Samstag, 31. Oktober 2020

Intelligente Maschinen

Autechre - SIGN 

 
[ experimentell | elektronisch | glitchig | zerebral ]

Dass eines Tages der Moment kommen würde, in dem ich tatsächlich doch noch mal über ein Album von Autechre schreiben würde, ist mir schon lange klar und ich muss sagen, dass ich mich darauf auch tatsächlich ein bisschen gefreut habe. Immerhin ist das Duo aus Rochester seit mittlerweile fast 30 Jahren eines der beliebtesten Projekte aus der sogenannten "IDM*"-Blase und in ihrem gigantischen Katalog auch ein, zwei meiner persönlichen Favoriten aus dem Bereich experimenteller Elektronik. Einige Dinge allerdings gibt es, die mir diese Band in den letzten Jahren immer wieder madig gemacht haben. Schaut man von Sign (das nach aktuellem Stand auch schon nicht mehr das neueste Album von Autechre ist, duh!) in die nährere Vergangenheit, ist das letzte einigermaßen "normale" Projekt der Briten die LP Exai von 2013. Und obwohl es seitdem jede Menge Material von ihnen gab, tendierten die beiden zuletzt dazu, dieses in Compilation-Blöcken zu droppen, die gerne mal fünf Stunden oder länger waren. Was selbst für pathologische Binge-Hörer*innen wie mich etwas zu viel des guten war, zumal diese Musik ja auch nicht gerade den Ruf hat, besonders entspannt zu sein. Das Ende des Liedes war deshalb für mich lange, auf die nächste halbwegs verträgliche LP von ihnen zu warten, die eben erst jetzt erschienen ist. Ja nun. Doch gibt es eine weitere Sache, die mich effektiv noch ein bisschen mehr nervt, und das ist die toxische Fanbase, die dieses Duo über die Jahre um sich angesammelt hat. Ähnlich anderer Gruppen wie Tool oder Radiohead, die aufgrund eines gewissen, ähem...intellektuellen Niveaus ihrer Musik besonders anziehend sind, haben auch Autechre eine Anhängendenschaft, die ihr Fansein gerne mit einem gewissen Snobismus in Verbindung bringt und dazu neigt, allen und jeden Mist zu feiern, den ihre Helden fabrizieren. In Fachkreisen ist dieses Verhalten meines Wissens nach bekannt als "Rick-und-Morty-Syndrom". Unglücklicherweise befinde ich mich in der Position, nun mal nicht der allergrößte Befürworter vieler künstlerischer Moves von Autechre zu sein, was mich natürlich angreifbar macht. Und diese neue LP gehört da dafinitiv dazu. Denn egal wie klanglich brilliant, technisch verzwickt und kompositorisch unvorhersehbar das hier ist, von oben betrachtet ist es einfach nur ziel- und heilloses Gefrickel. Es ist dabei nicht so, dass ich diese lose, experimentelle Herangehensweise an Musik generell nicht mögen würde und wer Beweise sucht findet auf dieser Seite zahlreiche sehr positive Besprechungen zu ästhetisch ähnlichen Projekten. Nur ist der wesentliche Unterschied bei Sign, dass eine Ästhetik anscheinend gar nicht die Absicht war. Wenn es eine Sache gibt, von der so abstrakte, formlose und kopfige Musik profitieren kann, dann eine starke Atmosphärik, egal ob nun ambient, düster oder hektisch. Weil auf diesem Album aber die Formlosigkeit an sich das Prinzip zu sein scheint, stochern Autechre einfach nur willkürlich durch haufenweise pluckernde Synths und geben sich dem monotonen Trott murmelnder Soundflächen hin. Diese sind durchweg wahnsinnig gut produziert und mitunter gibt es Movements wie Meta form8 oder si00, die sogar ganz cool klingen. Mehr als Zufall scheint das aber nicht zu sein, weil die Platte zwischendurch auch immer wieder jegliche Farbe verliert. Die allermeisten Songs hier haben einfach keinerlei Charakter, der sie für mich irgendwie emotional oder wenigstens klanglich ansprechend macht und wenn ich bei Musik nichts empfinde, dann ist sie mir egal. Unabhängig davon, wie technisch komplex sie ist. Natürlich werden jetzt einige sagen, dass ich das ja alles nicht verstehen würde und ich die falschen Erwartungen an dieses Album hätte, aber glaubt mir zwei Sachen. Erstens, dass Musik - vor allem instrumentale - nicht dadurch besser wird, dass man sie mir erklärt und zweitens, dass Autechre das so viel besser können. Es gibt ja Platten wie Amber oder Chiastic Slide, die in mir wirklich etwas auslösen oder zumindest impressiv beeindruckend sind. Das hier ist - bei allem Respekt- nur sehr aufwändig produziertes Gefritzel und Geblubber. Und ich bin froh, dass ich mir darüber keine Illusionen machen muss. Sondern nur noch eine weitere Besprechung für das nächste Album Plus, das diese Woche erschienen ist. Gar kein Bock.

*kurz für "intelligent dance music", eine ziemlich arrogante Bezeichung für abstrakten und avantgardistischen Electronica, häufig verbunden mit dem Label Warp Records und Leuten wie Aphex Twin, Andy Stott, Orbital oder Brian Eno.


Hat was von
Arca
Mutant

Aphex Twin
Collapse EP

Persönliche Höhepunkte
Metaz form8 | sch.mefd 2

Nicht mein Fall
M4 Lema | esc desc | th red a | r cazt

Freitag, 30. Oktober 2020

Blase geplatzt

 

  
 
[ deutschrockig | postironisch | schlau ]

Als die Screenshots im Frühjahr 2018 auf der Landkarte der deutschsprachigen Popmusik auftauchten, war das für mich in vielerlei Hinsicht ein etwas seltsames Ereignis. Nicht, weil diese Band an sich irgendwie seltsam gewesen wäre oder ihre Songs, sondern eher, weil ich ihr nicht auf die Art begegnete, wie ich das sonst bei einer neuen Gruppe mache, deren Musik mich interessiert. Was man dazu wissen muss ist, dass der Aufhänger dieses Trios, als es vor zwei Jahren seine ersten Schritte machte der war, dass dessen Mitglieder Susi Bumms, Kurt Prödel und Dax Werner schon davor gewissermaßen Promis in der nischigen Welt des deutschsprachigen Twitter-Kosmos waren, in dem ich mich ebenfalls schon etwas länger bewege. Als die Screenshots also auftauchten, kamen sie als Band eher aus einer ganz anderen Dimension meines persönlichen Interesses und es fühlte sich etwas komisch an, auf diesem Format in ziemlich analytischer Art und Weise über ihre ersten Sachen zu schreiben, obwohl ich daran wenig zu kritisieren hatte. Zwei Jahre später hat sich diese Berührungsangst allerdings ein kleines bisschen gelegt, was vor allem daran liegt, dass die Gruppe jetzt ein ganzes Stück bekannter ist. 2 Millionen Umsatz mit einer einfachen Idee, ihr formell gesehen erster richtiger Longplayer, steht in diesem Moment auf Platz 45 der offiziellen deutschen Albumcharts, hinter den Sockenpuppen aus dem Internet sind inzwischen drei angenehm stinknormale MusikerInnen hervorgetreten und von den Leuten, die ihre Songs jetzt hören, wissen vermutlich gar nicht mehr so viele, dass sie einst dieses obskure Twitter-Ding waren. Das einzige, was von dieser Art Band hier noch übrig geblieben ist, ist ihre Herangehensweise an Songs, die inhaltlich immer noch viel des kantigen, post-post-postironischen Spartenhumors der Bubble hat und sich in vielen Dingen auf dieser LP zeigt. Seien es offensichtliche Hints wie der Songtitel j@@@@@@@ und die paar versteckten Shoutouts an einschlägige Accounts in Liebe Grüße an alle oder ganz einfach die Themen, die hier immer wieder auftauchen. Wobei man inzwischen fast sagen kann, dass viele davon auch originär dem Kosmos Screenshots entstammen und ganz einfach den Stil dieser Band ausmachen. So kann man es beispielsweise als postironisches Statement sehen, dass 2 Millionen so herrlich bescheuert nach deutschem Zwotausender-Indierock der Marke Madsen und Sportfreunde Stiller klingt, oder man kann einfach sagen, dass diese Drei solche Musik eben mögen. Genauso verhält es sich mit ihren Texten, die natürlich irgendwie bewusst Klischees aushöhlen und zeitgenössische Mindsets karikieren, aber bei denen man sich ruhig mal fragen sollte, ob sie vielleicht doch ab und zu ernst gemeint sind. Zumal das unmittelbare Comedy-Level auf 2 Millionen schon wesentlich subtiler ist als früher auf Songs wie Bühne oder Cornetto. Am deutlichsten erkenne ich das hier noch in Stücken wie Wir lieben uns und bauen uns ein Haus oder Träume, in denen recht klar die Ideen von Erfolg-ist-kein-Glück-Credos, privater Vorsorge und selbstgewählter Verspießung parodiert werden. Ansonsten vielleicht noch auf Snacks, wobei es hier wohl eher keinen doppelten Boden gibt. Und bis auf letzteres Beispiel finde ich das auch gut, ich schätze aber auch die Momente, in denen sich mal die echten Gefühle durchdrängeln, wie die letzte Strophe von Airbnb oder die tolle, von Susi Bumms gesungene Ode an den Kitsch, John Mayer. Auch beweist die Band ein weiteres Mal ihr Talent für großartige Closer mit j@@@@@@@, das einfach nochmal ein großes emotionales Ausrufezeichen an den Schluss dieser LP setzt. Wobei 2 Millionen auch durchaus eine Platte ist, mit der ich erstmals Probleme bei dieser Band sehe. Gerade im Mittelteil finden sich mit Snacks und Für immer niemals da zwei Tracks, die dem Album nichts hinzufügen und eher ein bisschen verpeilt sind. Was mir außerdem auffällt ist, wie krass das Energielevel in den letzten drei Songs nochmal ansteigt und wie die Screenshots erst hier so richtig in Fahrt kommen. Nicht, dass alles vorher total lahm gewesen wäre, doch ich will auch nicht leugnen, dass ein Walther White ist tot oder Die Welt geht noch nicht unter ausbaufähig finde. Grundsätzlich muss ich aber sagen, dass 2 Millionen erneut ein äußerst stabiles Stück Musik der KrefelderInnen ist. Den künstlerischen Charakter, den sie sich in den letzten zwei Jahren aufgebaut haben, denken sie hier konsequent weiter, werden damit nicht langweilig und schaffen mit Songs wie Wir lieben uns und bauen uns ein Haus oder j@@@@@@@ erneut kleine Hymnen, bei denen zumindest ich mir sicher bin, dass ich sie so schnell nicht vergessen werde. Und das ist am Ende des Tages ein ziemlich großes Qualitätsmerkmal, wie ich finde.


Hat was von
Madsen
Na gut dann nicht

Tocotronic
Wir kommen um uns zu beschweren

Persönliche Höhepunkte
Manchmal | Liebe Grüße an alle | Airbnb | Träume | Wir lieben uns und bauen uns ein Haus | John Mayer | j@@@@@@@

Nicht mein Fall
Snacks | Für immer niemals da

Donnerstag, 29. Oktober 2020

Das Universum lacht mit dir

Ozric Tentacles - Space for the Earth 


[ instrumental | fantasievoll | esoterisch ]
 
Es ist noch eine sehr subtile und selten wahrnehmbare Entwicklung, die im Moment für mich auch nur ein reines Gefühl ist, doch scheinen die Ozric Tentacles aus Glastonbury in den letzten Jahren eine jener Bands zu sein, deren Karriere aktuell durch obsessive Internet-Nerds in einen zweiten Frühling gepusht wird. Besonders auf Plattformen wie Rateyourmusic und Discogs, auf denen sich Freund*innen obskurer Vintage-Diskografien seit jeher tummeln, sind mir seit einiger Zeit immer wieder frisch gebackene Fans der Briten untergekommen, die den großzügigen Output der New Age-Veteranen gerade erst für sich entdecken. Dabei ist es schön zu beobachten, wie das exklusive und reichlich nerdige Wissen um diese Band sich inzwischen von Generation zu Generation weiterträgt. Denn schon in den Achtzigern und Neunzigern - so habe ich inzwischen erfahren - war es vor allem eine eingeschworene Familie um DIY-beflissene Bootlegger, die die wesentliche Fanbase der Ozric Tentacles bildete und deren Kunde weitergab, aber auch innerhalb einer semipermeablen Community hortete. Und auch wenn diese aufwändige Leidenschaft selbiger dazu geführt hat, dass es in Zeiten von niedrigschwelligem Streaming und Fan-Uploads wesentlich einfacher ist, den kompletten Katalog der Briten in guter Qualität überall abzurufen, bleibt diese Band höchstwahrscheinlich ein Leidenschafts-Ding. Zumindest kann ich mir nur schwer vorstellen, dass den Ozric Tentacles in den folgenden Jahren noch ein ähnliches Schicksal wie den Fishmans oder Mariya Takeuchi blüht, dafür sind sie noch immer zu uncool. Ich allerdings bin seit einiger auch Zeit ein User mehr, der neugierig geworden ist und habe mit ihrem neuesten Produkt Space for the Earth nun auch tatsächlich eine Platte, mit der ich das für mich ganz offiziell bestätigen kann: Diese Band ist ihre Verehrung auf jeden Fall wert. Und auch definitiv eine angenehm schräge Kuriosität auf meinem musikalischen Horizont, die ich erst für mich entdecken musste. Denn wie man vielleicht schon ob den Covers vermuten kann, sind diese Briten etwas speziell unterwegs. Ihre grundsätzliche Verwurzelung liegt irgendwo im Progrock der frühen Achtziger und Vergleiche, die im Bezug auf sie immer wieder auftauchen sind Rick Wakeman, Gong, Hawkwind und (ugh!) Dream Theater. Zusätzlich dazu hat ihr Sound aber auch eine starke New Age-Schlagseite und kann ohne Bedenken als ziemlich esoterisch und verschwurbelt bezeichnet werden. Was dabei vor allem eine Rolle spielt, ist auch ihr tendenzieller Hang zu elektronischen Elementen und Synthpop, die in ihrer Musik mindestens so prominent auftauchen wie klare Rock-Strukturen und sie stilistisch auch ein wenig in das Ambient-Chillout-Terrain von Leuten wie Shpongle oder Four Tet ziehen. Und Space for the Earth ist definitiv ein Album, mit dem diese Band zeigt, wie groß der Platz zwischen diesen Stühlen sein kann. In 47 Minuten instrumentaler Jam-Eskapaden, bei denen kein Song unter fünf Minuten wegkommt, bedienen sich die Briten absolut aller Register des gut gemachten Plätschersounds. Es gibt hier viele leichte Gitarrenklänge, die ohne den Begriff des Riffs auskommen, klimpernde Synthesizer, vielschichtige Perkussion und hin und wieder sogar Vogelgezwitscher, Panflöte oder Meeresrauschen. Das klingt natürlich unglaublich kitschig und ist es auch, doch im Gegensatz zum Großteil des mir bekannten Spektrums von New Age dieser Art ist das hier in keinster Weise belanglos. Space for the Earth ist keine Platte, die man gut zum Yoga oder zur kollektiven Tantramassage mit Räucherstäbchen auflegen möchte, denn dazu passiert hier kompositorisch einfach zu viel. Viel eher erinnert mich das hier an einen sehr aufwändig gemachten Videospielsoundtrack aus den späten Neunzigern oder etwas zu hyperaktive Hintergrund-Muzak für einen schlechten Werbefilm. Es ist auf jeden Fall ein Mindestbestand ironisches Amüsement mit im Spiel, wenn ich sage, das hier ist empfehlenswert. Und für Leute, die modernen Prog für seine Bierernstigkeit und...ähem...musikalische Tiefe schätzen, ist das hier wahrscheinlich zu schrullig. Aber genau darin liegt für mich irgendwie der Reiz: Dass diese Band sich traut, Spaß zu haben und dabei auch hinnimmt, ab und zu ein bisschen albern zu klingen. Wenn im Mittelteil von Harmonic Steps plötzlich die dicke Funk-Gitarre rausgeholt wird oder der Titelsong zwischendurch dreist in Richtung Dub abbiegt, ist das manchmal ziemlich zum schmunzeln. Doch eben nicht auf so eine cringy Art und Weise wie vielleicht bei Coheed & Cambria, sondern auf eine witzig-kreative. Ozric Tentacles framen sich nicht als eine Band, die dramatische Konzeptalben mit weltbewegenden Themen schreibt, deswegen kommen sie mit sowas durch. Und ehe ich mich versehe, stelle ich fest, wie sehr ich einfach den angenehmen Flow, die überraschenden Verwurstelungen und den liebenswürdigen, unstressigen Sound dieser LP genieße. Space for the Earth ist eine Platte, die mich vor allem spielerisch beeindruckt, durch gute Ideen und dadurch, dass sie gut klingt. Dass mir das aber nicht pretenziös und überzogen vorkommt, liegt daran, mit wie viel angenehmem Humor sie bei der Sache sind. Und immerhin muss man es erstmal schaffen, nach fast 40 Jahren im Business so ein lockeres, unpeinlich smoothes Prog-Album vorzulegen. Also ja, vielleicht bin ich jetzt auch einer von diesen Fans.


Hat was von
Yes
Fragile

Shpongle
Ineffable Mysteries From Shpongleland

Persönliche Höhepunkte
Stripey Clouds | Blooperdome | Humboldt Currant | Space for the Earth | Harmonic Steps

Nicht mein Fall
-

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Wieder auf Spur

Crippled Black Phoenix - Ellengæst 


[ düster | gruselig | monumental ]
 
Als ich im Dezember 2012, damals noch auf meinem alten Format, das erste Mal eine Liste mit Platten aufstellte, die mich in jener Saison besonders beeindruckten, waren Crippled Black Phoenix aus Bristol eine der Bands, die mich gerade ziemlich beeindruckt hatten. Mit ihrem anderthalbstündigen Progrock-Epos (Mankind) the Crafty Ape hatten sie nicht nur in Sachen Größenwahnsinn einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, sondern auch eine LP vorgestellt, die ein angenehm rustikales und organisches Verständnis moderner progressiver Rockmusik vermittelte. Und obwohl es jetzt doch ein bisschen länger her ist, dass ich das Album zum letzten Mal gehört habe, kann ich mir durchaus vorstellen, dass ich es heute immer noch mögen würde. Ziemlich sicher bin ich mir sogar, dass Crippled Black Phoenix seitdem keine bessere Platte mehr gemacht haben. Denn obwohl sie in den immerhin acht Jahren zwischendrin hier stets ein wenig unter dem Radar geflogen sind, habe ich mir doch jedes ihrer Alben wieder angehört. Immer in der vergeblichen Hoffnung, vielleicht nochmal diese eine geniale Version der Briten zu hören, die sie irgendwie nicht mehr erreicht haben. Mit White Light Generator und Bronze fanden sie sich nach dem großen Plauz von Mankind erstmal im kompositorischen Ödland des zeitgenössischen Prog wieder, bevor sie 2018 mit Great Escape ein nicht minder vorhersehbares und wässriges Postrock-Album veröffentlichten. Und ich muss zugeben, mit jedem mittelmäßigen Projekt von ihnen schwand auch meine Hoffnung, irgendwann nochmal noch ein wirklich nennenswertes zu hören. Zumindest bis jetzt. Denn obwohl Ellengæst, der inzwischen achte Longplayer der Gruppe, ebenfalls kein solicher ein Hingucker wie damals Mankind ist, macht er doch im Vergleich zu den reichlich lahmarschigeren Vorgängern einen gewaltiger Schritt nach vorne. Vor allem dadurch, dass er sich in Sachen Songwriting endlich wieder etwas mehr traut und jene grantig-rockige Energie zurückbringt, mit der Crippled Black Phoenix meiner Meinung nach noch immer am besten klingen. Stilistisch ist es diesmal allerdings nicht ganz so einfach. Von seinen Impulsen her ist Ellengæst mehr denn je ein Mischwesen, das irgendwie im Post- und Progrock seine Füße stehen hat, aber teilweise genauso sehr nach Doomrock, Goth, Post Metal, Shoegaze, Postpunk oder sogar Indie klingt. Fragmente von Songs erinnern an so unterschiedliche Künstler*innen wie Thee Silver Mt. Zion, Amanda Palmer, Tereza Suarez, Arcade Fire, die Editors oder Mono und es kann auf jeden Fall gesagt werden, dass alle Tracks hier sehr vielschichtig sind. Was sie eint ist häufig jene Art von düsterem Epochal-Songwriting, das in langen Songs von mitunter elf Minuten und mehr tiefer in eine schwarzmalerische Tragik bohrt. Es gibt immer wieder Sprachsamples, die sich mit den Konzepten Hölle, Sünde, Depression und Psyche auseinandersetzen und dem ganzen sehr häufig einen glaubwürdigen Gruselfaktor verleihen. House of Fools eröffnet dabei direkt aus dem Stand mit einem rabiaten Monsterriff, Everything I Say ist über lange Strecken eine verkappte Gothrock-Nummer, Lost klingt wie die monumentale Blockbuster-Version eines Interpol-Songs und In the Night hat dieses genial-fiebrige Intro, das leider Gottes auch der beste Teil des Stücks ist. Eine bleibende Wirkung erzeugen Crippled Black Phoenix hier also auf jeden Fall und selbst in vielen Momenten, die ich nicht so mag und sie vor allem mit den vier ziemlich doofen Gastperformances zusammenhängen, bleibt stets eine gewisse Grundspannung. Und genau diese ist das Element, dass Ellengæst in meinen Augen besser macht als alles aus den letzten sieben Jahren Crippled Black Phoenix. Das Album ist insgesamt weit davon entfernt, ein Meisterwerk zu sein, doch es schafft es immerhin schon mal, dass ich durchweg an den Dingen interessiert bin, die hier passieren und nicht nur darauf warte, dass der Song endlich zu Ende ist. Unterm Strich ist das hier zwar eher eine LP mit einzelnen Tracks als Highlights und ein paar anderen, die eher Füllmaterial sind, aber alles in allem hat das ganze eine Energie, an der man dran bleiben möchte. Und diese Band endlich wieder eine stilistische Marschrichtung, auf die ich ernsthaft neugierig bin. Zwar könnte es genauso gut sein, dass die Briten wie schon so oft nicht weiter an diesem Konzept arbeiten und ihre nächste Platte wieder vollkommen anders klingt, aber sollten sie das hier weiterdenken, wäre ich sehr optimistisch. Denn so nah an einem wirklichen Knüller waren sie jetzt schon sehr lange nicht mehr.


Hat was von
Mark Lanegan
Blues Funeral

Black Rebel Motorcycle Club
Wrong Creatures

Persönliche Höhepunkte
House of Fools | Lost | Everything I Say | (-)

Nicht mein Fall
She's in Parties

Dienstag, 27. Oktober 2020

Improve. Adapt. Overcome

Touché Amoré - Lament 

 
[ sentimental | verletzlich | melodisch ]

Die Sache, die mich an Touché Amoré im Jahr 2020 wahrscheinlich am meisten überrascht ist die, dass sie immer noch eine Band sind, auf deren Musik ich gespannt bin. Wenn ich ehrlich bin sogar ein bisschen mehr als früher. Denke ich daran, wie skeptisch und lauwarm ich dem Quartett aus Burbank begegnete, als ich sie 2011 zum ersten Mal hörte, hätte ich nicht gedacht, dass ich gute zehn Jahre später noch dabei wäre, wenn die Kalifornier ihr inzwischen fünftes Album vorstellen. Was sich dadurch aber mehr denn je herausstellt, ist die Art, wie Touché Amoré über den Faktor ausdauer funktionieren. Gerade im Bereich Hardcore ist es selten, eine Band zu sehen, die ihre schmerzhafte Energie nicht auf ihren ersten zwei EPs verschießt und danach langsam ausblutet, sondern die mit dem Alter immer besser wird und für ihre Musik mit zunehmenden Wachstum mehr Herzblut investiert. Ich will damit nicht sagen, dass ein Album wie To the Beat of A Dead Horse nicht wahrhaftig emotional wäre, eher im Gegenteil. Doch finde ich durchaus, dass Lament besser darin ist, die Vielschichtigkeit der Gefühlsebenen und inneren Konflikte von Jeremy Bolm zu artikulieren. Touché Amoré sind reifer geworden, inhaltlich wie musikalisch. Aus dem Sound, den ich zu Beginn der letzten Dekade noch zu adoleszent, ungelenk und jammerig fand, entfaltet sich spätestens in den letzten fünf Jahren etwas, das mich in jeder Hinsicht mehr berührt. Und wo dessen bisheriger Höhepunkt zweifelsohne das 2016 veröffentlichte Stage Four war, auf dem Bolm auf sehr schmerzhafte Weise den Krebstod seiner Mutter verarbeitete, ist Lament auf jeden Fall eine Platte, die dessen Tradition würdig weiterführt. Die emotionale Stärke, die das Konzept des Vorgängers bei aller Unschönheit mit sich brachte, fehlt hier natürlich und damit auch die Tragweite zu sagen, beide Alben wären gleichberechtigt. Dennoch ist die neue nicht nur eine LP, mit der Touché Amoré den gleichen Stiefel mit abgeschwächtem Inhalt weiterspielen und kreativ auf der Stelle treten, sondern mit dem sie weiter wachsen. Lyrisch gesehen auf jeden Fall dadurch, dass es Jeremy Bolm, dessen Texte ich lange eher mittelmäßig fand, mich hier an vielen Stellen ziemlich beeindruckt. Sei es ein weiteres Mal durch aufwändig-poetische Perspektivierungen und Stories wie in Deflector oder dem Titeltrack oder durch Stücke wie A Forecast, in denen man ihm tatsächlich erstmals so etwas wie Humor anhört. Ein noch viel größeres Aha ist diese LP aber erneut musikalisch. Schon Stage Four profitierte an vielen Stellen davon, dass der Sound von Touché Amoré etwas vielfältiger wurde und an Härte verlor, hier kommt zusätzlich noch eine gewisse Catchyness ins Spiel, die ich extrem gerne mag. Mit einschneidenden Impulsen aus Indierock, Shoegaze, Postpunk und Country klingen die Kalifornier hier vielseitiger als je zuvor und trauen sich, die ganze Hardcore-Nummer auch mal ganz dreist in eine Nebenrolle zu stecken. Dann erinnert der Titeltrack mitunter ein bisschen an Interpol, A Forecast beginnt mit dem Piano als zentralem Instrument und Limelight gönnt sich nicht nur ein Feature des Manchester Orchestra, sondern auch einige sehr dick aufgetragene Slide-Gitarren. Was ganz nebenbei auch dazu führt, dass sie Songs der Band inzwischen immer länger wären. Es wäre zuviel gesagt, dass Lament damit die stilistischen Gefilde eines Hardcore-Albums verlässt oder ungewöhnlich progressiv ist, denn im großen und ganzen bleibt die Kirche am Ende doch im Dorf. Nur ist es schön zu sehen, wie kreativ diese vier Musiker inzwischen darin geworden sind, das Maximum aus ihren Songs herauszuholen und weiter zu denken. Wobei das letztendlich auch das Rezept des Durchhaltevermögens von Touché Amoré sein dürfte: Aus einer Band, die mit den tragischen Stories des Jeremy Bolm am Anfang ihrer Karriere einen wesentlichen Selling Point hatte, ist inzwischen eine geworden, die ihre Kompetenzen diversifiziert hat und zu Generalisten geworden ist. Und genau deshalb sind sie 2020 nicht nur die Gruppe, die ich nach wie vor gerne höre, sondern auch die, die gerade eines der besten Hardcore-Alben der Saison gemacht hat. Weil sie Überlebenskünstler sind.


Hat was von
La Dispute
Wildlife

Modern Life is War
Fever Hunting

Persönliche Höhepunkte
Come Heroine | Lament | Reminders | Limelight | Savoring | A Broadcast | I'll Be Your Host | Deflector | A Forecast

Nicht mein Fall
-

Montag, 26. Oktober 2020

In die Jahre gekommen

Jay Electronica - Act II: The Patents of Nobility (The Turn) 


[ vielschichtig | ambitioniert | philosophisch ]
 
 Als Jay Electronica im Frühling diesen Jahres mit A Written Testimony und großem Trara sein seit über einer Dekade erwartetes Debüt vorstellte, war ich in der Musikwelt nicht der einzige, der davon sichtlich enttäuscht war. Denn nicht nur für eine LP, die so lange in der Entwicklungsphase steckte, war das, was darauf passierte, ein ziemlicher Downer. Mittelmäßige Produktion, fragwürdige klangliche Entscheidungen, ein etwas an den Haaren herbeigezogenes religiöses Konzept und die schiere Tatsache, dass es faktisch gesehen ebenso ein Album von Jay-Z war, machten den offiziellen Einstand dieses großen Enigmas der letzten 15 Jahre Conscious Rap zu einem Ereignis, das für mehr Fragen als Antworten sorgte. Und dass mit Act II: Patents of Nobility nun bereits ein gutes halbes Jahr später ein Nachfolger erscheint, dient auf den ersten Blick zumindest nicht dazu, diese zu zerstreuen. Eher sorgt es dafür, dass der Name Jay Electronica direkt noch etwas mehr an Mystizismus und Unberechenbarkeit gewinnt. Zumal schon wieder nicht so ganz klar ist, was es hiermit eigentlich auf sich hat. Der Titel bezieht sich auf Act I, eine EP des Rappers von 2007 (!), die Tracklist hier entspricht ziemlich unverändert der, die von ihm bereits 2012 gepostet wurde und kurz bevor die fertige Platte binnen des letzten Monats auf Tidal erschien (wo sie noch immer exklusiv erhältlich ist), kursierte sie als Leak auf Youtube (an dem ich mich für diese Besprechung bediene). Was zusätzlich nicht hilft ist, dass Jay Electronica auch hier nicht davon ablässt, in zahlreichen religiösen, philosophischen und konspirativen Metaphern zu sprechen. Ein bisschen geheimnisumwittert ist das hier also noch immer und über die Motivation dieser Platte kann ich aktuell nur Vermutungen anstellen. Doch ist es anhand der Ausführungen dieser LP zumindest naheliegend, dass Act II wohl das eigentliche Passionsprojekt von Jay Electronica in all diesen Jahren war. Denn obwohl es an einigen Stellen noch immer ein paar Unfeinheiten im Mastering gibt, was wahrscheinlich daran liegt, dass es als Leak veröffentlicht wurde, fühlt es sich inhaltlich eher an wie ein legitimes künstlerisches Statement als der offizielle Erstling vom Frühjahr. Viele der Anstoßpunkte über Religion, Politik und Philosophie, die Jay auf A Written Testimony machte, fühlen sich hier noch ein bisschen tiefer an und wirken vor allem wie ausschließlich seine Denkarbeit. Zwar kann ich noch immer nicht umhin, ihn dabei etwas pretenziös zu finden, doch ist er das nicht auf eine komplett peinliche Art und Weise. Und vor allem musikalisch ist das hier definitiv eine Nummer größer als alles, was dieser Typ vorher gemacht hat. Allein die Tantiemen, die hier für kostspielige Samples - unter anderem von King Crimson und Serge Gainsbourg - draufgegangen sein müssen, sind beachtlich, und kompositorisch staune ich ob der transzendenten Kreativität der Instrumentals, die die Tragweite einer Kanye West-Produktion zu dessen besten Zeiten hat. Die monumentale klangliche Vielfalt ist tatsächlich auch mein Highlight hier, ob nun in Form eines pappigen Bangers wie Letter to Falon, eines kuriosen Fast-Plunderphonic-Stücks wie Bonnie & Clyde oder des komplett Rap-freien Outros 10,000 Lotus Petals. Act II ist einfach ein Album das es schafft, ästhetisch in extrem viele Richtungen zu gehen und am Ende trotzdem durch eine kohärente klangliche Vision geeint zu werden, die hinter allem steht. Wobei man definitiv dazu sagen muss, dass viele der Sounds hier noch sehr nach den frühen Zwotausendzehnern klingen, was ebenfalls dafür spricht, dass die meisten Songs auf dieser LP lange in der Pipeline waren. Störend ist das in meinen Augen nicht, da es wirklich gut gemacht ist, man sollte hier nur kein klanglich visionäres Werk erwarten. Und vielleicht ist das Drosseln hoher Erwartungen bei dieser Platte generell nicht die schlechteste Idee, denn das ersehnte Meisterstück ist es für mich nach wie vor nicht. Nach der enttäuschenden Erfahrung mit A Written Testimony war ich zwar schon angetan davon, wie viel besser Jay hier plötzlich klingt, doch hätte es den Vorgänger nicht gegeben, wäre ich hiervon nach Jahren des Wartens trotzdem ernüchternd gewesen. Am Maßstab von Hiphop im Jahr 2020 gemessen ist es alles andere als ein schlechtes Album, sogar überwiegend gut, aber auch definitiv kein Hingucker mehr. Ein Rap-Album wie dieses, das tiefe politische und spirituelle Diskussionen aufrütteln will und musikalisch weitgehend den Nichtschwimmerbereich von Beatmastering verlässt, mag vor zehn Jahren noch ein Aha-Moment gewesen sein, erscheint heutzutage aber so gut wie jeden Monat. Act II ist deshalb nicht gleich dumm, es ist nur nichts besonderes. Und vielleicht wäre es auch besser gewesen, wäre das hier nicht erst jetzt rausgekommen. Aber es überzeugt mich zumindest davon, dass Jay Electronica das Gewicht eines weit gedachten, konzeptuellen Großprojekts stemmen kann und mit ein bisschen mehr Detailarbeit auch dazu in der Lage ist, ein echtes Opus Magnum zu schaffen. Vielleicht braucht es das aber auch gar nicht immer. Wenn das nächste Album dieses Künstlers kleinere Brötchen backt, dafür aber in zwei Jahren erscheint und auch danach klingt, wäre mir das lieber als wieder eine Dekade auf etwas zu warten, das gut, aber auch ein bisschen überholt ist. Und nein, man kann es mir wahrscheinlich auch dann nicht recht machen.



Hat was von
Kanye West
My Beautiful Dark Twisted Fantasies

Jay-Z
Magna Carta Holy Grail

Persönliche Höhepunkte
the New Illuminati | Bonnie & Clyde | Shiny Suit Theory | Better in Tune | Letter to Falon | Road to Perdition | Welcome to Knightsbridge | Night of the Roundtable | 10,000 Lotus Petals

Nicht mein Fall
Tuff Love

Samstag, 24. Oktober 2020

the Overachievers

Westside Gunn - Who Made the Sunshine 


[ düster | badass | oldschool ]
 
 Es ist mittlerweile keine Übertreibung mehr zu sagen, dass die Saison 2020 eine weitere sehr erfolgreiche für das Rap-Familienunternehmen Griselda Records und dessen Mitstreiter*innen war. Auf ihren Nacken gehen in den letzten elf Monaten ein gutes Dutzend EPs, Alben und Mixtapes, das Label hat seine Reihen um einige äußerst talentierte junge Künstler*innen erweitert und sein Renommee in der Szene ist stetig gewachsen. Und besonders die drei zentralen Figuren Benny the Butcher, Conway the Machine und Westside Gunn waren in dieser Periode ziemlich on fire. Wo Conway noch vor einem Monat mit seinem kommerziellen Debüt ein erstes Referenzwerk als Solokünstler vorstellte, ist sein Bruder Westside Gunn schon ein paar Schritte weiter. Who Made the Sunshine ist in dieser Saison bereits der dritte Longplayer des New Yorkers und auch der dritte, der in so ziemlich jeder Hinsicht rasiert. Ein Urteil, das ich in seinem Fall mittlerweile recht leichtfertig zu fällen vermag, denn wie auf den meisten anderen Griselda-Releases wird man hier als Freund von gut gemachtem Eastcoast-Rap aufs vorzüglichste verwöhnt. Eins A gemachte Beats, durchweg exzellente Performances des Hosts und jene abgebrüht-düstere Attitüde, die so etwas wie das Markenzeichen des Labels geworden ist. Die Parameter sind für Fans und Eingewiehte bekannt und wenn Who Made the Sunshine noch durch irgendetwas besonders heraussticht, dann seine ebenso exzellente wie exotische Gästeliste, in der sich Szene-Größen wie Busta Rhymes, Jadakiss, Black Thought und Slick motherfuckin Rick die Klinke mit genialen Newcomer*innen der Hausmarke Griselda wie Armani Caesar und Flee Lord in die Hand geben. Abgesehen davon ist hier schnell alles gesangt. Und obwohl das primär bedeutet, dass auch diese LP zu meinen persönlichen Rap-Favoriten der Saison gehört, wird dieser Spitzengrind auch so langsam zum Fluch der Crew. Denn so gut das hier auch ist, speziell fühlt es sich langsam nicht mehr an. Es ist einfach zur Regel geworden. Wo man 2019 noch begeistert war, wie eine Gruppe junger MCs so viel Energie in eine sehr nostalgische Form von Neunziger-Rap packte und dabei Probs von so ziemlich allen Altvorderen der Szene bekam, ist das 2020 schon Normalität. Große Luxusprobleme, ich weiß, aber ich spüre langsam den Moment kommen, an dem genau dieses Overachievement langweilig werden könnte. Denn eine Formel ist es schon lange, nur immer wieder richtig genial und kreativ ausgeführt. Und es wird der Moment kommen, an dem das nicht mehr so ist und Griselda Gefahr laufen, sich nur noch selbst zu kopieren. Für den Moment scheint dieser noch relativ weit weg und wenn 2020 das Jahr wird, in dem diese Crew einen auf CCR macht, dann bin ich der letzte, der damit ein Problem hat. Nur bin ich einfach zu zynisch um zu glauben, dass es ewig so geht. Was ich damit sagen will: Genießt es, dass diese Jungs gerade so einen Lauf haben. Denn Zeit zum meckern wird es noch genug geben.




Hat was von
Conway the Machine
From King to A God

Griselda
WWCD

Persönliche Höhepunkte
Sunshine Intro | the Butcher & the Blade | Ishkaddible's | All Praises | Big Bashas | Ocean Prime | Lessie | Good Night | 98 Sabres

Nicht mein Fall
Frank Murphy

Freitag, 23. Oktober 2020

Nicht den Kopf verlieren

YG - My Life 4Hunnid 


[ swaggy | catchy | badass ]
 
So durchwachsen und lauwarm, wie mein Verhältnis für zeitgenössischen Hiphop, insbersondere Traprap, in den letzten Jahren gewesen ist, freue ich mich immer schon darüber, wenn es eine*n Künstler*in gibt, über den*die ich zumindest noch nie etwas kritisches sagen musste. Leute mit stabilem Output, die ein gutes Mixtape oder Album machen können und sich nicht irgendwelchen himmelschreienden Eskapaden hingeben, sind in dieser Welt - das weiß ich für mich inzwischen zu schätzen - die wahren Größen und rein emotional eher meine Favoriten als die Travis Scotts und Playboi Cartis, die zwar visionärer sind, dafür aber auch genauso oft totalen Müll fabrizieren. Und obwohl jemand wie YG, der zu diesen grundsoliden Nummer-Sicher-Leuten gehört, in der Vergangenheit nicht immer meine größte Aufmerksamkeit hatte, stelle ich doch mehr und mehr fest, was ich an ihm habe. In der überschaubaren Diskografie des Kaliforniers gibt es bis dato kein Meisterwerk, aber dafür viele Platten wie Still Brazy oder Stay Dangerous, die auf konservative Weise gut gemacht sind. An diesem Typen ist weiß Gott kein Genie verloren gegangen, aber zu meckern gab es auch eher selten was und mit dem leicht nostalgischen Amalgam aus zeitgenössischem Trap und Neunziger-G-Funk hat YG sich über die Jahre auch eine stilistische Nische ausgebaut, in der er sich sicher fühlt. Und My Life 4Hunnid ist innerhalb dieser Homezone ein weiterer sehr zufriedenstellender Eintrag. Keine LP, die mich vom Hocker haut, aber auch eine, an der das meiste schwer in Ordnung ist. Und eine gewisse Gemütlichkeit, die man auch dem Künstler inzwischen anhört. Sicher, man sollte jene Parts des Albums nicht ignorieren, in der Polizeigewalt und Rassismus angesprochen werden und YG seinem verblichenen Homie Nipsey Hussle (R.I.P.) Tribut zollt. Doch ist es keineswegs so, dass diese Themen das Geschehen dominieren, sondern eher eine sehr entspannte, leicht pubertäre Bro-Attitüde, die vordergründig gut gelaunt ist. Jealous ist der triumphale Opener mit ordentlich platzierter 'I'm Back Bitches'-Message, Rodeo ist ein ziemlich alberner Sex-Jam (dessen einziger grober Fehler ausgerechnet ein Chris Brown-Feature ist) und selbst in Songs mit schwierigen Aufhängern wie Out On Bail oder FTP ist die Attitüde zwar ernst, aber eher auf eine toughe, Ice Cube-mäßige Art und Weise. Ein Credo, das YG im Closer Laugh Now Kry Later nochmal sehr effektiv zusammenfasst. Und wenn es am Ende von My Life 4Hunnid eine Art übergreifenden Gedanken gibt, dann den, einer beschissenen Situation den größtmöglichen Spaß abzutrotzen. Was passend ist, denn Spaß macht dieses Album definitiv. Nicht immer auf eine radikale Banger-Tour, aber in der Hinsicht, dass es einzelne Stimmungen sehr gut aufnimmt. Und dafür mag ich es. Es ist in der bisherigen Diskografie von YG keine Riesensensation und keine Enttäuschung, aber es hat irgendwie Identität und einen kühlen Kopf, die man sich erstmal bewahren muss. Dass ich mittlerweile davon ausgehen kann, dass dieser Rapper den hat, ist aber das eigentliche Glück.


Hat was von
A$ap Ferg
Floor Seats II

Gucci Mane
Everybody Looking

Persönliche Höhepunkte
Jealous | Blood Walk | Out On Bail | Surgery

Nicht mein Fall
Traumatized Interlude (beide)

Donnerstag, 22. Oktober 2020

Soul for the Bros

Bryson Tiller - A N N I V E R S A R Y 


[ kommerziell | soulig | unkompliziert ]
 
 Das gute an einem Künstler wie Bryson Tiller ist in meinen Augen, dass man ihn nicht wirklich ernst nehmen muss, um seine Musik ernsthaft gut zu finden. Zumindest nicht auf so eine artsy-progressive Kunstpop-Art und Weise wie dieser Tage viele dieser R'n'B-Typen. Zwar feiert der Sänger aus Kentucky seit 2015 als Erfinder des klanglichen Labels 'Trapsoul', an das er uns nicht häufig genug erinnern kann, doch macht er in seinem ganzen Auftreten auch keinen Hehl daraus, dass er Musik für die Massen macht. Er ist nicht wie ein the Weeknd oder eine Kelela oder eine Solange, die immer irgendeinen an den Haaren herbeigezogenen konzeptuellen Überbau für ihre Musik brauchen oder sich wie große Wegbereiter fühlen müssen, um ihrem Werk Geltung zu verpassen. Tiller ist stattdessen ein Typ, der gut traurige Songs singen kann, aber trotzdem am liebsten Bier trinkt und statt über Politik oder Selbstentfremdung Texte über Parties und seine Exen schreibt. Und obwohl das konzeptuell und klanglich ziemlich Zwotausender ist, macht er damit traumwandlerisch Platten, die durchweg solide sind. Besser noch: Er ist die Art von Musiker, die Leute wie Usher, Chris Brown oder Jason Derülo hätten sein können, stünden ihnen nicht so viele Crossover-Ambitionen und toxische Starallüren im Weg. Was ich an Bryson Tiller mag, ist dass er unkompliziert ist. Und A n n i v e r s a r y (im folgenden Anniversary genannt, ich bin ja nicht bescheuert) ist nichts weiter als ein erneutes Paradebeispiel dieser simplen Schönheit. Zehn Songs, 30 Minuten, ein Sound, eine Idee: fertig. Für jemanden wie mich, der in die Welt des R'n'B erst vor wenigen Jahren ernsthaft eingetreten ist und dieser noch immer ein wenig fremd scheint, ist das hier ein echter Lichtblick, denn es erinnert mich erstmal wieder so richtig, wie eigentlich die Rohmasse dessen aussieht, was seit dem ersten Album von Frank Ocean oftmals schreiend und zappelnd in den Status von Hochkultur erhoben wird und wie natürlich schön dieser Primärzustand eigentlich ist. Vielleicht ist auch ein kleines bisschen Nostalgie dabei, wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass Tillers Sound so oldschool gar nicht ist. Sicher, sein Gesangsstil klingt extrem nach 2005 und auch das einzige goffiziell gelistete Feature von Drake ist ein ziemlicher Throwback in dessen Mixtape-Phase, doch andererseits sind die Trapbeats, der Autotune und die Produktion extrem zeitgenössisch. Vorsätzlich retro zu sein, kann man Anniversary also nicht unbedingt vorwerfen. Was das so erscheinen lässt, ist wahrscheinlich einfach nur die Eigenschaft, dass Tiller viel unnötigen Schnickschnack weglässt und ganz offen kommerzielle Musik macht, die keine weiteren kunstigen Ansprüche hat. Und so sehr ich Experimente in meiner Popmusik mag und dafür bin, dass sich Dinge entwickeln, ich habe vor diesem bescheidenen Pop-Entwurf den tiefsten Respekt. Beziehungsweise ist es lange her, dass ich ein Album von the Weeknd so gut fand wie das hier.


Hat was von
Drake
More Life

the Weeknd
My Dear Melancholy

Persönliche Höhepunkte
Years Go By | I'm Ready for You | Things Change | Inhale | Outta Time | Next to You

Nicht mein Fall
-

Mittwoch, 21. Oktober 2020

Der Neunziger Clubmix

Róisín Murphy - Róisín Machine 


[ clubbig | sexy | nachtaktiv ]

Es hat in meinen Augen immer etwas spannendes an sich, wenn sich Menschen jenseits der 40 nochmal dazu entscheiden, ein tanzbares Pop-Album aufzunehmen und richtig auf die Kacke zu hauen. Vor allem dann, wenn das vorher eher nicht so unbedingt ihr Style war. Oft sind es gerade die verhuschten Leisetreter*innen ohne Vorerfahrung in der Clubwelt, die es hinbekommen, dieser sehr spezifischen Art von Musik tatsächlich etwas neues abzugewinnen und spannende neue Perspektiven zu eröffnen. Ob das ein Iggy Pop ist, der sich auf seine alten Tage mit dem Technotrance von Underworld anfreundet, eine Cher, die plötzlich mit Autotune experimentiert oder ein David Bowie, der Dancehall und Drum & Bass für sich entdeckt. Sicher sind nicht alle dieser stilistischen Ausflüge immer geschmackvoll und/oder erfolgreich, doch sie haben immer etwas eigenes. Und so wie es aussieht, gehört Róisín Murphy jetzt ebenfalls zu diesen Musiker*innen. Mit inzwischen 47 Jahren (Ja, auch ich dachte sie wäre jünger) ist sie inzwischen eine echte Veteranin in der britischen Pop-Landschaft und dabei auch schon immer irgendwie eine Künstlerin, die grundsätzlich im Definitionsbereich elektronischer Musik aktiv war. Was es trotzdem nicht gerade schwierig macht, dieses jüngste Album von ihr als ihr bis dato tanzbarstes und groovigstes zu identifizieren. Und als das erste, dem man explizit vorwerfen könnte, zumindest zu einem großen Teil für den Club gemacht zu sein. Insofern, dass es sich tatsächlich in vielen Punkten eher anfühlt wie ein Set als wie ein Album. Die genauen stilistischen Parameter sind dabei Ansichtssache, doch sehe ich als wesentliche Knotenpunkte House, Discopop und, ja, Triphop. Letzteres sollte nicht verwundern, da Murphys musikalische Wurzeln hier liegen und wenn man in den 10 Tracks genau hinhört, finden sich jede Menge Einflüsse britischer Neunziger-Elektro-Acts wie Massive Attack, Faithless, Madonna, die Chemical Brothers oder Primal Scream. Leute, die ja schlussendlich zur gleichen Generation gehören wie sie. Dass diese Impulse hier aufgegriffen werden, erfreut mich als großer Fan dieser klanglichen Periode natürlich immens, was noch besser dadurch wird, dass Murphy diesen Sounds wirklich Platz einräumt. Allein die ersten drei Stücke gehen jeweils über sechs Minuten, wodurch sie extrem gut in jene verschwitzte, nokturnale Club-Atmosphäre einführen, die sich über die gesamte erste Hälfte von Róisín Machine fortsetzt. Und obwohl Teil zwei mit Songs wie Murphy's Law oder We Got Together etwas lockerer und Disco-mäßiger wird, bleibt jene treibende, pumpende Qualität - wie bei einem guten DJ-Set - immer präsent. Würde dieses Album in voller Länge auf einer Houseparty laufen, würde ich es bis auf ein paar unlogische Übergänge überhaupt nicht merken und wahrscheinlich auch gut dazu abzappeln. Mit seiner erst packenden, rhythmischen Spannung und späteren melodischen Auflösung wäre es sogar ziemlich optimal für sowas. Mit 54 Minuten nur etwas kurz, obwohl es sich auch schon länger anfühlt als es ist. Diese Eigenschaft bedeutet natürlich, dass es ziemlich gut ist, wobei ich persönlich auch einen kleinen Haken sehe. Denn ein Album zum zuhören ist es definitiv nicht. Sich mit Róisín Machine hinzusetzen und es als auditives Erlebnis zu besprechen, missversteht seine Kompetenzen aufs ärgste, denn als körperliches Erlebnis ist es wahrscheinlich viel besser. Um das zu verifizieren, wäre es aber notwendig, es in Clubs laufen zu lassen, was momentan ja leider nicht so einfach ist. Und das ist fürs erste auch das letzte, was es darüber zu sagen gibt: So eine LP innerhalb einer Pandemie zu veröffentlichen, ist ziemlich fies. Denn wer das hier hört, weiß, was fehlt. Und es fehlt irgendwie doch.


Hat was von
Robyn
Body Talk

Madonna
Music

Persönliche Höhepunkte
Simulation | Kingdom of Ends | Something More | We Got Together | Narcissus | Jealousy

Nicht mein Fall
-

Dienstag, 20. Oktober 2020

Egaler denn je

21 Savage & Metro Boomin - SAVAGE MODE II  


[ arrogant | großkotzig | langweilig ]
 
 Von vielen angesagten Rappern, deren Hype ich in den letzten Jahren nicht verstanden habe, ist 21 Savage in meinen Augen nach wie vor derjenige, der mich irgendwie vor das größte Rätsel stellt. Nicht etwa weil er so viel miesere Musik macht als ein Playboi Carti, Lil Yachty oder Lil Uzi Vert (rein vom Talentlevel her mag ich ihn sogar ein bisschen lieber), doch wo ich bei diesen Leuten wenigstens noch den Buzz verstehe, den sie aufgrund ihrer Exzentrik und ihres individuellen Stils auslösen, ist er für mich immer noch jemand, der einfach ein bisschen zu langweilig klingt, um in mir eine ernsthafte Reaktion auszulösen. Was auch der Hauptgrund ist, weshalb ich in den letzten vier Jahren so selten über ihn geschrieben habe, obwohl ihm in den richtigen Kreisen aus dieser Zeit bereits mehrere Meisterwerke zugerechnet werden. Er ist mir schlichtweg ziemlich egal. Klar mag ich einige seiner Songs relativ gerne, was bei einem unermüdlichem Output wie dem seinem aber auch kein Wunder ist. Doch geht es um Longplayer-Formate, war dieser bisher doch immer eher durchwachsen, was auch all die prominenten Produzenten, hochkarätigen Features und seine jüngste Hinwendung zu klassischen Sounds nicht wirklich verbessert hat. Wobei Savage Mode II in dieser Hinsicht definitiv die Probe aufs Exempel sein dürfte, denn rein formell ist es das Savage-Album mit dem größten Nimbus. Morgan Freemann als offiziell gefeatureter "Narrator", Features von Drake und Young Thug, eine erneute LP-übergreifende Kollaboration mit Metroboomin (Den ich nebenbei bemerkt auch ziemlich überbewertet finde, aber das ist ein anderes Thema) und eine Ästhetik, die mehr denn je nach der verklärenden Nostalgie für die späten Neunziger anmutet: Das an Juvenile erinnernde Artwork, der chillige Southern Rap-Sound auf der ganzen Platte und die Performances, die ein bisschen die Aura einer klassischen Gangsterrap-Attitüde haben. Savage und Metroboomin wollen hier zu den großen Jungs gehören und basteln sich dafür auch den adäquaten Rahmen. Nur hat das, was diesen letztendlich musikalisch füllen soll, noch immer nicht so richtig Hand und Fuß. Im wesentlichen nach wie vor deshalb, weil es sich nicht nach etwas besonderem anhört. Die allermeisten der 15 Songs in dieser Tracklist sind bestenfalls akzeptabel und erfüllen den grundsätzlichen Anspruch dessen, was ich von einem jungen Cloudrap-Typen erwarte, gehen aber auch selten darüber hinaus. Um ehrlich zu sein finde ich nichts hier besser als okay, tendenziell sogar eher mittelmäßig. Said N Done hat einen schicken Beat, Runnin eine schmissige Hook und Morgan Freeman - obgleich auch nicht gerade in Hochform - ist durchaus charismatisch. Was man von 21 Savage selbst nur in den wenigsten Momenten sagen kann. Ein Fan seines Flows und seiner Performance war ich offen gesagt noch nie, doch ist sie hier wieder mal besonders anstrengend. Warum zum Beispiel ist es notwendig, ständig seine völlig lahmen Catchphrases zu wiederholen, beziehungsweise in jedem zweiten Song das Wort "pussy"? Was auch nicht viel besser dadurch wird, dass darüber hinaus Metroboomin fast überall sein Producer Tag draufpappt, in meinen Augen eine völlig unnötige Geste auf einer LP, bei der er als gleichberechtigter Kreativpartner auf dem Cover steht. Lahme Hooks, monotone Lyrics und Savages dämliche Angewohnheit, "sh" statt "s" zu sagen, tun ihr übriges. Und klar könnte man am Ende argumentieren, dass das alles Details sind, doch sind sie sehr großzügig verstreut auf einem Album, das diese vernachlässigbaren Formfehler nicht gerade durch potente Inhalte wettmacht. Was es an manchen Stellen eben nicht nur irrelevant, sondern effektiv peinlich macht und selbst mir irgendwie den Eindruck gibt, dass 21 Savage hier nicht nur stagniert, sondern abrutscht. Ich will zu diesem Typen nicht unnötig fies sein und wenn andere Menschen hieran mehr Freude finden als ich, dann sei es ihnen gegönnt. Von meiner Seite allerdings trägt Savage Mode II nur dazu bei, dass mich dieser Künstler noch mehr langweilt als ohnehin schon. Und das will schon etwas heißen, denn diesmal hat er wirklich alle Register gezogen.


Hat was von
Drake
Scorpion

Megan Thee Stallion
Suga

Persönliche Höhepunkte
Runnin | Rich N🙊🙊🙊a Shit | Said N Done

Nicht mein Fall
Mr. Right Now | Snitches & Rats (Interlude & Song) | Steppin On N🙊🙊🙊s

Montag, 19. Oktober 2020

Dem Mythos entgegen

Jónsi - Shiver 


[ elektronisch | glitchy | entmystifiziert ]
 
Als Jón Þór Birgisson vor ziemlich genau einer Dekade sein erstes offizielles Soloalbum Go vorstellte, war die Welt des Isländers noch unkompliziert. Seine Hauptband Sigur Rós befand sich in einer selbstauferlegten Biopause, die nach der kreativen Explosion von Með suð í eyrum við spilum endalaust 2008 vor allem dazu da war, die künstlerischen Knospen, die einzelne Mitglieder damals entwickelten, unabhängig von der Gruppe austreiben zu lassen. Jónsi war dabei von allen derjenige, der am meisten auf große, farbenfrohe Sounds und maximalistisches Pop-Appeal setzte, was ja irgendwie auch die Richtung repräsentierte, in die die Band zu dieser Zeit auch ging. 2020 ist die Situation jedoch eine vollkommen andere, wesentlich weniger optimistische. Spätestens seit den Missbrauchsvorwürfen gegen Schlagzeuger Orri Páll Dýrason vor einigen Jahren sind Sigur Rós klinisch mehr oder weniger tot und darüber hinaus zum Duo geschrumpft, was ihre Zukunft dieser Tage mehr als ungewiss macht. Und nachdem es nun lange Zeit totenstill um die Band war, war es 2019 Jónsi, der zuerst vorsichtige Schritte in Richtung neuer Musik machte. Primär geschah das bisher in Form seines Projekts Dark Morph, mit dem er in diesem Frühjahr nun schon sein zweites Album veröffentlichte, bereits im Sommer wurde aber auch dieses nun vollendete zweite Soloalbum angekündigt. Wobei in jedem Fall eine Tendenz sehr klar wird: Jónsi ist unter die Elektroniker gegangen. Wo er mit Dark Morph bereits sehr umfassend in die Welt des Industrial, respektive Lowercase eintauchte, sind es auch hier wieder frickelige Beats und Synth-Schraubereien, die es dem Isländer angetan haben. Was sich im Fall von Shiver vor allem durch die Beschäftigung von PC-Music-Mastermind A.G. Cook als Hauptproduzent äußert und definitiv ein gewagter Schritt ist. Denn obwohl ich den Briten schon lange als talentierten und vor allem visionären Klangtüftler schätze, ist das hier für ihn, der bisher vor allem durch Zusammenarbeiten mit Leuten wie Charli XCX oder Hannah Diamond bekannt ist, doch etwas sehr exotisches. Wobei diese künstlerische Entscheidung nicht die einzige etwas ulkige auf diesem Album ist, die am Ende erstaunlich gut funktioniert. Vor allem, weil die Stile der beiden von vornherein erstaunlich harmonieren und beide gewillt sind, sich stilistisch aufeinander einzulassen. Cook macht einen sehr ordentlichen Job dabei, sich musikalisch an die atmosphärische Getragenheit von Jónsis Songwriting anzupassen und die Bratzigkeit seiner Produktion zumindest etwas zu dosieren, während der Hauptakteur seine traditionell sehr instrumentale, ätherische Stimme immer wieder technisch manipuliert und somit spannende, neue Ästhetiken schafft. Dass er dabei größtenteils auf englisch singt, ist für Fans von Sigur Rós dabei im ersten Moment vielleicht gewöhnungsbedürftig, aber auch nicht weiter schlimm, gemessen daran, wie viele Effekte auf seinen Vocals liegen, wie melodisch er singt und wie dick in den meisten Momenten sein Akzent ist. Einfach gesagt war Jónsi noch nie ein Sänger, den man vor allem seiner Texte wegen gehört hat und auch auf Shiver sollte sich das nicht groß ändern. Und dass eine Platte wie diese etwas an seiner mystischen Aura nagt, ist auch eine Sache, mit der man hier einfach umgehen muss. Abgesehen davon, dass sie vielleicht sogar ein wenig gebrochen werden soll. Egal, ob das nun durch einen PC Music-Produzenten passiert, durch englische Lyrics oder durch prominente Features von Robyn und Elizabeth Fraser (die beide ziemlich genial sind). Wer bei dieser LP auf die pittoreske Gletscher- und Elfen-Nummer gewartet hat, wird vielleicht im ersten Moment enttäuscht. Doch lasst euch eins sagen: Nur weil wir auf Shiver nicht den Jónsi hören, den wir von Sigur Rós kennen und lieben, heißt das nicht, dass er nicht gut sein kann. Wenn überhaupt, dann ist das hier die Platte, die erstmals glaubhaft argumentieren kann, dass wir Sigur Rós vielleicht gar nicht mehr brauchen, sondern es ein Leben danach gibt. Ein anderes, an das auch ich mich als Fan erst gewöhnen muss, aber eines, das ich mir vorstellen kann. Auch wenn Jónsi in meiner persönlichen Idealversion davon dann doch lieber wieder isländisch singt.


Hat was von
Sufjan Stevens
the Ascension

A.G. Cook
Apple

Persönliche Höhepunkte
Exhale | Shiver | Cannibal | Wildeye | Sumarið Sem Aldrei Kom | Kórall | Salt Licorice | Hold | Beautiful Boy

Nicht mein Fall
-
 

Sonntag, 18. Oktober 2020

...But You Know That You're Toxic

Ufo361 - Nur Für Dich  


[ pathetisch | konzeptuell | toxisch ]
 
Ufuk Bayraktar aka Ufo361 ist definitiv ein Künstler, der in den letzten Jahren zu Recht nicht das beste Standing in der Deutschrap-Welt hatte, kreativ ebenso wie imagetechnisch. Die Kontroversen um seine anscheinend sehr ekelhafte Vergangenheit, sein tragisch inszeniertes Karriereende 2018, seine immer wieder polarisierenden Releases: Ufo ist ein heißes Eisen und in der Szene 2020 vor allem deshalb nach wie vor ein Thema, weil es über ihn immer wieder viel zu tratschen gibt. Ich selbst war davon bisher eher ziemlich genervt, da mein persönliches Interesse für den Berliner musikalisch noch nie besonders groß war und er auf mich eher wirkte wie ein Rapper unter vielen, der lediglich das richtige Händchen für billige PR-Moves und provokante Instastories hatte. Und die konnte ich gut ignorieren, solange seine Musik dermaßen gewöhnlich war. Doch vor zwei Wochen kam mit Nur für dich eben doch ganz plötzlich die Platte, die mich nicht nur musikalisch überzeugte, sondern es auch schaffte, eine kreative Leinwand für seinen komplexen öffentlichen Charakter zu sein. Mit allem, was daran kontrovers und eklig und toxisch ist. Und so problematisch, wie dieser Künstler auch immer sein mag, hat dieses Album wenigstens den Vorteil, das es den kritischen Umstand seiner Person nicht verschleiert. Grundsätzlich ist Nur für dich dabei ein Story-Konzeptprojekt über eine tragische Liebesaffäre, die bereits in den letzten Wochen und Monaten aufwändig audiovisuell aufbereitet wurde (Krasse Alliteration not intended) und dabei direkt wieder den ersten Skandal auslöste. Das Musikvideo zu Sollte nicht sein soll Depression und Suizid romantisieren und der an Shakespeares Romeo & Julia angelegte ästhetische Überbau diese Verherrlichung noch anfachen. Schon an dieser Stelle wird einigermaßen klar, wie dieses Album funktionert. In seiner Abhandlung der Geschichte der beiden Liebenden (oder auch nicht) geht es nicht nur zwischen den Zeilen immer wieder um die Dämonen, die die beiden gegenseitig heraufbeschwören und Ufo scheut sich dabei nicht, die ganz große Kitschkeule auszupacken. Nur für dich ist in vielen Momenten ein sehr wirkungsvolles Wechselspiel zwischen traumwandlerischer Romantik und einer sehr dreckigen Realität, unter der beide lyrische Figuren des Albums leiden. Wo sich die erste Hälfte der Platte dabei im wesentlichen mit der toxischen Dynamik der beiden Handelnden auseinandersetzt, ist die hintere vor allem ein innerer Monolog des Charakers von Ufo, der ob des Nicht-Funktionierens der Sache in eine umfassende Sinnkrise gestürzt wird. Und obwohl das Album selbst das Narrativ nicht so sehr in die Suizid-Richtung lenkt wie die Videos dazu, geht es am Ende doch ordentlich zur Sache und niemand ist letztlich reinen Gewissens. Wo andere an dieser Stelle die Problematik mit Nur für dich sehen, muss ich gestehen, dass ich fasziniert davon bin. Denn statt zu romantisieren ist das hier vor allem ein Stück Musik, dass hässliche Ecken ausleuchtet und sich traut, Charaktere mit immensen menschlichen Makeln in den Mittelpunkt zu stellen. Klar ist das dann nicht gerade pädagogisch wertvoll, aber es wirkt irgendwie echt. Dass man Ufo nach dem Durchhören dieser LP unsympathisch findet, ist in meinen Augen eine ihrer größten Stärken. Rein inhaltlich erinnert mich ein Album wie dieses an Sachen wie Here My Dear von Marvin Gaye, weil es jede Menge dreckige Wäsche an die Öffentlichkeit zerrt, wenngleich in diesem Fall hoffentlich fiktional. Und obwohl Ufo dabei lange nicht hundertprozentig Stilsicher ist und ich künstlerische Entscheidungen wie die vielen unnötigen Anglizismen oder das grausige Bausa-Feature extrem bedenklich finde, ist es eine LP, die mich mehr als ein bisschen positiv überrascht hat. Die Stimmungen dieses Albums sind vielleicht welche, die in der musikalischen DNA des Berliners schon immer irgendwie vorhanden waren, doch gelingt es ihm hier zum ersten Mal so richtig, diese zu bündeln und zu etwas zu machen, was auch ästhetisch etwas besonderes ist. Wobei es ein elementarer Faktor ist, dass Ufo hier auch mal sein Ego herunterschrauben konnte und toxische Männlichkeit als das zeigt, was sie ist. Bis zur Überwindung selbiger sind es zwar noch mehr als ein paar Schritte, aber besser auf diese Weise anfangen als gar nicht.


Hat was von
Crack Ignaz
Sturm & Drang

Samra
Jibrail & Iblis

Persönliche Höhepunkte
Anders | Playlist | Sunset | Zweifel | Was soll passieren | Fehler | Session | Sollte nicht sein | 04:30 (Remix)

Nicht mein Fall
Games

Samstag, 17. Oktober 2020

Melodien der Berge

Tation - Coordinate Plan 2018 


[ instrumental | experimentell | schroff ]

Ich mag viele Sachen daran, neue Bands zu entdecken und in die Diskografien bisher unbekannter Künstler*innen einzusteigen, es gibt aber zwei Faktoren, die bei dieser jungen Gruppe hier zutreffen, bei denen ich schlichtweg ein bisschen emotional geworden bin. Zum einen die, dass es sich hier um eine Instrumentalrock-Formation handelt, bei der man ohne Umschweife die Assoziation Postrock als zutreffend befinden kann, dem ich hier ja immer wieder ein wenig nachhänge. Zum anderen, dass sie ob ihrer Verortung in der tibetanischen Pampa ein Act sind, der einen blinden Fleck auf meiner musikalischen Weltkarte füllt. Was in Kombination sogar noch genialer ist, da es wieder mal als Beweis dient, dass Postrock eine Musik ist und bleibt, die kein kulturelles Zentrum hat und überall auf dem Globus mehr oder weniger gleich funktioniert. Wobei es Tation in ihren Songs schon auch ein bisschen um eine gewisse Heimatverbundenheit und die klangliche Abbildung der unwirtlichen und monumentalen Natur des Himalaya geht. Das zumindest ist eine der Sachen, die sich aus dem Begleitschreiben von Coordinate Plan 2018 herausfinden lassen, wo unter anderem auch steht, dass die Platte lediglich die auditive Komponente eines umfassenderen Mixed-Media-Kunstprojektes ist, das vor zwei Jahren zum selben Thema entstand und auch mehrere Videos, Texte sowie eine Ausstellung beinhaltet. Genaueres dazu kann auf ihrer Bandcamp-Seite nachgelesen beziehungsweise -geschaut werden, mir geht es hier primär um die Musik der Gruppe, die allein schon für einen sehr guten Eindruck reicht und auch ein bisschen mehr ist als nur guter Postrock. Denn obwohl die LP von einem relativ klassischen, von Acts wie Explosions in the Sky und Mono geprägtem Sound dominiert wird, ist das lediglich die Palette, mit der Tation arbeiten. Schon im ersten Song Nothing Orgy deutet sich das durch ein prominentes Saxofonsolo an, das die zweite Hälfte des Tracks maßgeblich in Richtung Free Jazz verschiebt. Und obwohl das darauffolgende Flowing der mit Abstand "normalste" Track der Platte ist und am ehesten in eine atmosphärische Richtung geht, nimmt die klangliche Zersetzung von hier aus nicht ab. Schon hier klingen Tation etwas Math- und Emo- inspirierter als vorher und verzichten größtenteils auf breite Shoegaze-Flächen oder ätherischen Hall. Stattdessen finden immer wieder kleine Field Recordings ihren Weg in den Song und zum verhaltenen Schlagzeug am Anfang gesellen sich langsam aber sicher immer mehr weirde Percussions-Elemente, bevor das Album mit den letzten zwei Tracks dann doch sehr abrupt umkippt. My Heart is Not Like Me eröffnet mit einem ebenso knalligen wie kurzen Screamo-Part und geht in eine gesprochene Gedichtrezitation über, die mich ein bisschen an Bands wie La Dispute oder Touché Amoré erinnert und das Album ästhetisch nochmal ganz anders verortet. Und gerade wenn man sich ein bisschen an die neue Emo-Perspektive gewöhnt hat, gehen Tation mit dem vierten und letzten Song Flying Around Flame schon wieder ganz woanders hin. Mit fast 17 Minuten ist dieses das bei weitem längste Stück der LP und mit seiner Positionierung eigentlich prädestiniert dafür, das große finale Statement von Coordinate Plan 2018 zu sein. Leider sieht die Band selbst das ein bisschen anders und packt hier ein sehr krudes, experimentelles und zum Teil kakophonisches Monster ans Ende der Platte, das mich eher mit vielen Fragen zurücklässt. Nicht, dass ich an sich etwas gegen solche Songs hätte, nur ist es doch ein sehr plötzlicher Bruch und einer, der klanglich nochmal ein komplett neues Fass aufmacht. Ein solches Ding dann ans Ende eines Albums zu stellen, das eh schon ein bisschen verwirrend ist, finde ich zumindest seltsam. Und obwohl ich finde, dass die vier Songs individuell nicht schlecht sind, ist der innewohnende Flow von Coordinate Plan 2018 mehr als etwas verwackelt. Was gerade bei dieser Form von instrumentalem Rock, bei der man eigentlich nur eine Ästhetik finden und diese dann durchziehen muss, ein bisschen seltsam ist. Klar freue ich mich, dass Tation sich über die üblichen Parameter hinaus betätigen, doch wenn man schon so clever ist, kann man drumherum auch einen besseren Bogen spannen. Ansonsten ist die Platte allerdings großartig und spannend genug, dass ich neugierig geworden bin, was diese Band noch so zu bieten hat. Denn talentiert sind sie auf jeden Fall, mehr als nur musikalisch.





Hat was von
Glacier
Kirtland

Sioum
I Am Mortal But Was Fiend

Persönliche Höhepunkte
Nothing Orgy | Flowing | My Heart is Not Like Me

Nicht mein Fall
-