MTV scheint die Magie, die dieses Setting vielleicht irgendwann mal hatte (man muss sich ja nichts vormachen: Auch in den Neunzigern gab es schon ziemlich furchtbare Unplugged-Releases) ziemlich den Bach herunter gegangen zu sein. Wenn man sich die Künstler*innen ansieht, die während der letzten Dekade Alben dieses Formats veröffentlichten, ist das doch sehr bedenklich: Wo auf internationaler Ebene Leute wie Lil Wayne, Miley Cyrus oder Shawn Mendes eingeladen wurden, sieht es in Deutschland mit Cro, Peter Maffay und Santiano fast noch düsterer aus. Und obwohl es auch während dieser Zeit ein paar glückliche Ausnahmen wie die Konzerte von Sido oder Mando Diao gab, mieft das Konzept MTV Unplugged 2020 doch irgendwie nach Mittelmäßigkeit. Und ich hätte auf den ersten Blick nicht gewusst, was ausgerechnet Liam Gallagher daran hätte ändern sollen. Zumal er einer der Künster ist, dessen Fußabdruck sowieso schon unwiederbringlich in der Geschichte des Formats steckt und er für einen der wohl denkwürdigsten und gallagherigsten Unplugged-Gigs der Musikgeschichte verantwortlich ist. Ein bisschen Storytime: Als 1996 seine alte Band Oasis angefragt wurde, für MTV zu spielen, konnte Liam krankheitsbedingt nicht auftreten, weshalb sein Bruder Noel für den Abend den Leadgesang übernahm. Was in der Welt dieser beiden Typen natürlich kein gutes Ende nehmen konnte. Einer der wichtigsten Auftritte der Gruppe überhaupt, und nicht nur würde Liam fehlen, sein Ersatz wäre auch noch der band- und familieninterne Erzfeind sein - völlig indiskutabel. Weshalb der Gekränkte zur Tat schritt. Über den gesamten Auftritt von Oasis hinweg pöbelte der Bruder vom Logenplatz herunter jeden Song der eigenen Formation in Grund und Boden und ruinierte somit das Erlebnis für alle Anwesenden. Ein Zwischenfall, der von einer unangenehmen Peinlichkeit (die Aufnahmen des besagten Abends wurden nie offiziell veröffentlicht) schnell zu einem der definierenden Momente sowohl in der Historie von Oasis als auch in der von MTV Unplugged wurden. Und letztendlich eine Begebenheit, an der man sich trotz seines offiziellen Fehlens vor allem wegen Liam erinnert. Was praktisch gesehen heißt, dass Live at Hull City Hall nun seine zweite Runde ist. Diesmal ordentlich und ohne rachsüchtigen Noel im Publikum. Und auch wenn ich mich ein bisschen Frage, warum er nochmal das Vertrauen von MTV zugesprochen bekam, muss ich doch zugeben, dass er hier das beste aus seiner zweiten Chance macht. Was im Klartext heißt, dass diese LP die mit Abstand beste Version des Unplugged-Formats ist, die ich seit etlichen Jahren gehört habe. Ganz einfach deshalb, weil Liam und sein Produktionsteam wissen, was sie hier tun und was dem Zusammentreffen des Künstlers und des Settings am besten zu Gesicht steht. Und das fängt schon mit dem Setting des Konzerts an. Statt auf Biegen und Brechen den intimen Rahmen schaffen zu wollen, den diese Gigs ja angeblich immer haben müssen, wird hier von vornherein die Qualität des Künstlers als Stadionrock-Gottesgestalt verstanden und mit der Hull City Hall ein gescheites Konzerthaus ausverkauft (das im übrigen auch optisch eine der schönsten Bühnen hergbit, die ich in diesem Format je gesehen habe). Das Ergebnis ist eine Aufnahme, die auch wesentlich von ihrer Publikumsdynamik lebt: Es gibt Sprechchöre, tobenden Applaus bei Fan-Favoriten und so gut wie jedes Stück wird von der Menge mitgesungen. Wobei an dieser Stelle auch ein Chapeau für die Postproduktion und Abmischung angebracht ist, die aus diesem wenig intimen Konzert trotzdem einen Sound herauspellt, bei dem man viele Nuancen und Details hört. Was mich aber vor allen anderen Dingen an dieser LP überzeugt, ist die großartige Auswahl der gespielten Songs, die bei jemandem wie Liam Gallagher auch echt hätte schief gehen können. Wobei die große Frage bei diesem Typen natürlich ist, wohin man soll mit dem Vermächtnis der Tatsache, dass er mal in einer der wichtigsten Rockbands des Planeten war, damit aber gebrochen hat? Und es ist ein leichtes, sich daran die Zähne auszubeißen. Zumindest für mich wäre ein Set ganz ohne Oasis-Material genauso enttäuschend gewesen wie eines, das nur auf kollektiver Nostalgie aufbaut. Gallagher hat aber beides nicht nötig. Zwar gibt er als abschließende Konsens-Hymne und ultimativen Rausschmeißer hier Champagne Supernova zum besten und das ist auch gut so, doch eben auch deswegen, weil dieser Song als das große Feuerwerk am Ende behandelt wird, das eine Ausnahme darstellt. Den Rest des Sets bestreitet Gallagher souverän mit Material seiner zwei Soloplatten (keine Beady Eye-Stücke, zum Glück!) sowie Oasis-Stücken von der Hinterbank, die während ihrer aktiven Zeit selten gespielt wurden. Und gerade an diesen Stellen gelingt es ihm, vielen Sachen nochmal neues Leben einzuhauchen. Im neuen Unplugged-Gewand gibt es Songs seiner letzten Platte Why Me? Why Not., die mir plötzlich sehr viel besser gefallen als in der Studioversion und von mir unbeachtete Oasis-Deep Cuts wie Some Might Say und Sad Song, die hier erstmals richtig strahlen. Liams sicherlich größter Verdienst ist jedoch mit Abstand die Verwandlung des elenden Be Here Now-Totalschadens Stand By Me in den besten Track des ganzen Konzerts. Und so schafft es Gallagher hier ein weiteres Mal, seine größte Kompetenz auszuspielen: Den Spirit seiner alten Band heraufzubeschwören, ohne diese tatsächlich hinter sich zu haben. Live at Hull City Hall ist inzwischen das zweite Album von ihm, dem das Kunststück gelingt, die übermenschliche Größe und den Pathos eines Oasis-Releases auf eines seiner Soloprojekte zu bündeln und dabei nicht so zu klingen, als würde er bloß Nostalgie forcieren wollen. Vor allem schafft er es aber, mal wieder eine Unplugged-Platte zu machen, die ich wirklich interessant und besonders finde, das ist hier definitiv sein größter Verdienst. Und ein weiteres starkes Argument dafür, dass er wesentlich mehr ist als nur der pöbelnde Sack, der anderen die Tour versaut.


Hat was von
Mando Diao
MTV Unplugged - Above & Beyond

Blur
All the People: Blur Live at Hyde Park

Persönliche Höhepunkte
Wall of Glass | Some Might Say | Stand By Me | Sad Song | Once | Gone

Nicht mein Fall
-

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen