Sonntag, 11. Oktober 2020

Zähmerin der Pfeifen

Anna von Hausswolff - All Thoughts Fly 


[ experimentell | schwergewichtig | dekonstruktiv ]
 
 Es ist keine Übertreibung, Anna von Hausswolff 2020 als eine der festen Größen der experimentellen Popmusik zu bezeichnen, die bei einer bestimmten Sorte von Hörenden mittlerweile lange schon zur Ikone geworden ist. Als erfolgreichster Spross einer kleinen Dynastie von Avantgarde-Legenden ist ihr das natürlich ein bisschen in die Wiege gelegt und mit der klassischen Orgel als Wahlinstrument belegt sie seit Jahren eine Nische, die glücklicherweise nicht allzu groß ist. Dennoch: Rein objektiv hat sie als Musikerin, Labelgründerin und Klangforscherin sämtliche Lorbeeren, die ihr seit einer ganzen Weile zufliegen, redlich verdient. Und mit All Thoughts Fly macht sie nach einer Dekade im Business nun endlich auch eine Platte, die mich ebenso begeistert wie anscheinend alle Anderen. Und bei allem Respekt, den ich für die Schwedin aufbringe, das war definitiv eine schwere Geburt. Nicht nur, weil Hausswolff selber ein bisschen brauchte, um sich in dieser Art von verkopften Experimentalmusik einzufinden, sondern vor allem, weil ich bisher nichts von ihr so richtig mochte. Als ich sie 2015 auf the Miraculous zum ersten Mal hörte, probierte sie mit ihrer Musik noch, aus einem halbwegs postrockigen Terrain heraus Fuß zu fassen, was ich bis heute für eine ganz schlechte Idee halte. Und als Dead Magic vier Jahre später den Sprung ins kalte Avantgarde-Wasser wagte, war das Ergebnis denkbar langweilig. Doch wie man an dieser neuen LP sieht, brauchte es nur Zeit, um die experimentelle Komponente in Hausswolffs Musik so richtig einwirken zu lassen und erstmal zu verstehen, was die Frau da macht, um spätestens hier zu sagen: Es lohnt sich. Vordergründig deshalb, weil sie spätestens hier eine Herangehensweise an Orgelmusik präsentiert, die ziemlich innovativ ist. Die üblichen Fuktionsweisen ihres Instruments zu zersetzen war schon immer die kreative Berufung dieser Künstlerin und mit nun inzwischen fünf Alben, die fast ausschließlich dieses Werkzeug in den Mittelpunkt stellen, ist es auch sicher zu sagen, dass sie eine gewisse Expertise mitbringt. All Thoughts Fly schafft es nun, diese klangliche Dekonstruktion erstmals in eine Kompositorik zu gießen, die nicht bloß reines Experiment ist. Nach zehn Jahren trial and error und aufwändiger Probiererei kennt Hausswolff hier alle Facetten der Orgel und weiß, was Wirkung zeigt. Die schwergewichtigen Drones der Bassnoten, die schon auf Dead Magic eine Hauptkomponente waren und den krassen Kontrast, den sie mit den höheren Pfeifen und filigranen Registern bilden. Der schwellende, hallende Sound, der immer wieder Töne miteinander vermischt und einzelne Noten krümmt, sodass hin und wieder der Eindruck von Mikrotonalität entsteht. Die Arbeit mit Raumklang und wie man die vielen kleinen Facetten dieses monumentalen Geräts effektiv aufnimmt. Die letzten Platten zeigten Hausswolff bei der Zähmung dieses Monsters, auf All Thoughts Fly ist sie soweit, dass sie damit Kunststückchen vorführt. Das ist immer noch sehr avantgardistisch und hat nichts von einem traditionellen Orgelwerk, doch macht es gerade das so spannend. Denn was Hausswolff kann, ist ihre Komposition ausgehend von den Ansprüchen des Instruments zu gestalten, was klassische Stücke häufig nicht tun. Und das ist mitunter anstrengend, zeugt aber auch vom intimen Verhältnis, dass die Schwedin mit ihrer Arbeit mittlerweile hat. Und auch wenn man das hier nicht mag, es ist objektiv interessant, was für spannende Klänge sie diesem Monster entlockt. Und zusätzlich zu meinem theoretischen Respekt als Tüftlerin hat Hausswolff hier auch noch meine Euphorie für ein tolles Album. Schön, dass es doch noch passiert ist.




Hat was von
Julia Holter
Aviary

Sarah Neufeld
the Ridge

Persönliche Höhepunkte
Theatre of Nature | Sacro Bosco | Persefone | Entering | All Thoughts Fly | Outside the Gate (for Bruna)

Nicht mein Fall
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