Montag, 19. Oktober 2020

Dem Mythos entgegen

Jónsi - Shiver 


[ elektronisch | glitchy | entmystifiziert ]
 
Als Jón Þór Birgisson vor ziemlich genau einer Dekade sein erstes offizielles Soloalbum Go vorstellte, war die Welt des Isländers noch unkompliziert. Seine Hauptband Sigur Rós befand sich in einer selbstauferlegten Biopause, die nach der kreativen Explosion von Með suð í eyrum við spilum endalaust 2008 vor allem dazu da war, die künstlerischen Knospen, die einzelne Mitglieder damals entwickelten, unabhängig von der Gruppe austreiben zu lassen. Jónsi war dabei von allen derjenige, der am meisten auf große, farbenfrohe Sounds und maximalistisches Pop-Appeal setzte, was ja irgendwie auch die Richtung repräsentierte, in die die Band zu dieser Zeit auch ging. 2020 ist die Situation jedoch eine vollkommen andere, wesentlich weniger optimistische. Spätestens seit den Missbrauchsvorwürfen gegen Schlagzeuger Orri Páll Dýrason vor einigen Jahren sind Sigur Rós klinisch mehr oder weniger tot und darüber hinaus zum Duo geschrumpft, was ihre Zukunft dieser Tage mehr als ungewiss macht. Und nachdem es nun lange Zeit totenstill um die Band war, war es 2019 Jónsi, der zuerst vorsichtige Schritte in Richtung neuer Musik machte. Primär geschah das bisher in Form seines Projekts Dark Morph, mit dem er in diesem Frühjahr nun schon sein zweites Album veröffentlichte, bereits im Sommer wurde aber auch dieses nun vollendete zweite Soloalbum angekündigt. Wobei in jedem Fall eine Tendenz sehr klar wird: Jónsi ist unter die Elektroniker gegangen. Wo er mit Dark Morph bereits sehr umfassend in die Welt des Industrial, respektive Lowercase eintauchte, sind es auch hier wieder frickelige Beats und Synth-Schraubereien, die es dem Isländer angetan haben. Was sich im Fall von Shiver vor allem durch die Beschäftigung von PC-Music-Mastermind A.G. Cook als Hauptproduzent äußert und definitiv ein gewagter Schritt ist. Denn obwohl ich den Briten schon lange als talentierten und vor allem visionären Klangtüftler schätze, ist das hier für ihn, der bisher vor allem durch Zusammenarbeiten mit Leuten wie Charli XCX oder Hannah Diamond bekannt ist, doch etwas sehr exotisches. Wobei diese künstlerische Entscheidung nicht die einzige etwas ulkige auf diesem Album ist, die am Ende erstaunlich gut funktioniert. Vor allem, weil die Stile der beiden von vornherein erstaunlich harmonieren und beide gewillt sind, sich stilistisch aufeinander einzulassen. Cook macht einen sehr ordentlichen Job dabei, sich musikalisch an die atmosphärische Getragenheit von Jónsis Songwriting anzupassen und die Bratzigkeit seiner Produktion zumindest etwas zu dosieren, während der Hauptakteur seine traditionell sehr instrumentale, ätherische Stimme immer wieder technisch manipuliert und somit spannende, neue Ästhetiken schafft. Dass er dabei größtenteils auf englisch singt, ist für Fans von Sigur Rós dabei im ersten Moment vielleicht gewöhnungsbedürftig, aber auch nicht weiter schlimm, gemessen daran, wie viele Effekte auf seinen Vocals liegen, wie melodisch er singt und wie dick in den meisten Momenten sein Akzent ist. Einfach gesagt war Jónsi noch nie ein Sänger, den man vor allem seiner Texte wegen gehört hat und auch auf Shiver sollte sich das nicht groß ändern. Und dass eine Platte wie diese etwas an seiner mystischen Aura nagt, ist auch eine Sache, mit der man hier einfach umgehen muss. Abgesehen davon, dass sie vielleicht sogar ein wenig gebrochen werden soll. Egal, ob das nun durch einen PC Music-Produzenten passiert, durch englische Lyrics oder durch prominente Features von Robyn und Elizabeth Fraser (die beide ziemlich genial sind). Wer bei dieser LP auf die pittoreske Gletscher- und Elfen-Nummer gewartet hat, wird vielleicht im ersten Moment enttäuscht. Doch lasst euch eins sagen: Nur weil wir auf Shiver nicht den Jónsi hören, den wir von Sigur Rós kennen und lieben, heißt das nicht, dass er nicht gut sein kann. Wenn überhaupt, dann ist das hier die Platte, die erstmals glaubhaft argumentieren kann, dass wir Sigur Rós vielleicht gar nicht mehr brauchen, sondern es ein Leben danach gibt. Ein anderes, an das auch ich mich als Fan erst gewöhnen muss, aber eines, das ich mir vorstellen kann. Auch wenn Jónsi in meiner persönlichen Idealversion davon dann doch lieber wieder isländisch singt.


Hat was von
Sufjan Stevens
the Ascension

A.G. Cook
Apple

Persönliche Höhepunkte
Exhale | Shiver | Cannibal | Wildeye | Sumarið Sem Aldrei Kom | Kórall | Salt Licorice | Hold | Beautiful Boy

Nicht mein Fall
-
 

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