Montag, 26. Oktober 2020

In die Jahre gekommen

Jay Electronica - Act II: The Patents of Nobility (The Turn) 


[ vielschichtig | ambitioniert | philosophisch ]
 
 Als Jay Electronica im Frühling diesen Jahres mit A Written Testimony und großem Trara sein seit über einer Dekade erwartetes Debüt vorstellte, war ich in der Musikwelt nicht der einzige, der davon sichtlich enttäuscht war. Denn nicht nur für eine LP, die so lange in der Entwicklungsphase steckte, war das, was darauf passierte, ein ziemlicher Downer. Mittelmäßige Produktion, fragwürdige klangliche Entscheidungen, ein etwas an den Haaren herbeigezogenes religiöses Konzept und die schiere Tatsache, dass es faktisch gesehen ebenso ein Album von Jay-Z war, machten den offiziellen Einstand dieses großen Enigmas der letzten 15 Jahre Conscious Rap zu einem Ereignis, das für mehr Fragen als Antworten sorgte. Und dass mit Act II: Patents of Nobility nun bereits ein gutes halbes Jahr später ein Nachfolger erscheint, dient auf den ersten Blick zumindest nicht dazu, diese zu zerstreuen. Eher sorgt es dafür, dass der Name Jay Electronica direkt noch etwas mehr an Mystizismus und Unberechenbarkeit gewinnt. Zumal schon wieder nicht so ganz klar ist, was es hiermit eigentlich auf sich hat. Der Titel bezieht sich auf Act I, eine EP des Rappers von 2007 (!), die Tracklist hier entspricht ziemlich unverändert der, die von ihm bereits 2012 gepostet wurde und kurz bevor die fertige Platte binnen des letzten Monats auf Tidal erschien (wo sie noch immer exklusiv erhältlich ist), kursierte sie als Leak auf Youtube (an dem ich mich für diese Besprechung bediene). Was zusätzlich nicht hilft ist, dass Jay Electronica auch hier nicht davon ablässt, in zahlreichen religiösen, philosophischen und konspirativen Metaphern zu sprechen. Ein bisschen geheimnisumwittert ist das hier also noch immer und über die Motivation dieser Platte kann ich aktuell nur Vermutungen anstellen. Doch ist es anhand der Ausführungen dieser LP zumindest naheliegend, dass Act II wohl das eigentliche Passionsprojekt von Jay Electronica in all diesen Jahren war. Denn obwohl es an einigen Stellen noch immer ein paar Unfeinheiten im Mastering gibt, was wahrscheinlich daran liegt, dass es als Leak veröffentlicht wurde, fühlt es sich inhaltlich eher an wie ein legitimes künstlerisches Statement als der offizielle Erstling vom Frühjahr. Viele der Anstoßpunkte über Religion, Politik und Philosophie, die Jay auf A Written Testimony machte, fühlen sich hier noch ein bisschen tiefer an und wirken vor allem wie ausschließlich seine Denkarbeit. Zwar kann ich noch immer nicht umhin, ihn dabei etwas pretenziös zu finden, doch ist er das nicht auf eine komplett peinliche Art und Weise. Und vor allem musikalisch ist das hier definitiv eine Nummer größer als alles, was dieser Typ vorher gemacht hat. Allein die Tantiemen, die hier für kostspielige Samples - unter anderem von King Crimson und Serge Gainsbourg - draufgegangen sein müssen, sind beachtlich, und kompositorisch staune ich ob der transzendenten Kreativität der Instrumentals, die die Tragweite einer Kanye West-Produktion zu dessen besten Zeiten hat. Die monumentale klangliche Vielfalt ist tatsächlich auch mein Highlight hier, ob nun in Form eines pappigen Bangers wie Letter to Falon, eines kuriosen Fast-Plunderphonic-Stücks wie Bonnie & Clyde oder des komplett Rap-freien Outros 10,000 Lotus Petals. Act II ist einfach ein Album das es schafft, ästhetisch in extrem viele Richtungen zu gehen und am Ende trotzdem durch eine kohärente klangliche Vision geeint zu werden, die hinter allem steht. Wobei man definitiv dazu sagen muss, dass viele der Sounds hier noch sehr nach den frühen Zwotausendzehnern klingen, was ebenfalls dafür spricht, dass die meisten Songs auf dieser LP lange in der Pipeline waren. Störend ist das in meinen Augen nicht, da es wirklich gut gemacht ist, man sollte hier nur kein klanglich visionäres Werk erwarten. Und vielleicht ist das Drosseln hoher Erwartungen bei dieser Platte generell nicht die schlechteste Idee, denn das ersehnte Meisterstück ist es für mich nach wie vor nicht. Nach der enttäuschenden Erfahrung mit A Written Testimony war ich zwar schon angetan davon, wie viel besser Jay hier plötzlich klingt, doch hätte es den Vorgänger nicht gegeben, wäre ich hiervon nach Jahren des Wartens trotzdem ernüchternd gewesen. Am Maßstab von Hiphop im Jahr 2020 gemessen ist es alles andere als ein schlechtes Album, sogar überwiegend gut, aber auch definitiv kein Hingucker mehr. Ein Rap-Album wie dieses, das tiefe politische und spirituelle Diskussionen aufrütteln will und musikalisch weitgehend den Nichtschwimmerbereich von Beatmastering verlässt, mag vor zehn Jahren noch ein Aha-Moment gewesen sein, erscheint heutzutage aber so gut wie jeden Monat. Act II ist deshalb nicht gleich dumm, es ist nur nichts besonderes. Und vielleicht wäre es auch besser gewesen, wäre das hier nicht erst jetzt rausgekommen. Aber es überzeugt mich zumindest davon, dass Jay Electronica das Gewicht eines weit gedachten, konzeptuellen Großprojekts stemmen kann und mit ein bisschen mehr Detailarbeit auch dazu in der Lage ist, ein echtes Opus Magnum zu schaffen. Vielleicht braucht es das aber auch gar nicht immer. Wenn das nächste Album dieses Künstlers kleinere Brötchen backt, dafür aber in zwei Jahren erscheint und auch danach klingt, wäre mir das lieber als wieder eine Dekade auf etwas zu warten, das gut, aber auch ein bisschen überholt ist. Und nein, man kann es mir wahrscheinlich auch dann nicht recht machen.



Hat was von
Kanye West
My Beautiful Dark Twisted Fantasies

Jay-Z
Magna Carta Holy Grail

Persönliche Höhepunkte
the New Illuminati | Bonnie & Clyde | Shiny Suit Theory | Better in Tune | Letter to Falon | Road to Perdition | Welcome to Knightsbridge | Night of the Roundtable | 10,000 Lotus Petals

Nicht mein Fall
Tuff Love

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