Samstag, 10. Oktober 2020

Nur ein kleines Lifting

Joji - Nectar 


[ melancholisch | ätherisch | professionell ]

In all den Jahren, die dieses Format und die künstlerische Persönlichkeit des George Miller nun schon gemeinsam in einer Welt existieren, habe ich stets den Tag gefürchtet, an dem ich diesen Umstand nicht mehr ignorieren könnte. Nicht, dass ich an sich irgendein Problem mit diesem Typen gehabt hätte oder ähnliches, ich fand ich nur schon immer etwas überbewertet. Ob nun als edgelordiger Youtuber Filthy Frank, Comedy-Rapper Pink Guy oder Joji, seiner neuesten Inkarnation als seriöser Popstar in spe, Miller war mir die meiste Zeit ziemlich gleichgültig und ich hoffte immer, dass diese Gleichgültigkeit irgendwie ausreichen würde. Doch weil viele Menschen ihn schon früher mochten und noch mehr Menschen das heute tun, bin ich nun hier und schreibe über sein zweites offizielles Studioalbum Nectar. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass mich neben einem großen Teil Peer Pressure auch ein nicht zu vernachlässigender Teil an Eigeninteresse dazu bewegt hat. Ein Eigeninteresse, das bereits seit der letzten Saison mehr und mehr Risse in meine Gleichgültigkeit treibt und vor allem eines, das sich Joji irgendwie erarbeitet hat. Denn einen Skeptiker zu Überzeugen ist ja bekanntlich immer schwerer, je ausgeprägter die betreffende Skepsis ist. Und gerade bezüglich Joji war diese bei mir schon groß. Wo seine früheren Projekte im Youtube-Kontext immer noch irgendwie minimal witzig waren oder zumindest einen stringent angelegten Charakter (oder eben auch mehrere) präsentierten, hatte ich nach seinem Rebranding als Musiker große Bedenken, ob Miller hier wirklich seine Berufung gefunden hätte. Denn abgesehen davon, dass seine ersten EPs songwriterisch mittelmäßig und klanglich extrem eintönig waren, hatte Joji auch keinerlei künstlerische Persönlichkeit, die seine Songs von den einschlägigen Nonames der Bedroom-R'n'B-Pop-Landschaft abhoben. Um ganz ehrlich zu sein: Seine Musik war einschläfernd. Und es brauchte mehr als zwei Jahre, bis sich aus dieser ästhetischen Ursuppe tatsächlich etwas entwickeln sollte, das einigermaßen Hand und Fuß hatte. Ein wichtiger Knackpunkt in Jojis Katalog war in dieser Hinsicht die Single Sanctuary, die sich schleichend zu einem echten Favoriten von mir entwickelt hat und zum ersten Mal so etwas wie Größe in Millers Musik erahnen lässt. Und mit ebendiesem Track als Leadsingle ist auch Nectar dieser Tage das Album, das sich anschickt, dem Konzept dieses Künstlers wenigstens ein bisschen mehr Bewegung und Pep zu verleihen. Wobei man sich keine Illusionen machen braucht: Nintendocore ist das hier nicht gleich. Nicht mal unbedigt Pop, eher weiterhin ein sehr bedroomiger Style von R'n'B, der eben nach wie vor sehr en vogue ist. Ein bisschen klingt Joji darauf wie the Weeknd, nur in etwas verpeilt und mit nicht ansatzweise so guter Gesangstechnik. Und ähnlich wie the Weeknd in letzter Zeit wird die dieser Musik eigene Zähigkeit und Stagnation versucht, mit homöopathischen Dosen an Schmiss zu bearbeiten. Hier mal ein härterer Beat, da mal eine größer aufgezogene Hook, wieder woanders eine gewisse Affinität zu Elektro und House: Maßnahmen, die die schnöde Grundstruktur nicht verändern, aber ein bisschen Glitzer drüber streuen. Und im Falle von Nectar ist das mitunter sogar eine erfolgreiche Strategie: Run geht im Kontextz dieser LP als ziemlich gute Powerballade durch (Top Gitarrensolo auch!), 777 klingt wie eine Mischung aus Grimes und Twin Shadow, Mr. Hollywood hat eine schön pathetische Melancholie und dass mit Your Man ausgerechnet der Closer nochmal einer der bewegteren Songs ist, schafft nochmal ein echtes Highlight. Abgesehen davon ist albumübergreifend die Produktion eine ganze Ecke besser als auf dem Vorgänger Ballads 1 von 2018 und auch Jojis Performance wesentlich wacher und präsenter. Klar gibt es zwischendurch auch immer wieder größere Durststrecken und nicht alle der 18 Songs wären hier notwenig gewesen, aber effektiv gelangweilt bin ich hier nur noch selten. Einerseits liegt das natürlich daran, dass ich mittlerweile weiß, was mich bei der Musik dieses Typen erwartet, andererseits ist er jedoch auch selbst ein bisschen besser geworden. Tatsächlich muss ich sagen, dass ich gerade aus dieser stilistischen Sparte viele Leute kenne, die weniger detailliert und sorgfältig sind als George Miller auf Nectar. Ein Fan bin ich deshalb nicht gleich, aber zumindest etwas neugierig geworden. Könnte ja tatsächlich doch was dahinter stecken.



Hat was von
FKA Twigs
Magdalene

Frank Ocean
Channel Orange

Persönliche Höhepunkte
Modus | Run | Sanctuary | Pretty Boy | Mr. Hollywood | 777 | Like You Do | Your Man

Nicht mein Fall
Tick Tock | Daylight

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen