Montag, 24. Februar 2020

No Surprises

[ futuristisch | ätherisch | kraftlos ]

Claire Boucher war 2020 lange genug die coolste Socke im Business, so zumindest sieht es seit einer Weile leider aus. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen sie als nerdige Szene-Künstlerin die Standards der modernen Popmusik pushte, indem sie die Einflüsse von obskuren Bandcamp-Acts und der Vaporwave-Bewegung wirkungsvoll in den Mainstream transferierte und einer ahnungslosen Öffentlichkeit mit ihrer völlig eigenen Ästhetik und ihrer weirden Manic Pixie Dreamgirl-Attitüde Aufmerksamkeit abtrotzte. Spätestens seit ihrer Durchbruchs-LP Visions von 2012 ist sie stattdessen mehr und mehr zum angepassten It-Girl der noblen Hipster-Bohème geworden, die nebenberuflich Schminktutorials für die Vogue veröffentlicht, neue Songs in Kunstgallerien vorstellt, Soundtrack-Arbeiten von Superheld*innen-Blockbuster schreibt und zuletzt vor allem durch ihre Beziehung zum Tesla-Milliardär Elon Musk Kontroversen auslöste. Von ihrer ursprünglichen, nonkonformistischen Coolness ist dabei wenig übrig geblieben, wenn man von ihrer nach wie vor großartigen Musik mal absieht. Zwar hat sich auch diese in jüngster Zeit eher rar gemacht und mit Miss Anthropocene erscheint dieser Tage das erste Grimes-Album seit inzwischen vier Jahren, doch war mir das bei ihr bis dato eigentlich ganz recht so. Weil man sich hier wenigstens sicher sein konnte, dass hinter ihren Platten auch wirklich eine allumfassende Idee steckte und die lange Wartezeit meistens damit einerging, dass die Künstlerin darauf eine mittelgroße kreative Metamorphose durchmachte. Ihre letzte LP Art Angels war nach dem Erfolg von Visions nicht weniger als eine umfassende Neudefinition ihres musikalischen Konzepts, auf dem die Kanadierin sich diverse Instrumente selbst beibrachte und ihren Sound entscheidend ausweitete. Demgegenüber war ich zwar zunächst sehr misstrauisch, doch seitdem ist die LP in meiner Gunst enorm gewachsen und mit ihrer  geschmackvollen Hinwendung zum Pop und der radikalen Auslotung der stilistischen Palette von Boucher in meinen Augen mittlerweile ein großer Fortschritt für das Konzept Grimes. Und nachdem Miss Anthropocene nun wieder eine ähnliche Entstehungsgeschichte wie sein Vorgänger aufzeigte, waren meine Erwartungen diesmal ebenfalls entsprechend hoch. Ursprünglich war die Veröffentlichung der LP ja schon für Herbst 2018 angesetzt, inklusive schon begonnener Promophase, doch zog sich der ganze Zirkus schließlich doch noch bis zum vergangenen Freitag hin. Innerhalb dieser Zeit gab es nochmal diverse Singles, Demo-Leaks und Promo-Aufnahmen, die immer wieder über die Richtung der kommenden Platte spekulieren ließen. Auf diversen Tracks experimentierte sie mit Groove Metal, auf anderen herrschte eher eine elektronisch-ambiente Atmosphäre und wieder andere schienen eine ähnliche futuristische Technologie-Agenda wie ihr berühmter Lover zu propagieren. So richtig schlau wurde man aus dem ganzen Material folglich nicht. Sicher war nur, dass ein großzügiger künstlerischer Schritt absolut im Bereich des erwartbaren war und Grimes sich ästhetisch wahrscheinlich wieder komplett häuten würde. Was dieses Album angeht, war ich also auf alles vorbereitet. Was auf eine Weise schon bedeutet, dass mich das Resultat irgendwie aus der kalten erwischt hat, allerdings auf eine ganz andere Art als ich dachte. Denn mehr oder weniger ist Miss Anthropocene ein sehr ahnbarer Nachfolger für Art Angels, der stilistisch nicht viel neues ausprobiert. Sicher, es gibt hier weniger offensichtliche Hits und Grimes ist insgesamt wieder verschnickter und ätherischer unterwegs, doch der grundlegende Sound ist mit dem des Vorgängers quasi identisch. An manchen Stellen sind sogar deutliche Rückbezüge auf das Konzept von Visions erkennbar, das mit dem letzten Album ja angeblich überwunden war. Die Überraschung dieser LP ist also hauptsächlich die, dass es keine Überraschung gibt. An sich ist das aber ja noch kein Problem, zumindest nicht direkt. Nur muss man eben auch dazu sagen, dass das Songwriting hier an vielen Stellen die abgeschwächte Version des bisherigen boucher'schen Stils ist. Viele Motive hier sind von der Ausprägung her eher subtil gehalten, finden ihre Spannung mehr in den Details als in großen Melodien und gehen nicht so aufs ganze wie die besten Grimes-Stücke der Vergangenheit. Große Ausreißer wie das fast als akustische Ballade angelegte Delete Forever oder den Drum & Bass-Brecher 4 ÆM sind eher selten, stattdessen gibt sich die Kanadierin hier vorsichtig und minutiös. So ein Ansatz kann funktionieren, wie wir in letzter Zeit sehr gut bei jemandem wie Billie Eilish sehen, nur finde ich das in dieser Stärke hier noch nicht wirklich. Weder haben die Songs die unerbittliche Eingängikeit, die Art Angels hatte noch den trippigen, subtil groovigen Vibe der Visions damals ausmachte. Soll heißen, in vielen Momenten kommt Miss Anthropocene einfach nicht so richtig in die Puschen. Wäre ein Song wie We Aprecciate Power aus der Promophase hier gelandet oder einige Dinge mit etwas mehr Bums gemixt worden, hätte das vielleicht anders ausgesehen und die LP hätte wpmöglich etwas mehr Grip. Und teilweise sind es Kleinigkeiten, mit denen der Erfolg eines Stücks steht oder fällt. So gesehen sind viele auch vollkommen okay und keineswegs schlecht in dem Sinne, aber eben ein Schatten des sonst viel präsenteren Songwritings von Claire Boucher. Ich würde zwar nicht so weit gehen, dieses Album als langweilig zu bezeichnen, denn klanglich und produktionstechnisch gibt es hier viele coole Winhelzüge, sie ist nur etwas kraftlos und irrelevant formuliert für mein persönliches Gusto. Zumindest für den Moment. Ich bin mittlerweile vorsichtiger geworden, über neue Musik von Grimes vorschnell Urteile zu fällen, denn erfahrungsgemäß ist mein Eindruck von ihrem Platten auch Jahre nach deren Veröffentlichung dramatischen Schwankungen unterworfen. Und so wie es bisher lief, könnte Miss Anthropocene in zwei Jahren auch mein Lieblingsalbum von ihr sein. Für den Augenblick bin ich jedoch auf jeden Fall der Meinung, dass die Kanadierin hier unter ihrem Niveau arbeitet und eine etwas abgespannte und ahnbare LP macht, die insgesamt zu ihren schwächeren zählt. Was irgendwie noch ein Faktor ist, der sie in meinen Augen weniger cool macht.



Klingt ein bisschen wie
Princess Nokia
A Girl Cried Red

Poppy
Choke EP

Persönliche Höhepunkte
Delete Forever | Violence | 4 ÆM | New Gods | My Name is Dark | You'll Miss Me When I'm Gone | IDORU

Nicht mein Fall
Darkseid


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