Dienstag, 27. Oktober 2020

Improve. Adapt. Overcome

Touché Amoré - Lament 

 
[ sentimental | verletzlich | melodisch ]

Die Sache, die mich an Touché Amoré im Jahr 2020 wahrscheinlich am meisten überrascht ist die, dass sie immer noch eine Band sind, auf deren Musik ich gespannt bin. Wenn ich ehrlich bin sogar ein bisschen mehr als früher. Denke ich daran, wie skeptisch und lauwarm ich dem Quartett aus Burbank begegnete, als ich sie 2011 zum ersten Mal hörte, hätte ich nicht gedacht, dass ich gute zehn Jahre später noch dabei wäre, wenn die Kalifornier ihr inzwischen fünftes Album vorstellen. Was sich dadurch aber mehr denn je herausstellt, ist die Art, wie Touché Amoré über den Faktor ausdauer funktionieren. Gerade im Bereich Hardcore ist es selten, eine Band zu sehen, die ihre schmerzhafte Energie nicht auf ihren ersten zwei EPs verschießt und danach langsam ausblutet, sondern die mit dem Alter immer besser wird und für ihre Musik mit zunehmenden Wachstum mehr Herzblut investiert. Ich will damit nicht sagen, dass ein Album wie To the Beat of A Dead Horse nicht wahrhaftig emotional wäre, eher im Gegenteil. Doch finde ich durchaus, dass Lament besser darin ist, die Vielschichtigkeit der Gefühlsebenen und inneren Konflikte von Jeremy Bolm zu artikulieren. Touché Amoré sind reifer geworden, inhaltlich wie musikalisch. Aus dem Sound, den ich zu Beginn der letzten Dekade noch zu adoleszent, ungelenk und jammerig fand, entfaltet sich spätestens in den letzten fünf Jahren etwas, das mich in jeder Hinsicht mehr berührt. Und wo dessen bisheriger Höhepunkt zweifelsohne das 2016 veröffentlichte Stage Four war, auf dem Bolm auf sehr schmerzhafte Weise den Krebstod seiner Mutter verarbeitete, ist Lament auf jeden Fall eine Platte, die dessen Tradition würdig weiterführt. Die emotionale Stärke, die das Konzept des Vorgängers bei aller Unschönheit mit sich brachte, fehlt hier natürlich und damit auch die Tragweite zu sagen, beide Alben wären gleichberechtigt. Dennoch ist die neue nicht nur eine LP, mit der Touché Amoré den gleichen Stiefel mit abgeschwächtem Inhalt weiterspielen und kreativ auf der Stelle treten, sondern mit dem sie weiter wachsen. Lyrisch gesehen auf jeden Fall dadurch, dass es Jeremy Bolm, dessen Texte ich lange eher mittelmäßig fand, mich hier an vielen Stellen ziemlich beeindruckt. Sei es ein weiteres Mal durch aufwändig-poetische Perspektivierungen und Stories wie in Deflector oder dem Titeltrack oder durch Stücke wie A Forecast, in denen man ihm tatsächlich erstmals so etwas wie Humor anhört. Ein noch viel größeres Aha ist diese LP aber erneut musikalisch. Schon Stage Four profitierte an vielen Stellen davon, dass der Sound von Touché Amoré etwas vielfältiger wurde und an Härte verlor, hier kommt zusätzlich noch eine gewisse Catchyness ins Spiel, die ich extrem gerne mag. Mit einschneidenden Impulsen aus Indierock, Shoegaze, Postpunk und Country klingen die Kalifornier hier vielseitiger als je zuvor und trauen sich, die ganze Hardcore-Nummer auch mal ganz dreist in eine Nebenrolle zu stecken. Dann erinnert der Titeltrack mitunter ein bisschen an Interpol, A Forecast beginnt mit dem Piano als zentralem Instrument und Limelight gönnt sich nicht nur ein Feature des Manchester Orchestra, sondern auch einige sehr dick aufgetragene Slide-Gitarren. Was ganz nebenbei auch dazu führt, dass sie Songs der Band inzwischen immer länger wären. Es wäre zuviel gesagt, dass Lament damit die stilistischen Gefilde eines Hardcore-Albums verlässt oder ungewöhnlich progressiv ist, denn im großen und ganzen bleibt die Kirche am Ende doch im Dorf. Nur ist es schön zu sehen, wie kreativ diese vier Musiker inzwischen darin geworden sind, das Maximum aus ihren Songs herauszuholen und weiter zu denken. Wobei das letztendlich auch das Rezept des Durchhaltevermögens von Touché Amoré sein dürfte: Aus einer Band, die mit den tragischen Stories des Jeremy Bolm am Anfang ihrer Karriere einen wesentlichen Selling Point hatte, ist inzwischen eine geworden, die ihre Kompetenzen diversifiziert hat und zu Generalisten geworden ist. Und genau deshalb sind sie 2020 nicht nur die Gruppe, die ich nach wie vor gerne höre, sondern auch die, die gerade eines der besten Hardcore-Alben der Saison gemacht hat. Weil sie Überlebenskünstler sind.


Hat was von
La Dispute
Wildlife

Modern Life is War
Fever Hunting

Persönliche Höhepunkte
Come Heroine | Lament | Reminders | Limelight | Savoring | A Broadcast | I'll Be Your Host | Deflector | A Forecast

Nicht mein Fall
-

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