Freitag, 9. Oktober 2020

Der Größe angemessen

Sufjan Stevens - The Ascension

 
[ elektronisch | verträumt | schöngeistig ]

Die aktuelle Phase der Diskografie von Sufjan Stevens, die jetzt gerade um die drei Jahre andauert, ist aktuell - und ohne dass man es so richtig gemerkt hat, gut dabei, die bisher produktivste des Songwriters zu werden. Was bei einem Typen, der ja ohnehin nicht eben für seinen überschaubaren Release-Katalog bekannt ist, schon etwas heißen muss. 2017 seine Kollaboration mit Nico Muhly, Bryce Dessner und James McAlister und das Greatest Gift-Mixtape, 2018 sein Soundtrack zu Call Me By Your Name, 2019 das Klassikprojekt the Decalogue und 2020 der ambiente Schulterschluss Aporia mit Stiefpapa Lowell Brahms: Es gab unlängst viel zu hören und viel zu staunen in der Welt des Sufjan Stevens. Was diese neue Periode von seiner ersten großen Kreativinkontinenz-Phase Mitte der Zwotausender unterscheidet, ist die Art und Weise, wie er seine Arbeit dabei wichtet. Wo damals Fanfavoriten wie Michigan, Seven Swans und Illinois als Großprojekte Back to Back erschienen, sind es diesmal vornehmlich kleinere Unterfangen und Nebenschauplätze, die den quantitativen Hauptteil der des Katalogs stellen. Ein "richtiges" Album von Sufjan alleine erscheint indes nur noch ungefähr alle fünf Jahre. 2020 haben wir das Glück, dass gerade mal wieder eines erscheint. The Ascension ist nach dem 2015 erschienen Quasi-Vorgänger Carrie & Lowell wieder ein vordergründig elektronisches Projekt, das klanglich da weitermacht, wo the Age of Adz eine Dekade vorher aufhörte. Mit 15 Songs in 80 Minuten Spielzeit ist es darüber hinaus eines der umfangreichsten Projekte von Stevens und wird so allein von der Aufmachung her seinem Status als definierendes Anker-Album in seiner Diskografie gerecht. Und ja, nach reiflichem Überlegen bin ich auch der Meinung, dass es eine der besten Sachen ist, die der Songwriter innerhalb dieser ganzen Periode gemacht hat. Wenngleich nicht auf die Art, wie man das vielleicht denkt, denn einige der üblichen Kernkompetenzen, die viele Fans womöglich als imperativen Anteil eines Sufjan-Projektes ansehen, finden hier so gut wie überhaupt nicht statt. Womit ich vordergründig meine: the Ascension ist definitiv kein lyrisches Album. Wer diesen Künstler für jene elaborierte und emotional anspruchsvolle Dichtkunst liebt, die ihn einst erst berühmt machte, wird hier mit Sicherheit an einigen Punkten enttäuscht sein. Gerade Songs an wie Video Game oder Die Happy, die als musikalische Idee um einzelne vokale Phrasen oder häufig wiederholte Zeilen kreisen, muss man sich bei ihm erst Mal gewöhnen. Und selbst in den Nummern mit mehr Text, die mitunter etwas länger sind (America!) und in denen es meistens mal wieder um Religion geht, nimmt der Gesang häufig eine eher sekundäre Position gegenüber den elektroakustischen Eskapaden ein, mit denen Stevens hier aufwartet. Wobei ich der Fairness halber auch sagen muss, dass die diesmal einen wesentlich größeren Unterhaltungswert haben. Die musikalische Sprache, mit der diese LP ausgestaltet wird, ist ästhetisch sehr vielfältig und erinnert in den meisten Momenten an eine Mischung aus Four Tet, Baths, Neunziger-Aphex Twin und Kid A-Ära-Thom Yorke, wenn dieser tatsächlich singen könnte. Zwischen den sonnigen Synth-Flächen und rhythmischen Glitches verbergen sich dabei auch immer wieder Ahnungen akustischer Instrumente und in Goodbye to All That sogar einen fantastischen Chorsatz, doch sind diese äußerst subtil eingesetzt und funktionieren eher als unsichtbare Stützräder eines Sounds, der elektronisch ist, aber nicht so wirkt. Denn insgesamt ist das, was Sufjan hier macht, doch wieder sehr organisch und menschelnd. Es würde mich bei diesem Typen auch überraschen, wenn dem nicht so wäre. Fans des "klassischen" Sufjan dürften hier trotzdem etwas zu leiden haben. Gerade im Vergleich zu einem Album wie Carrie & Lowell, das seinerzeit den verloren geglaubten Folk-Sufjan zurückbrachte, ist das hier potenziell polarisierend, da es eben nicht dieses erzählerische und intime hat. Andererseits mochten viele damals auch the Age of Adz, und das war strukturell sehr ähnlich. Für jemanden wie mich, der Carrie & Lowell eher so lala fand und mit einem gewissen Zähneknirschen akzeptiert hat, dass ein zweites Illinois wohl nicht zur Debatte steht, ist es aber definitiv ein Lichtblick. Es ist nicht Sufjan Stevens in Hochform, aber angesichts der vielen ernsthaft blöden Neben- und Experimentierprojekte, die es in den letzten Jahren von ihm gab, bin ich hier mehr als zufrieden mit einer LP, die mir sehr wenig zum Kritisieren gibt und den neuen Sound seines Künstlers endlich mal wieder in stabiler Form abbildet. Die Kernfrage sollte in meinen Augen nämlich nicht sein, ob er hier wieder so gut ist wie früher, sondern wann er das nächste Mal so gut sein wird. Und wenn man mich fragt, könnte das jetzt wieder eine ganze Weile dauern.




Hat was von
Atoms for Peace
Amok

Baths
Romaplasm

Persönliche Höhepunkte
Make Me An Offer I Cannot Refuse | Lamentations | Ativan | Landslide | Gilgamesh | Death Star | Goodbye to All That | Sugar | America

Nicht mein Fall
-

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